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24 November 2011

Der Schlösserflop



Nimmt man die überschaubare Anzahl der Freundschafts- und Liebesschlösser als Maßstab, die neben der Kneipe Rutsche in der Friedrichstraße an einem eigens zu diesem Behufe angebrachten Gitter befestigt wurden, dann steht es ausgerechnet hier im Rotlichtviertel gar nicht gut ums Zwischenmenschliche.

Andererseits würde ich – selbst wenn ich die Absicht hätte, gemeinsam mit Ms. Columbo als Zeichen unserer unverbrüchlichen Liebe irgendwo ein Schloss anzubringen und sodann den Schlüssel in die Elbe zu werfen – einen extra dafür künstlich geschaffenen Ort wie diesen tunlichst meiden.

Und so scheinen auch die lieben Liebenden auf dem Kiez zu denken. Zumal der Verdacht naheliegt, dass die meisten der wenigen dort hängenden Schlösser auch noch von der Rutsche selbst befestigt wurden – sonst gäbe es wohl eine deutlich höhere Varianz. Doch im Grunde hängen dort nur zwei verschiedene Modelle.

Na ja: nice try, wie der Brite sagt.

17 November 2011

Eine gefährliche Anwandlung



Als der Franke nach seinem, meinem und zwei anderen Büros im Verlag auch noch das Domizil der Grafik als place bei Foursquare anlegte und seither fünfmal am Tag mit gesenktem Kopf und hektisch auf dem Smartphone herumtippend auch noch dort hinrennt, um seinen Mayorstatus bis in alle Ewigkeit und dreimal drüber hinaus zu zementieren, wurde mir klar:

Ich muss meinen Account wieder löschen.
Und das habe ich gestern auch getan.

Wenn ich künftig mal wieder bei Andronaco ehrfürchtig vor einem Parmesankrater stehen sollte, kann ich den Anblick, den Duft und das Pröbchen genießen, ohne dort „einzuchecken“. Es ist wie eine Befreiung.

Vielleicht sollte ich auch diesen ganzen Internetmist sein lassen. Keine Mails mehr, kein Blog, nix Facebook, null Twitter – was wäre das Leben leicht und heiter, zwänge einen die virtuelle Welt nicht tagtäglich hundertmal zum Hingucken, Abrufen, Einloggen, Checken, Hoch- und Runterladen.

Wenn jemand zufällig gerade eine Auslastungslücke bei seiner Zeitmaschine feststellt, dann bitte ein Beam in die späten Siebziger.

Nicht mich – den Franken.

13 Oktober 2011

Kindisches für den Kindle

Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht.

Die gute: Seit heute ist mein bestürzendes E-Book „Die Frankensaga“ bei Amazon erhältlich, und zwar zu einem – im Verhältnis zu den Qualen, die zu seiner Entstehung führten – geradezu lachhaften Preis von 3,82 Euro.

Das Buch enthält sämtliche erschütternden Geschichten über den Franken auf einen Schlag, und genauso fühlt es sich auch an. Außerdem habe ich es noch ein wenig ergänzt, damit niemand sagen kann: Kenn ich doch schon alles.

Die schlechte Nachricht ist: Selbst bei Desinteresse müssen Sie es aus Gutherzig-, Mildtätig- und Mitmenschlichkeit trotzdem kaufen. Nur so nämlich kann ich mir die Therapie leisten, die nach fünf Jahren im Dunstkreis des Franken unabdingbar geworden ist. Außerdem wäre das supernett von Ihnen. Und ich mag nette Menschen.

Lesbar ist „Die Frankensaga“ übrigens auf allen Smartphones und Rechnern, die die kostenlose Kindle-App bzw. das Programm installiert haben, und natürlich auf dem Kindle-Reader selbst.

Bevor Sie in irgendeiner Weise tätig werden, sollten Sie allerdings sicherstellen, dass Sie volljährig sind und einen starken Magen haben.

PS: Gegen eine Paypal-Überweisung
(Preis auf Anfrage) maile ich Ihnen das komplette Ding auch in einem beliebigen Format zu. Hauptsache, ich bin es los.

Nachtrag 17.10.2011: Hier die ersten Rezensionen auf Amazon. Aber was meinen die mit „Macken-Matt“ …?


Nachtrag Januar 2013: Der Preis ist inzwischen auf 3,42 Euro gesunken. Die Inflation!



21 September 2011

Gefahren, überall



Mit nicht geringer Verwunderung traf ich in einer Caféteria unterm Gipfel des Ätna – in 2000 Metern Höhe also – eine historische Jukebox an.

Das allein hätte den Grad meiner Verwunderung allerdings kaum begründen können; dafür musste noch die Tatsache hinzukommen, dass auf dieser Jukebox was auswählbar war?

Joachim Witts „Tri Tra Trullala“.

