Weil es unschön nieselt, bin ich heute mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Abends um 18:30 Uhr an der S1 in Altona folgende Szenerie: Ich bin gerade in die Bahn gestiegen und schaue nach des Tages Last mit müden Augen raus, als ich einen alten Mann im Rollstuhl auf den Aufzug zufahren sehe. In letzter Sekunde aber flitzt ein etwa 30-jähriger Kerl an ihm vorbei und schiebt sein Fahrrad in den Lift.
Der Rollstuhlfahrer ist mir bekannt. Man trifft ihn öfter in Ottensen und Altona. Er ist stets ausstaffiert mit einer Helmut-Schmidt-Gedächtnismütze und einer dickglasigen Hornbrille. Ich weiß, dass er nicht nur nicht laufen, sondern auch nicht artikuliert sprechen kann. An einem Imbisstand traf ich ihn mal in Begleitung einer Betreuerin, und seine explosiv ausgestoßenen Lautkaskaden wusste sie semantisch zu deuten, so dass er zu seiner offenbar gewünschten Currywurst mit Spezialausstattung kam.
Jetzt und hier aber, nachdem er so schamlos ausgebootet worden ist, gerät er in äußerste Rage. Er beschimpft lautstark stammelnd den Radfahrer, der ihm den Platz im Aufzug genommen hat, er schüttelt die Faust und brüllt und zetert in seiner wilden Fantasiesprache, doch der Mann im Lift wendet ihm den Rücken zu und tut, als sei er allein auf der Welt.
Als sich die Türen meiner Bahn schließen, sehe ich, wie der Rolli wutrot kehrtmacht, zum Stationshäuschen düst und die beiden HVV-Männer mit Schreien und Gesten auf das empörende Ereignis aufmerksam zu machen versucht. Doch die beiden haben schon mehr gesehen, als sich der alte Mann eralpträumen kann, viel mehr. Und sie schauen ihn mit Augen an, die müde sind von des Tages Last.
Meine Bahn fährt los und in den Tunnel ein, ich verliere den hilflos Tobenden aus dem Blick – und ärgere mich natürlich (mal wieder), nicht spontan ausgestiegen zu sein, um dem Liftdieb die Wut des Rollstuhlfahers in verständliches Deutsch zu übersetzen. Ich hätte auch gerne gewusst, wie sich so einer jetzt fühlt. Als Sieger? Oder wie ein Arsch? Jedenfalls kam er insgesamt rund zwei Minuten früher dort an, wo er hinwollte. Und der alte Mann zwei Minuten später. Doch das Ganze hat für beider Leben mehr zu bedeuten, viel mehr.
Heute kam die Queen Mary 2 nach Hamburg zurück, um sich für einen zweistelligen Millionenbetrag im Trockendock aufhübschen zu lassen. Mein Foto zeigt sie am Kreuzfahrtterminal in der Hafencity.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Sail beyond doubt“ von Sugarplum Fairy, „Stairs“ von Weeping Willows und „Blow him back into my arms“ von Moneybrother.
„3000 Plattenkritiken“ | „Die Frankensaga – Vollfettstufe“ | RSS-Feed | In memoriam | mattwagner {at} web.de |
07 November 2005
06 November 2005
Die bösen Überraschungen
An der U-Bahnstation Rödingsmarkt hat es eine Taube erwischt. Sie muss auf dem Gleis gesessen und den herannahenden Zug mit taubentypischer Gleichmut betrachtet haben. Doch das übliche Wegfliegen in letzter Nanosekunde klappte diesmal nicht. Effekt: Den dummen Vogel hat's säuberlich zweitgeteilt. Auf dem Gleis selber waren komischerweise keine Spuren der Katastrophe zu sehen, doch links und rechts davon gab es eine große Schweinerei.
