24 September 2013

Wie im Paradiso


Amsterdam unterliegt der unumschränkten Hegemonie der Radfahrer, und sie sind sich ihrer Herrschaft in jeder Sekunde bewusst.

Man springt besser beiseite, wenn irgendwer angerollt kommt, und das geschieht unablässig. Jeder hier scheint Fahrrad zu fahren, und wenn der Amsterdamer gerade mal in der Tram oder im Auto sitzt (was durchaus vorkommt), dann wahrscheinlich nur, weil er gerade einen Platten oder einen Fahrraddiebstahl zu verkraften hat.

Der unbekümmerte Drauflosfahrstil der Radler muss den Amsterdamer Krankenhäusern tagtäglich zuverlässig Kundschaft zuführen, das geht gar nicht anders. Und gleich am ersten Abend erlebten wir denn auch einen Zusammenstoß mit.

Vorm Melkweg nietete ein Radfahrer eine Passantin um, beide gingen schwer zu Boden, überlebten am Ende aber locker. Der allgemeine Effekt dieser Vernarrtheit ins Zweirad ist eine auffällig niedrige Quote adipöser Amsterdamer. Wir haben wirklich keine Dicken dort gesehen.

Sollte wirklich jemand aufgrund einer psychischen Störung oder dank purer Renitenz dem Radeln abhold sein, reguliert er sein Gewicht wahrscheinlich durch lange Aufenthalte in den Coffeeshops. Dort kann man sich jedes Hungergefühl auf angenehmste Weise wegkiffen und bleibt dauerhaft schlank. Draußen vor der Tür darf man allerdings anscheinend nicht an der Tüte suckeln; anders ist es nicht zu erklären, dass alle Bedröhnten trotz angenehmster Temperaturen brav drin verharrten.

Allerdings stehen die Türen der Coffeeshops stets einladend offen (vielleicht ist das Prinzip der Entlüftung durch nach außen führende Rohre in Holland unbeliebt), und ein Aufenthalt in den auf den Gehweg hinauswabernden Shitschwaden verschafft auch dem geizigsten Zufallspassanten eine durchaus erkleckliche Cannabiolzufuhr. Dazu reicht bloßes Weiteratmen.

Abends hatten wir uns zu Fuß durch die niemals nachlassende Drahteselstampede bis zum Paradiso vorgekämpft, um die Swamprocklegende Tony Joe White live zu erleben. Das Paradiso wurde einst gebaut, um hanebüchenen Unsinn zu verbreiten, als Kirche nämlich. Heute gehört es zweifellos zu den wunderbarsten Liveclubs, die man hienieden aufsuchen kann.


Sogar die mit historischen Glasmalereien verzierten Fenster sind noch erhalten, und die farbigen Spotlichtbahnen, die sich vorm Konzert still und stumm durch den Trockeneisdunst frästen, gaben dem Raum ein nostalgisches Flair, das mich an die Glastanzdielen meiner Jugend erinnerte.

Nachdem ich Tony Joes ultralangsame Version seines Übersongs „Rainy Night in Georgia“ im Kasten hatte, wusste ich, dass von nun an nichts mehr schiefgehen konnte an diesem Wochenende – außer von einer Drahteselstampede überrollt zu werden.

Aber das geschah dann merkwürdigerweise doch nicht.




13 Kommentare:

  1. "Hungergefühl wegkiffen?"?????????
    Na viel Erfolg...

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Rauchen wirkt doch appetitzügelnd, das weiß sogar ich. Ist es nicht egal, was für ein Kraut dabei verbrennt?

      Löschen
  2. Herr Wagner, Ihre Unbedarftheit ehrt Sie. Nach einem Joint gibt es in der Regel nicht viel, was vor dem nachfolgenden Fressflash sicher ist. Die appetitanregende (hüstel) Wirkung ist ja auch ein Grund, warum Cannabis bei manchen Therapien sehr willkommen ist.

    AntwortenLöschen
  3. Oh, da habe ich wohl falsche Rückschlüsse gezogen. Nach einem Kilo Crystal Meth z. B. kann ich immer eine Woche lang nichts essen.

    AntwortenLöschen
  4. Das füllt aber auch ein bisschen. Übrigens finde ich Ex-Kirchen immer sehr imposant als Konzertlocation. Alan Wilder in der Altonaer Kulturkirche hatte auch was.

    AntwortenLöschen
  5. Wobei das jetzt keine Ex ist, da war am nächsten Tag wieder normaler Betrieb.

    AntwortenLöschen
  6. Herr Matt,

    danke für das Video, sehr coole Gitarre.
    Und daß THC-haltige Produkte hungrig machen (besonders auf Süßigkeiten), das weiß man doch einfach. ;-)
    Und was das Bedampfen des Gehweges durch offene Coffeeshoptüren angeht, hätte ich da noch eine Idee: Man könnte doch Kfz-Kraftstoffen THC-haltige Pflanzenöle beimischen (und den Sprit dann "Super-THC-5" nennen), dazu einen Regler nachrüsten, mit dem man die Abgase teil- bzw. zeitweise ins Wageninnere umlenken kann. Eventeuell müßte man die Katalysatoren auch umrüsten, damit die nicht den Wirkstoff in der Wirkung stören.
    Das alles könnte die Umsätze der Tankstellen, auch Kfz-Zubehörhersteller und -Werkstätten anheben und auch für gute Stimmung in der Stadt sorgen. Da wird so mancher Fußgänger auch gerne länger bei "Fußgängergrün" an der Ampel warten, wenn die Windrichtung stimmt.
    Wäre das nicht eine klassische perfekte win-win-Situation ?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Klar! Aber erzählen Sie das mal den verknöcherten Typen im Bundestag.

      Löschen
    2. Das würde ich sehr gerne tun - nur: Wann werden wir wissen, wer es ab wann wäre und an wen man sich wenden müßte ?
      Und dann wäre ich auch noch "Lobbyist" - kein guter Job. Mir wäre es doch so viel lieber, daß "sie" (die Abgeordnetliegendlobbyierten) von selber darauf kämen. Dafür braucht es dann wieder "Super-THC-5" etc. (Folgehandliungen der Gewerbe).
      Irgendwie müssen wir Dummbatzbürger wohl anfangen.
      Herrlich ! ;-)

      Löschen
  7. Cannabinol, Herr Wagner, Cannabinol. Hanf ist wirklich nicht ihr Fachgebiet, aber dafür kennen Sie sich bestimmt besser mit Rotwein und Käse aus und das ist ja auch nicht ganz unwichtig *g*.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Tetrahydrocannabinol - so viel Zeit muß sein. ;-)

      Löschen
  8. Weißwein und Käse. Weißwein. Dennoch: Sie haben mich durchschaut. Aber was hat mich verraten, verdammt …

    AntwortenLöschen