Nur Minuten nach dieser Entdeckung verschlechterte sich das Wetter dramatisch. Bei nur noch acht Grad Celsius kam ein von peitschendem Regen begleiteter Sturm auf, der jeden goldenen Reiter aus dem Sattel gehauen hätte, und urplötzlich lachte wieder die Sonne. Der Ätna hat schon was drauf, meine Herrn.

Zurück auf dem Schiff entschloss ich mich, den vieltausendfachen Anfragen nach Details zum Schokoladenbrunnen (vgl. Eintrag v. 18. 9.) nachzugeben und ihn der Einfachheit halber zu fotografieren. Dabei setzte ich mich einer größeren Gefahr aus als mittags auf dem Ätna.

Jedenfalls ist er verführerisch dunkel, der Schokoladenbrunnen. Mit unmenschlicher Willenskraft verweigerte ich mich allerdings erneut dem Drang, beim Thekenmann eine gestrichen volle Tasse zu ordern.

Auf dem Weg zur Kabine kamen wir an einem Stand der Weight Watchers vorbei, und irgendwie löste dieser Anblick tiefe Befriedigung aus. Aber auch Zukunftsangst.

Morgen: Mallorca.

28 August 2011

Die Domina blieb arbeitslos



Wie altgediente Blogleser wissen, habe ich ein schweres Päckchen zu tragen: Ich bin ein Fan des 1. FC Köln. Ja, ja, ich weiß: Es gibt angenehmere Schicksale. Aber auch noch schlimmere, damit tröste ich mich immer. (Mir fällt nur gerade keins ein.)

Wenn die Kölner also mal wieder in Hamburg spielen, gehe ich auf die HSV-Webseite und kaufe mir für rund 40 Euro eine Eintrittskarte. Das ist ungefähr so, als würde ich in der Herbertstraße eine Domina aufsuchen – allerdings ohne ein Masochist zu sein.

Beim letzten Mal blechte ich die rund 40 Euro, um mir eine 2:6-Klatsche einzufangen. Ich ließ mich also gleichsam auspeitschen und löhnte auch noch dafür.

Entsprechend angespannt schlich ich heute in die sogenannte Imtech-Arena – und erlebte ein nervenzerrüttendes Spiel mit viermal wechselnder Führung, aber – o Wunder – auch einem unverhofft gloriosen Ende. 3:4! Die Domina blieb arbeitslos, meine Heimfahrt war ein einziger innerer Triumphzug. Schon im Shuttlebus war es wunderbar, den Gesprächen der HSV-Fans zu lauschen.

„Pass auf“, sagte ein Vollschlanker mit Schal zu seinem Kumpel, einem viereckigen Trumm mit Petric-Trikot, „St. Pauli steigt auf und wir steigen ab.“
„Nicht so lange ich lebe!“, jaulte sein Kollege waidwund auf.
„Wart mal ab, nächsten Sommer!“, bekräftigte Kassandro mit düsterer Miene.
„Dann bin ich dout“, rief sein Kumpel, „dann sterb ich!“

Ich gluckste und fühlte mich pudelwohl. Inmitten dieser Dunstglocke aus Frust und Verzweiflung unerkannt mit den HSV-Fans unterwegs zu sein, klammheimlich ihre Niedergeschlagenheit zu genießen: Das macht mich sicherlich zu einem schlechten Menschen, doch das Recht darauf habe ich mir auch teuer erkauft – siehe oben. Heute jedenfalls hatte ich die Peitsche geschwungen, statt mit wundem Rücken heimzuschlurfen.

Auf dem Bahnsteig fing einer in Blauweiß fatalistisch an zu singen. „Wir steigen niemals ab“, sang er, „wir wechseln nur die Liiiiiga!“ Respekt: So viel sarkastisch abgefederten Fatalismus hätte ich einem HSVler gar nicht zugetraut. Eine gute Übung für das, was da noch kommen kann.


PS: Kurz vorm Anpfiff hatte ich im Tippspiel meinen Tipp noch hasenfüßig von 0:1 auf 1:1 korrigiert. Aber irgendwas ist ja immer.

PPS: Das Foto zeigt Kölner Freudenbengalos bereits
vor dem Anpfiff. Anscheinend hatten die eine bessere Glaskugel als ich.

25 Juni 2011

Fluchtreflexe, wie jedes Jahr



Eigentlich wollen wir St. Paulianer auch in den kommenden acht Tagen lediglich das tun, wonach wir das ganze Jahr über friedvoll streben: uns behaglich dem neuen Wohnkult auf dem Kiez hingeben. Doch daraus wird nichts. Definitiv nicht.

An diesem Wochenende nämlich rollt ein sonischer Tsunami namens Harley Days röchelnd und öttelnd über uns hinweg, und kommende Woche erfüllt die terroristische Hossa-Hamas ebenso zuverlässig diese Aufgabe, und zwar im Rahmen einer Veranstaltung namens Schlagermove.