Uns erinnerte das an eine „Seinfeld“-Folge. George Costanza hält wohlgemut mit dem Wagen auf Tauben zu, die mit taubentypischer Gleichmut mitten auf der Straße sitzen, und als es plötzlich Federn auf die Windschutzscheibe schneit, ruft er entsetzt und empört: „Ich dachte, wir hätten einen Deal!“ (In Ermangelung eines Tote-Taube-Fotos greife ich übrigens heute auf eine festgefrorene Möwe zurück, die ich letzten Winter in Gesellschaft eines Einkaufswagens im Parksee entdeckte.)
Eine böse Überraschung muss auch ein alter Freund von mir verdauen. Seine neue (und sehr junge) Freundin hat ihm nach einigen Monaten Karenzzeit zunächst gestanden, dass sie vor einer Webcam strippt und diese Show im Internet abonnierbar ist; allerdings war das noch nicht die böse Überraschung, denn das fand mein bekannt toleranter Freund eher anregend (immerhin kriegt er regelmäßig das, wovon die Abonnenten nur feucht träumen). Doch dass sie nach einer weiteren Karenzzeit damit herausrückte, sich ihr Studium nebenbei auch noch als Domina zu finanzieren, die ihre Kunden zu Hause besucht – das hat er nicht mehr locker weggesteckt.
Jetzt ist er wieder solo und hält Ausschau nach etwas Soliderem und nicht mehr ganz so Jungem. Tipps leite ich gerne weiter.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Pony ride on“ von Katja Werker, „New World Order“ von Galliano und „Once“ von Laid Back.
Uns erinnerte das an eine „Seinfeld“-Folge. George Costanza hält wohlgemut mit dem Wagen auf Tauben zu, die mit taubentypischer Gleichmut mitten auf der Straße sitzen, und als es plötzlich Federn auf die Windschutzscheibe schneit, ruft er entsetzt und empört: „Ich dachte, wir hätten einen Deal!“ (In Ermangelung eines Tote-Taube-Fotos greife ich übrigens heute auf eine festgefrorene Möwe zurück, die ich letzten Winter in Gesellschaft eines Einkaufswagens im Parksee entdeckte.)
Eine böse Überraschung muss auch ein alter Freund von mir verdauen. Seine neue (und sehr junge) Freundin hat ihm nach einigen Monaten Karenzzeit zunächst gestanden, dass sie vor einer Webcam strippt und diese Show im Internet abonnierbar ist; allerdings war das noch nicht die böse Überraschung, denn das fand mein bekannt toleranter Freund eher anregend (immerhin kriegt er regelmäßig das, wovon die Abonnenten nur feucht träumen). Doch dass sie nach einer weiteren Karenzzeit damit herausrückte, sich ihr Studium nebenbei auch noch als Domina zu finanzieren, die ihre Kunden zu Hause besucht – das hat er nicht mehr locker weggesteckt.
Jetzt ist er wieder solo und hält Ausschau nach etwas Soliderem und nicht mehr ganz so Jungem. Tipps leite ich gerne weiter.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Pony ride on“ von Katja Werker, „New World Order“ von Galliano und „Once“ von Laid Back.
05 November 2005
Die Würdelosen
Mein Eintrag „Die Bauwut“ hat eine kleine Diskussion darüber entfacht, wieviel Lärm und ekelerregendes Verhalten man als freiwilliger Bewohner St. Paulis ertragen können muss. Ich muss ehrlich gesagt zugeben: Auch ich goutiere es eher selten, wenn wildfremde Menschen mir unaufgefordert die Vielfalt ihrer Inhaltsstoffe präsentieren.
Einmal verließen wir das Haus und stießen unmittelbar davor auf einen Menschen, der sich zwischen zwei geparkten Wagen hingehockt hatte, um zu kacken. Das wirft für mich die Frage auf, ob Armut und Obdachlosigkeit zwangsläufig mit dem vollkommenen Verlust von Würde und Selbstachtung einhergehen müssen. Wahrscheinlich kann ich das als Wohnungsbewohner und Nichtarmer letztlich nicht beurteilen – aber zurzeit denke ich: Nein, man müsste eigentlich auf einen Rest Würde bestehen wollen, unter allen Umständen.
Auch die Unverfrorenheit, mit der (nicht immer notwendigerweise hackedichte) Kiezbesucher ihr bestes Stück auspacken, um meinen Stadtteil mit endogenen Giftstoffen zu begießen, erstaunt mich immer wieder. Wir betraten neulich eine U3-Station und sahen, wie ein Mann ungeniert auf die Gleise schiffte. Was übrigens dank der Starkstromleitung zwischen den Schienen kein unbeträchtliches Risiko für seine Potenz darstellte. Aber hat er darüber nachgedacht? War er intellektuell überhaupt in der Lage, die Vor- und Nachteile seiner Handlungsweise zu reflektieren? Don't think so.
Unlängst war eine Fotografin in St. Pauli auf der Pirsch, um solche Anarchopinkler in flagranti abzulichten. Wie sie berichtet, war das vielen aber so was von schnuppe; manche reagierten anzüglich; und jene, die es störte, dass sie beim öffentlichen Schniedelschwingen verewigt wurden, konnte sie in der Regel mit dem als Schmeichelei empfundenen Satz besänftigen: „Ich steh auf so was.“
Sie hat die Fotos übrigens an der Großen Freiheit an ein seit Dekaden eingenässtes Haus plakatiert, dessen Fundament wohl inzwischen vowiegend aus Urinstein besteht.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Let's get crazy“ von Ric Ocasek, „In this home on ice“ von Clap Your Hands Say Yeah und „It's not the liqour I miss“ von Luke Doucet.
Einmal verließen wir das Haus und stießen unmittelbar davor auf einen Menschen, der sich zwischen zwei geparkten Wagen hingehockt hatte, um zu kacken. Das wirft für mich die Frage auf, ob Armut und Obdachlosigkeit zwangsläufig mit dem vollkommenen Verlust von Würde und Selbstachtung einhergehen müssen. Wahrscheinlich kann ich das als Wohnungsbewohner und Nichtarmer letztlich nicht beurteilen – aber zurzeit denke ich: Nein, man müsste eigentlich auf einen Rest Würde bestehen wollen, unter allen Umständen.
Auch die Unverfrorenheit, mit der (nicht immer notwendigerweise hackedichte) Kiezbesucher ihr bestes Stück auspacken, um meinen Stadtteil mit endogenen Giftstoffen zu begießen, erstaunt mich immer wieder. Wir betraten neulich eine U3-Station und sahen, wie ein Mann ungeniert auf die Gleise schiffte. Was übrigens dank der Starkstromleitung zwischen den Schienen kein unbeträchtliches Risiko für seine Potenz darstellte. Aber hat er darüber nachgedacht? War er intellektuell überhaupt in der Lage, die Vor- und Nachteile seiner Handlungsweise zu reflektieren? Don't think so.
Unlängst war eine Fotografin in St. Pauli auf der Pirsch, um solche Anarchopinkler in flagranti abzulichten. Wie sie berichtet, war das vielen aber so was von schnuppe; manche reagierten anzüglich; und jene, die es störte, dass sie beim öffentlichen Schniedelschwingen verewigt wurden, konnte sie in der Regel mit dem als Schmeichelei empfundenen Satz besänftigen: „Ich steh auf so was.“
Sie hat die Fotos übrigens an der Großen Freiheit an ein seit Dekaden eingenässtes Haus plakatiert, dessen Fundament wohl inzwischen vowiegend aus Urinstein besteht.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Let's get crazy“ von Ric Ocasek, „In this home on ice“ von Clap Your Hands Say Yeah und „It's not the liqour I miss“ von Luke Doucet.