Heute las ich übrigens, Osama bin Laden habe erwogen, seine Al-Qaida umzubenennen, wegen ihres „schlechten Images“. Den von mir erfundenen Namen Hossa-Hamas hätte ich ihm aber, falls er mich um Rat gefragt hätte, nicht guten Gewissens als Alternative angeraten; damit wäre das Al-Qaida-Image nämlich keinesfalls aufzupolieren gewesen.

Doch zurück zum Text: Immer, wenn ich zu Ms. Columbo wieder mal „Wie bitte?“ sagen oder die DVD zurückspulen muss, weil der entscheidende Moment, als der Name des Mörders fiel, von einem Zweitakter (= Harley) oder Zweizeller (= Schlagermoveteilnehmer) übertönt wurde, fantasiere ich kurzzeitig von einer festinstallierten Panzerfaust auf dem Balkongeländer. Dabei bin ich Kriegsdienstverweigerer.

Im Ibis-Hotel um die Ecke übrigens stiegen die Preise für ein Doppelzimmer im Verlauf der Woche um rund 50 Euro. Das spiegelt eine Nachfrageentwicklung wider, die sich reziprok proportional zu unseren Fluchtreflexen verhält.

Daraus, legte ich heute Ms. Columbo dar, sollten wir ein Geschäft machen. Das Vermieten unserer zentralst gelegenen Kiezwohnung an Höllenwochenenden müsste, wenn man die Ibis-Maßstäbe zugrundelegt, mehr bringen, als ein zweitägiges Exil an der Ostsee kosten dürfte.

Doch was würden wohl Harley-Hirnis und „Griechischer Wein“-Gröler mit unserer Bude anstellen …?

Na ja, wahrscheinlich gar nichts.

So lange sie dieses Blog nicht kennen.

21 Juni 2011

Bilder aus dem Schwarzlichtviertel



Dieses Video zeigt Szenen aus St. Pauli, wohl von Mitte der 60er Jahre, wenn man Mode und Frisuren trauen darf; Cinema Noir hat mich dankenswerter Weise darauf aufmerksam gemacht.

Ich war allerdings nicht vorbereitet auf die emotionale Wucht, mit der mich diese acht Minuten packen würden. Man sieht betrunkene Kiezbesucher und -bewohner, und es sind schreckliche, melancholische Bilder voller Lebensgier und Verzweiflung, unsagbar rührend in ihrem todtraurigen Witz. Das Rotlicht- als Schwarzlichtviertel, deprimierend schön gefilmt.

Wir sehen lauter Menschen, die sich nach Glück verzehren und nur eins finden: das Delirium. Die Musik von Andrew Bird passt perfekt dazu, doch sie legt auch einen dünnen distanzierenden Schleier über die Bilder. Erst die letzten stummen Minuten kaschieren nichts mehr, sie geben den Blick in den Abgrund frei.

Und er ist tief und bodenlos – und blickt in uns zurück.


11 Mai 2011

Mein erstes Album



Die erste selbstbezahlte Langspielplatte meines Lebens habe ich mir aus dem Otto-Katalog betellt. Meine Mutter war (und ist bis heute) Sammelbestellerin, die Nutzung dieser Quelle lag also nahe.

Es war ein Doppelalbum und heidenteuer. Bereits auf der Abbildung im Otto-Katalog sah man den riesiger Sticker, der auf dem Cover pappte und mir den Mondpreis („NUR 25,- DM!“) als Schnäppchen verkaufen wollte. Na ja, schließlich konnten weder die Plattenfirma noch Otto wissen, dass 25 Mark damals ungefähr ein Zwanzigstel des Monatseinkommens eines Sparkassenazubis ausmachte, doch diese Stelle trat ich eh erst zwei Jahre später an.

Damals, zum Zeitpunkt dieses Wahnsinnskaufs, erhielt ich meines Wissens ungefähr 5 Mark Taschengeld pro Woche, musste also mehrere Monate lang Teilbeträge davon zurücklegen, um mir irgendwann dieses Doppelalbum leisten zu können.

Es handelte sich um die Liveplatte „Hot August Night“ von Neil Diamond, die mein Interesse geweckt hatte, weil Diamond zu jener Zeit einen auch von mir tatkräftg unterstützten Riesenhit hatte, nämlich „Longfellow Serenade“.

Dass die Liveaufnahmen von „Hot August Night“ bereits mehrere Jahre alt waren und mein aktuelles Lieblingslied somit gar nicht drauf war, konnte ich natürlich nicht ahnen. Und der Otto-Katalog fühlte sich keineswegs in der Pflicht, mich über diesen Umstand aufzuklären.

Heute denke ich ja, dass es gar nicht der Hit war, der mich magisch zu jenem Doppelalbum hinzog, sondern das bemerkenswerte Cover. Neil Diamond sieht darauf nämlich aus, als würde er sich gerade pantomimisch einen von der Palme schütteln. Dazu noch die karpfenhafte Ekstase seines halbgeöffneten Mundes – alles klar, Herr Kommissar.

Für einen pubertierenden Buben, den sie zwei Jahre später in eine Sparkassenausbildung stecken sollten, war so etwas von höchstem Interesse, wenn auch nur unbewusst. Von wegen „Longfellow Serenade“!

Diese hellsichtige Exegese von Diamonds Pose gelang mir übrigens erst in allerjüngster Zeit. Seither ist das Albumcover mit dieser Erkenntnis kontaminiert.

Für Sie jetzt übrigens auch, und dagegen lässt sich hinfort überhaupt nichts mehr machen, so wahr eine Ausbildung bei der Sparkasse die tristeste der Welt ist.


09 April 2011

Fundstücke (129)



Da haben wir’s: Das Internet gefährdet Beziehungen. Es ist somit rundheraus abzulehnen.

Gefunden in der Seilerstraße.

Nachtrag 10.4.2011:
Auf mehrfachen Wunsch folgt hier nun auch die Abbildung der Vorderseite, die ich in weiser Voraussicht ebenfalls fotografiert hatte.



01 April 2011

Gebratene Eier wären jetzt lecker (gewesen)



Ich bin ganz ruhig.
ICH BIN GANZ RUHIG.

Halten wir die Sache also sachlich und frei von negativen Emotionen.

Zum Thema: Mir wurde wieder mal mein Fahrrad gestohlen. Es war der sechste Fall dieser Art. Mein Fahrrad war mit einem angeblich unzerstörbaren Abus-Kettenschloss an einem weiterhin unversehrten Geländer vor der Kindertagesstätte in der Seilerstraße angeschlossen.

Es handelt sich dabei um ein Batavus-Hollandrad mit leuchtend blauer Zweitklingel (die auf dem Foto leider noch nicht zu sehen ist). Wer mir Hinweise auf den Dieb oder den Verbleib des Fahrrads geben kann, wird reich belohnt.

Ansonsten bin ich ganz ruhig. ICH BIN GANZ RUHIG. Abgesehen von der Tatsache, dass ich dem Täter gerne die Testikel abschneiden, sie anschließend pürieren, braten und ihm in den Schlund stopfen möchte. Aber das nur nebenbei.

(Dieser Text stand für kurze Zeit
am Dienstag schon mal hier, entpuppte sich aber als völliger Quatsch, weshalb ich ihn wieder runternahm, was allerdings einige irritierte Nachfragen hervorrief. Inzwischen verfüge ich jedenfalls wieder über das Fahrrad, weil mir irgendwann einfiel, wo ich es in Wirklichkeit angeschlossen hatte. Es tat trotzdem erschreckend gut, diesen Text zu schreiben, besonders den letzten Absatz. Ich bereue nichts. Deshalb und als Dokument spontan aufflammender, aber hoffentlich singulärer Senilität soll er nun hier doch noch eine langfristige Heimstatt finden.)

16 Februar 2011

Derbysieg



Nach dem so glücklichen wie gloriosen Derbysieg des FC St. Pauli – welcher der Gegend rund um die Reeperbahn den größten Fußballtag seit 34 Jahren verschafft – ist es hier um kurz vor Mitternacht erstaunlich ruhig. Die mittwochsüblichen versprengten Sirenen aus der Ferne, das ist alles.

Vielleicht kloppen sie sich auch nur woanders (was man aus Anwohnersicht nur begrüßen kann). Die St. Paulianer, das zurzeit glücklichste Volk der Welt, wenn nicht ganz Hamburgs, feiern anscheinend alle drinnen, und die HSVler sind mental wohl viel zu zerbröselt, um noch die Energie für einen Kiezbesuch aufzubringen, wo sie im besten Fall verhöhnt, im schlimmsten getröstet würden.

„Wenn ich sehe, wie die Paulianer hier in unserem Stadion feiern, könnte ich kotzen", sagte vorhin Bastian Reinhardt, der Sportdirektor des HSV, im Fernsehinterview. Und mal ehrlich: Das sind die schönsten Worte, seit ich mir damals
zitternd vor Ergriffenheit Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“ laut vorgelesen habe.

Man sollte sie sich auf ein T-Shirt drucken lassen und es dann nie mehr waschen. Reinhardt, nicht Rilke.


Obwohl: den auch.

Foto: Spiegel online


15 Februar 2011

Ausnahmesituation



Wann immer ich in den vergangenen Jahren das Obdachlosenlager an der Simon-von-Utrecht fotografierte, gewann das Motiv seinen widersprüchlichen Reiz aus einer ganz speziellen Wechselwirkung zwischen Reklame und Elend.

Meist schien das Werbemotiv auf geradezu absichtlich zynische Weise das Schicksal der Heimatlosen zu seinen Füßen zu kommentieren (zum Beispiel hier, hier und hier). Heute aber motivierte mich erstmals genau das Gegenteil zur fotografischen Dokumentation der Szenerie.