04 November 2005
Die Herzlosen
Woran man sich als zugezogener Hesse auch nach mehr als 10-jährigem Hamburg-Aufenthalt nicht recht gewöhnt, ist die rustikale Herzlosigkeit der Hanseaten. Heute stand in Ottensen ein älterer Herr an einem Bauzaun und stierte sinnierend in die Grube, als eine Dame ähnlichen Alters vorbeikam und zu ihm sagte: „Willst du Selbstmord begehen? Das ist nicht tief genug!“
Keine Ahnung, ob die beiden sich kannten. Doch selbst dann wäre eine leicht andere Nuancierung in der Ansprache nach meinem Geschmack probater gewesen. Grundsätzlich scheinen sich die Leute hier ziemlich egal zu sein. Jeder sieht, wie er voran kommt. Als Fahrgast in den U- und S-Bahnen stellt man sich tunlichst schon während der Fahrt an die Tür, denn der am Bahnsteig wartende Hanseat kennt nur eins: Rein in die Bahn – Frechheit, dass auch welche rauswollen. Manchmal muss man regelrecht Schneisen schlagen in die dumpf und unwillig Reindrängenden.
Am schlimmsten wird es, wenn man versehentlich an der falschen Tür steht und plötzlich erkennt, dass man sich in Sekundenbruchteilen zur anderen Seite durchschlagen muss. Denn die hereinbrandende Lawine verfährt mit ausstiegswilligen Nachzüglern gewöhnlich nach der Methode: Steig doch an der nächsten Station aus. Phh.
Und damals, als die im Start-Posting erwähnte Nachbarin aus dem vierten Stock neben uns aufs Pflaster klatschte, kam der Typ vom „Glöe International Grillimbiss" an der Ecke raus, beugte sich über den Haufen Fleisch und sagte, fast ein wenig vorwurfsvoll: „Die lebt ja noch.“
Möglicherweise ist das hier nicht die ideale Stadt, um auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Anders gesagt: Gandhi hätte hier bestimmt einen Job gefunden, auch wenn er komische Klamotten trug.
Ich will damit aber nicht sagen, Hamburger hätten kein Herz. Die Maria Bar zum Beispiel hat eins.
PS: Übrigens neige ich seit einiger Zeit dazu, sehr unwillig in Bahnen reinzudrängen. Eine Handlungsweise, die ich auch im Angesicht von Bussen an mir feststelle.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Deep lake“ von Film School, „Viver“ von Sandboy und „Those winters“ von Jenny Wilson.
Keine Ahnung, ob die beiden sich kannten. Doch selbst dann wäre eine leicht andere Nuancierung in der Ansprache nach meinem Geschmack probater gewesen. Grundsätzlich scheinen sich die Leute hier ziemlich egal zu sein. Jeder sieht, wie er voran kommt. Als Fahrgast in den U- und S-Bahnen stellt man sich tunlichst schon während der Fahrt an die Tür, denn der am Bahnsteig wartende Hanseat kennt nur eins: Rein in die Bahn – Frechheit, dass auch welche rauswollen. Manchmal muss man regelrecht Schneisen schlagen in die dumpf und unwillig Reindrängenden.
Am schlimmsten wird es, wenn man versehentlich an der falschen Tür steht und plötzlich erkennt, dass man sich in Sekundenbruchteilen zur anderen Seite durchschlagen muss. Denn die hereinbrandende Lawine verfährt mit ausstiegswilligen Nachzüglern gewöhnlich nach der Methode: Steig doch an der nächsten Station aus. Phh.
Und damals, als die im Start-Posting erwähnte Nachbarin aus dem vierten Stock neben uns aufs Pflaster klatschte, kam der Typ vom „Glöe International Grillimbiss" an der Ecke raus, beugte sich über den Haufen Fleisch und sagte, fast ein wenig vorwurfsvoll: „Die lebt ja noch.“
Möglicherweise ist das hier nicht die ideale Stadt, um auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Anders gesagt: Gandhi hätte hier bestimmt einen Job gefunden, auch wenn er komische Klamotten trug.