Denn ausgerechnet die Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt hat diesen Werbeplatz gebucht, und endlich ist die Gesamtsituation dort harmonisch und homogen. Kein Hintersinn, kein Sarkasmus, keine Bösartigkeit lädt die Lage mit Symbolik und Sozialkritik auf. Man sieht nur eine Werbung, die von der Realität bestätigt wird und umgekehrt.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.

Der polnische Obdachlose – nennen wir ihn Jaczek A. – war übrigens damit einverstanden, fotografiert zu werden. Trotzdem war es mir sehr unangenehm, die Linse auf ihn zu richten. Sie verwandelte sich dabei unversehens in eine Waffe, die auf einen Schutz- und Wehrlosen gerichtet war.

Trotzdem schien mir das Motiv wichtig genug, um mich über die Obszönität der Situation hinwegzusetzen. Denn wenn Jaczek A. schon mal nicht von einem Werbeslogan für Wohlstandsbürger düpiert und veralbert wird, dann sollte das ebenfalls dokumentiert werden.

Es wird eh die Ausnahme bleiben, so viel ist sicher. Demnächst wirbt an dieser Stelle wieder irgendjemand für „Kokowääh“, Flatratetarife oder den Heidepark Soltau.

Vielleicht auch für wahnsinnig günstige Baukredite.

12 Februar 2011

Endlich mal nicht grundlos verdächtig



An der Max-Brauer-Allee husche ich im letzten Moment mit dem Fahrrad über die Fußgängerampel, obwohl sie, wie ich zugeben muss, bereits die Farbe von Draculas Lieblingsgetränk angenommen hatte.

Auf der Verkehrsinsel in der Mitte der Straße stoppe ich daher; die zweite Hälfte will ich angesichts des bereits losgerollten Verkehrs lieber bei Grün absolvieren. Als ich so dastehe, bemerke ich, wie hinter mir ein Wagen auf die Insel fährt und anhält.

Ein Streifenwagen, um genau zu sein.

Anscheinend stand er in der ersten Reihe, als ich illegal die Straße querte. Er hatte also einen Logenplatz. Gleich drei Uniformierte steigen aus, eine Frau und zwei Männer.

Der Fahrer, ein muskulöser Typ mit Aknenarben und ohne Zweifel Anführer der Besatzung, stützt sich auf die Wagentür, beugt sich aus der lichten Höhe von knapp zwei Metern zu mir herab und sagt: „Steigen Sie bitte mal vom Rad.“

Ich zittere ja sowieso schon, wenn ich der Polizei begegne, und signalisiere so stets ein grundlos schlechtes Gewissen, was mich, wie ich befürchte, generell verdächtig wirken lässt. (Übrigens die einzige Eigenschaft, die ich mit Alfred Hitchcock teile.) Nun auch noch wirklich und wahrhaftig etwas verbrochen zu haben, macht mich keineswegs ruhiger.

Kurz: Ich bin ein Nervenbündel.

„Warum haben Sie das gerade gemacht?“, fragt der Anführer. „Das war … spontan und … unbedacht“, stammle ich. „Sie haben sicher schon öfter Ärger mit der Polizei gehabt deswegen“, sagt der Riese. „Äh, nein … warum?“, frage ich, nun vollends in der Defensive, und das mitten im Nieselregen auf einer Verkehrsinsel in Altona, unter den Augen der interessierten Öffentlichkeit.

„Weil Sie sagen: ,spontan und unbedacht’“, analysiert er. „Nein, wirklich nicht, noch nie“, flüstere ich und schaue hilfesuchend die Polizistin an. Sie lächelt mir aufmunternd zu. Wahrscheinlich ein automatisiert aufflammender Mutterinstinkt. Dabei ist sie mindestens 20 Jahre jünger als ich.

Jetzt verlang schon endlich meinen Personalausweis, barme ich innerlich, verpass mir den Bußgeldbescheid, und dann lass mich laufen. Tut Mr. Akne aber nicht.

„Machen Sie das nie wieder“, sagt er, „ich möchte Sie nämlich nicht unter meinem Wagen hervorkratzen müssen.“ Verständiges Nicken scheint mir die Situation weiter zu kalmieren, deshalb nicke ich verständig. „Und ich“, ergänze ich mit brüchiger Stimme, „möchte erst recht nicht unter Ihrem Wagen hervorgekratzt werden.“

Die Polizistin nickt erneut lächelnd und nun sogar mit geschlossenen Augen; ich habe also zweifellos den richtigen Ton getroffen. Ich schaue wieder den Riesen an. „Noch einen schönen Abend“, sagt er und steigt in den Wagen. Die anderen folgen ihm, und dann fahren sie davon.

Ich auch, mit zittrigen Knien – um 62,50 Euro reicher und einen Punkt in Flensburg ärmer.

Danke. (Auch wenn ich nicht weiß warum.)

Foto: Matthias Wiechmann, Polizei Hamburg


30 Januar 2011

Liebe auf den ersten Kick



Meine Eltern vergötterten die Berge und alles, was damit zusammenhing, also Trenker, Trachten, Sissi, Edelweiß, Urlaub am Königssee, Maria Hellwig und die Oberkrainer.

All das trieb mich später zuverlässig in die Arme der Sex Pistols, aber das ist eine andere Geschichte. In der hier geht es um Fußball.

Da meine Eltern die Berge vergötterten und damit logischerweie auch das alpenreichste Bundesland, war mein Vater von jeher ein Fan des FC Bayern München. Und als ich 9 war, beschloss er, ich müsse nun auch einer Mannschaft anhängen, am besten natürlich (das dachte er jedenfalls insgeheim) dem FC Bayern.

Statt das einfach ex cathedra zu verkünden, was in seiner väterlichen Macht gelegen hätte, stellte er eine todsichere Falle auf, in die der naive kleine Junge tappen sollte. Ein Samstag sollte die Entscheidung bringen.

Der FC Bayern München spielte damals zu Hause gegen den 1. FC Köln, und mein Vater verkündete sardonisch, wer dieses Spiel gewänne, solle meine Mannschaft werden. Ich war 9 und nickte eifrig. Ich konnte natürlich nicht wissen, dass der FC Bayern als haushoher Favorit ins Spiel ging. Ich hätte nicht einmal definieren können, was genau eine Falle ist.

Wir sahen die Zusammenfassung gemeinsam in der Sportschau, in Schwarz-Weiß. In der 14. Minute ging Köln überraschend in Führung, Torschütze war Carl-Heinz Rühl. Kurz nach der Halbzeit gelang zwar Gerd Müller (wem sonst?) der Ausgleich. Doch dann die Sensation: Heinz Simmet köpfte in der 60. den Siegtreffer, und dabei blieb es. Der erste Erfolg der Kölner in München überhaupt.

Mein Vater war danach sehr still. „Köln hat gewonnen, Papa! Köln ist jetzt meine Mannschaft, nicht wahr, Papa?“, rief ich begeistert und zupfte ihm am Ärmel. Er brummelte irgendetwas, das ein Erwachsener als mit Widerwillen kontaminierte Zustimmung gedeutet hätte.

Wie auch immer: Damit war es besiegelt. Der 1. FC Köln war fortan meine Mannschaft. Dieser entscheidende Samstag ist schon Jahrzehnte her, doch so blieb es seither, und so wird es immer bleiben.

Die Erwählung der Lieblingsmannschaft ist schließlich kein Spaß, keine Ehe oder so ein Pipifax, sondern eine Lebensentscheidung – und zwar ganz egal, unter welchen Umständen sie zustande kam, und sei es durchs zufällige Nichttappen in eine sorgfältig aufgestellte Falle.

Seit ich auf dem Kiez lebe, liebe ich außerdem den FC St. Pauli, und immer, wenn er gegen den 1. FC Köln spielt, stürzt mich diese Partie in eine widersprüchliche Gefühlslage.

Als heute Mittag Andreas anrief und mich fragte, ob ich die Dauerkarte einer erkrankten Freundin übernehmen und zur Partie gegen den 1. FC Köln ins Millerntorstadion gehen könne, wechselten die eigentlich konkurrierenden Drüsen für Dopamin und Adrenalin parallel in den Akkordmodus. Kurz vor 3 holte ich die Karte bei Andreas ab. „Für wen bist du heute eigentlich?“, fragte er.

Und dann sagte ich es ihm.

24 Januar 2011

Das Herz von St. Pauli



Unter den Fans des FC St. Pauli gibt es eine Fraktion, die sich „Sozialromantiker“ nennt. Sie wendet sich gegen die Kommerzialisierung des Vereins, gegen dauerblinkende LED-Werbebanden, gegen Stripshows in den VIP-Logen und markenkernfremdes Marketing.

Ihr selbstironischer Name soll sie präventiv schützen vorm unweigerlichen Vorwurf, von gestern zu sein, die Mechanismen des modernen Fußballs nicht zu verstehen. Ihr Name reißt diese Tür einfach sperrangelweit auf, so dass sie erst gar niemand mehr einzutreten braucht.

Doch es kann sein, dass die selbstironischen Sozialromantiker des FC St. Pauli einer Zeit nachtrauern, die leider nicht so war, wie sie glauben.

Denn 2008, zu Zweitligazeiten, sollen nach Aussage des Hauptangeklagten im Fußballwettskandal bei mehreren Partien insgesamt fünf Spieler des FC St. Pauli bestochen gewesen sein.

Bisher wusste man von einem, und so etwas kann vorkommen, auch in der besten Familie. Ein schwarzes Schaf kann es immer geben, dagegen ist kein Verein, kein Unternehmen, keine noch so verschworene Gemeinschaft gefeit.

Aber fünf? Das wäre fast die halbe Mannschaft. Das wäre ein GAU für meinen kleinen Stadtteilverein, das würde ihn in den Grundfesten erschüttern.