Ich will damit aber nicht sagen, Hamburger hätten kein Herz. Die Maria Bar zum Beispiel hat eins.
PS: Übrigens neige ich seit einiger Zeit dazu, sehr unwillig in Bahnen reinzudrängen. Eine Handlungsweise, die ich auch im Angesicht von Bussen an mir feststelle.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Deep lake“ von Film School, „Viver“ von Sandboy und „Those winters“ von Jenny Wilson.
Die Bauwut
Oh, Mann, die Seilerstraße ist momentan eine einzige Lärmhölle. Überall hämmern sie und graben, schaufeln und baggern, Kräne pendeln wirr durch die Gegend. Ständig gellen die Flüche und Kommandos der Bautrupps durch die Straße, und sobald man ein Fenster kippt, hat man die ungebetenen Schallgäste im Wohnzimmer. Und dann sind da auch noch die Betonmischer-Lkws, die unter unserem Balkon herumstehen und stundenlang vor sich hin dieseln.
Letztes Jahr ging die Bauwut los mit blitzartig hochgezogenen Hotels. Sehr bunt und geometrisch lugten sie herab auf die Seilerstraße, doch inzwischen sind sie bereits wieder verdeckt, denn neben unserem Haus entsteht seit Monaten eine Wohnanlange namens „Condominium", die sich jeden Tag ein wenig höher schraubt und dies glaubt, stolz und lauthals kundtun zu müssen.
Als reichte das nicht, hat die Stadt gerade im Abstand von jeweils rund 30 Seilerstraßenmetern das Pflaster aufgerissen. Es ist eine einzige Slalomfahrt. Auch schräg gegenüber von Waschmaschinenhöker und Schwulenkino: ein gähnendes Loch, Presslufthämmer, Großstadtgrauen.
Als wir heute in die Fußballübertragung HSV gegen Stavanger reinschauten, fiel Ms. Columbo auf, dass Benny Lauth aussieht wie der leibliche Bruder von Bärbel Schäfer. Und mittags sah ich das neuste Bild von Mel Gibson. Ich schwöre: Er könnte der Zwilling von Saddam Hussein sein. Es ist wirklich verblüffend.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Out on the weekend“ von Paul Weller, „Girl from the north country“ von Leon Russell & Joe Cocker und „Close behind“ von Calexico.
Letztes Jahr ging die Bauwut los mit blitzartig hochgezogenen Hotels. Sehr bunt und geometrisch lugten sie herab auf die Seilerstraße, doch inzwischen sind sie bereits wieder verdeckt, denn neben unserem Haus entsteht seit Monaten eine Wohnanlange namens „Condominium", die sich jeden Tag ein wenig höher schraubt und dies glaubt, stolz und lauthals kundtun zu müssen.
Als reichte das nicht, hat die Stadt gerade im Abstand von jeweils rund 30 Seilerstraßenmetern das Pflaster aufgerissen. Es ist eine einzige Slalomfahrt. Auch schräg gegenüber von Waschmaschinenhöker und Schwulenkino: ein gähnendes Loch, Presslufthämmer, Großstadtgrauen.
Als wir heute in die Fußballübertragung HSV gegen Stavanger reinschauten, fiel Ms. Columbo auf, dass Benny Lauth aussieht wie der leibliche Bruder von Bärbel Schäfer. Und mittags sah ich das neuste Bild von Mel Gibson. Ich schwöre: Er könnte der Zwilling von Saddam Hussein sein. Es ist wirklich verblüffend.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Out on the weekend“ von Paul Weller, „Girl from the north country“ von Leon Russell & Joe Cocker und „Close behind“ von Calexico.