Der FC St. Pauli konnte zwar noch nie mit Meisterschaften wuchern, aber immer mit Glaubwürdigkeit, Integrität und Herzblut. So schaffte es der Club, die Fanszene gleichsam zu verschmelzen mit dem Verein. Bei keinem anderen deutschen Proficlub nehmen die Anhänger so viel Einfluss auf die Vereinspolitik, und nirgendwo werden sie so ernstgenommen von der sportlichen und betriebswirtschaftlichen Führung.

Sie weiß einfach, dass die Fans die Außenwirkung des Clubs mehr prägen, als es ein Vorstand oder gar die Mannschaft selbst je könnte. Ihr Antirassismus, ihr Kampf gegen Neonazis, ihr Engagement gegen die Yuppiefizierung dieses kleinen Stadtteils: Ohne diese politische Homogenität und ihre Rückwirkung auf das Image des FC St. Pauli wäre der Club nur eine kleine graue Fahrstuhlmannschaft unter vielen.

So aber hat er Fans auf der ganzen Welt, und das Stadion ist dauerausverkauft, so dass man selbst als Vereinsmitglied praktisch niemals Karten bekommt. Und die Fußballprofimannschaft ausgerechnet dieses unvergleichlichen Clubs soll 2008 fünf Verräter in ihren Reihen gehabt haben, die auf sämtliche Werte, die der FC St. Pauli verkörpert – Glaubwürdigkeit, Integrität und Herzblut –, geschissen haben …?

Undenkbar. Doch warum sollte Sapina lügen, warum Anschuldigungen frei erfinden?

Noch sind keine Namen bekannt, noch ist alles in der Schwebe. Und dennoch geht man momentan anders durch St. Pauli – so, als veränderte sich nicht nur die Architektur dieses Stadtteils radikal, sondern auch sein wahres Herz.

Und ich meine nicht die Reeperbahn.

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09 September 2010

Die falsche Scham

So, nach drei bzw. fünf Jahren Gebrauch sind sowohl die Squalljacke als auch die Cityslipper von Lands’ End definitv Schrott.

Überall franst es aus, der Jackenreißverschluss ist altersmüde, der Schuh rissig, vor allem über der Ferse. Also schicke ich den ganzen Schamott zurück und lasse mir den Kaufpreis erstatten, auch nach drei bzw. fünf Jahren Gebrauch. Schließlich ist genau diese Möglichkeit das Alleinstellungsmerkmal von Lands’ End: Rücksendung jederzeit möglich, lebenslang, „guaranteed. Period“.

Merkwürdigerweise empfinde ich beim Gang zur Post dennoch stets ein Gefühl der Scham – so, als beanspruchte ich etwas, das mir nicht zustünde. Doch genau wegen dieser Möglichkeit habe ich ja damals Squalljacke und Cityslipper bei Land’s End gekauft und nirgendwo anders. Nur deshalb.

Im Grunde handelt es sich dabei nicht mal um einen Kauf, sondern um ein sehr lang laufendes Leihgeschäft. Damals, 2005 und 2007, zahlte ich die komplette Leihgebühr im Voraus, erhielt dafür allerdings auch das Recht der unbefristeten Nutzung. Lands’ End konnte das Geld anlegen, mit ihm spekulieren nach Herzenslust, es in der Finanzkrise in Derivate versenken, was auch immer. Aber: Eines Tages, das wusste Lands’ End, würde ich ankommen, eine ausgefranste Jacke und rissige Schuhe abliefern und die komplette Leihgebühr zurückverlangen.

So ist der Deal. Und jeder, der nicht so vorgeht, schenkt Lands’ End letzlich Geld. Denn alle Rücksendungen sind natürlich schon eingepreist. Die sind ja nicht blöd.

Warum ich mich trotzdem schäme? Fragen Sie Freud, Precht, Erlinger oder am besten gleich die vorwurfsvoll stummen Moralapostel von Lands’ End. Aber bitte nicht mich.

20 Juli 2010

Fundstücke (91): Ich will ja nur helfen!



Entdeckt an einem Laternenmast an der Simon-von-Utrecht-Straße.

PS: Nein, Annas Facebooknamen verrate ich nicht.


15 Juli 2010

Fundstücke (89): Liebe in Zeiten der Gentrifizierung



Die Fassaden in der St.-Pauli-Hafenstraße sind bis heute geprägt von den Auseinandersetzungen der 80er und frühen 90er Jahre, als dort leerstehende Häuser besetzt wurden, (u. a.) radikale Linke Zuflucht fanden und Straßenschlachten mit der Polizei die Geschäfte der benachbarten Huren störten.

Relikte jener Zeit werde ich bald in einer kleinen Fotostrecke vorstellen, das drohe ich schon mal an, doch der Anfang soll meinem Wesen entsprechen, also sanft und versöhnlich sein.

Die an einer Hafenstraßenhausfassade entdeckte Liebeserklärung nämlich rührt in ihrer schlichten, grundlosen Zuversicht mein Herz, jawohl. Und dass heute noch jemand Hans heißt und heiratet, das ist nachgerade rosamundepilcheresk.

Vor allem in der Hafenstraße.

16 Juni 2010

Der Verfall des Euro ist unaufhaltsam



Okay, w
as macht man mit einer alten, aber tadellos erhaltenen Musik-DVD, die man nicht mehr haben will? Richtig: auf Amazon verkaufen.

Ich schaue mir also an, für wieviel Euro sie gebraucht dort angeboten wird, und stelle sie ein – für einen Cent weniger als das bisher niedrigste Angebot, nämlich 9,37 Euro. Schlau.

Wenige Stunden später bietet sie jemand für 9,36 an. Ich unterbiete. Er auch. Irgendwann wird’s mir zu umständlich, und ich senke den Preis um einen vollen Euro ab. Er um einen Euro und einen Cent.

Das Spielchen geht eine ganze Weile so weiter. Irgendwann liegen wir zwei Turteltäubchen bei 2,33 Euro, was ein verdammt niedriger Preis ist für diese tolle DVD – zumal der Rest der Amazon-Gemeinde das Ding nur für mindestens 5,80 Euro herausrücken würde.

Mein Konkurrent – ein Händler, der schon fast 40 000 Bewertungen hat – holt irgendwann zum großen Schlag aus und drückt das Ding in einem Anfall kapitalismusfeindlichen Wahnsinns auf 75 Cent. Jetzt reicht’s mir: Ich gehe antizyklisch hoch auf 5,79 Euro. Soll er sein Exemplar doch unbehelligt verramschen, mir doch egal.


Einen Tag später taxiert er es auf 5,78.

Das Spiel geht von vorne los, der spiralige Countdown nimmt erneut Geschwindigkeit auf. Bei 2,27 lasse ich ihn wieder hängen und springe erneut auf 5,79. Ich muss nicht erwähnen, wie er reagiert.


Inzwischen macht mir das Spiel Spaß. Fast würde ich es bedauern, wenn irgendjemand meine DVD kaufen würde; dabei habe ich nun wirklich keine Verwendung mehr dafür.

Eine neue Runde wird eingeläutet. Zug um Zug geht es auf altbewährte Weise wieder nach unten, die Sprünge abwärts werden immer größer, und irgendwann werfe ich ihm einen Brocken vor die Füße, den er nicht mehr schlucken wird: 14 Cent.

14 Cent also, für eine neuwertige DVD ohne Makel, von einem der größten Rockstars aller Zeiten. Das ist schon kein Schnäppchen mehr, das ist obszön, das ist nicht mehr zu verantworten, vor allem nicht gegenüber der Dritten Welt.

Abends schaue ich rein und sehe sein Gegenangebot: 13 Cent.

Meine Selbstsicherheit ist schlagartig wie pulverisiert. Guckte ich in den Spiegel, ich wäre sicherlich leichenblass. Mir bleibt jetzt nur noch eins: Mit zitternden Fingern klicke ich auf – „kaufen“.

Jetzt habe ich zwei Exemplare einer DVD, die ich schon als Einzelstück unbedingt loswerden wollte. Irgendwas ist hier schrecklich schiefgelaufen, und ich werde wohl ewig darauf sitzenbleiben. Denn eins ist sicher: Niemand auf der ganzen weiten Welt wollte dieses Teil erwerben, selbst für lausig-lachhafte 13 Cent nicht.

Nur ich. Und selbst das nur aus den falschen Gründen.

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17 Mai 2010

Whitney, der einsamste Geist der Welt

Kaputte Typen sind interessanter als perfekte. Deshalb habe ich zeitlebens lieber Tom Waits gehört als Celine Dion.

Whitney Houston ist für mich erst interessant, seit sie kaputt ist. Sollen die ganzen Oberschlauen doch zeternd rausgehen und zu Hause Katherine Jenkins auflegen, wenn Whitney die Töne nicht mehr trifft. Sollen sie doch. Ich nicht.

Jede Kunst, sofern sie ein Quentchen Relevanz hat, handelt vom Scheitern. Nichts ist langweiliger als Perfektion. Und wenn Whitney Houston schon nach zwei Stücken schwitzt wie ein Boxer, wenn sie dicklich und aufgeschwemmt und steifärschig über die Bühne walzt, wenn sie verzweifelt anfängt, Autogramme zu schreiben, weil sie einfach nicht mehr genug Luft bekommt, um weiterzusingen, dann ist das tausendmal berührender als jedes perfekt intonierte Gefühl, das sie damals in „I will always love you“ zu empfinden vorgab.

Inzwischen kämpft Whitney Houston, die heute Abend in der O2-Arena am Mikro stand wie der einsamste, bleicheste Geist der Welt, öffentlich um ihre Würde, vielleicht sogar um ihr Leben. Und das hat in seiner ganzen Kaputtheit so was wie: Größe.

(PS: Ok, wahrscheinlich würde ich anders reden, wenn ich 80 Euro bezahlt hätte. Hab ich aber nicht.)


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