02 November 2005
Der Trainer
Mein Doktor hat eine neue Assistentin, und sie sieht aus wie Scarlet Johansson. Kein Witz. Gleiche Haarfarbe, gleiche Kopfform, die gleichen geschürzten Lippen, das gleiche leicht spöttische Lächeln, ohne Zähne zu zeigen. Und wenn sie dieses Lächeln noch einen Tuck breiter gezogen hätte, wären auf ihren Wangen gewiss zwei Johansson'sche Grübchen entstanden.
Ganz baff stehe ich an der Rezeption – und frage mich, ob der Hollywoodstar hier vielleicht ein Praktikum absolviert oder inkognito für „Ambulance 2“ recherchiert. Leider übernimmt die Blutabnahme eine Kollegin, die mich an keinen einzigen Hollywoodstar erinnert. (Übrigens werde ich hier NICHT verraten, wer mein Hausarzt ist.)
Abends Fitnesstraining. Genauer: Bauchkurs. Der Trainer heißt Awed und weiß einfach kein bisschen, wann es denn jetzt mal gut ist. Wahrscheinlich hat er sich einmal zu oft „Full Metal Jacket“ angeschaut. Der stattliche Mensch auf der Matte neben mir jedenfalls schnauft und prustet, als müsste er sich gerade widerwillig und ohne ansprechendes Druckerzeugnis einen von der Palme wedeln. Was mache ich hier eigentlich? Zwischendurch sagt Awed: „So, die Atmung nehmen wir jetzt einfach mal mit.“ Gute Idee. Zumindest wenn man noch die Kraft zum Atmen hat.
Zum Abschluss, als wir alle schon daliegen wie plattgefahrene Aga-Kröten, treibt dieser sardonische Schinder uns noch hoch auf 36 Liegestütze. Na ja, nicht alle von uns. Und am Ende hängt man dann fertig am Waschbecken rum, klar.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Get Carter“ von Roy Budd, „Rio de Janeiro“ von J. J. Cale und „Samba triste“ von Stan Getz.
Ganz baff stehe ich an der Rezeption – und frage mich, ob der Hollywoodstar hier vielleicht ein Praktikum absolviert oder inkognito für „Ambulance 2“ recherchiert. Leider übernimmt die Blutabnahme eine Kollegin, die mich an keinen einzigen Hollywoodstar erinnert. (Übrigens werde ich hier NICHT verraten, wer mein Hausarzt ist.)
Abends Fitnesstraining. Genauer: Bauchkurs. Der Trainer heißt Awed und weiß einfach kein bisschen, wann es denn jetzt mal gut ist. Wahrscheinlich hat er sich einmal zu oft „Full Metal Jacket“ angeschaut. Der stattliche Mensch auf der Matte neben mir jedenfalls schnauft und prustet, als müsste er sich gerade widerwillig und ohne ansprechendes Druckerzeugnis einen von der Palme wedeln. Was mache ich hier eigentlich? Zwischendurch sagt Awed: „So, die Atmung nehmen wir jetzt einfach mal mit.“ Gute Idee. Zumindest wenn man noch die Kraft zum Atmen hat.
Zum Abschluss, als wir alle schon daliegen wie plattgefahrene Aga-Kröten, treibt dieser sardonische Schinder uns noch hoch auf 36 Liegestütze. Na ja, nicht alle von uns. Und am Ende hängt man dann fertig am Waschbecken rum, klar.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Get Carter“ von Roy Budd, „Rio de Janeiro“ von J. J. Cale und „Samba triste“ von Stan Getz.
01 November 2005
Die Madonna
Ja, gebenedeit sind diese Mauern, diese Steine, gebenedeit die Räume hinter diesen Fenstern, denn ihre Lichter haben die Strahlkraft von Aureolen! Und das liegt daran, dass heute, hinter dem abgebildeten Rotklinker, erstmals auf deutschem Boden (und damit für immer und ewig erstmals!) das neue Madonna-Album erklang. Und ich war dabei, als es sich den Wänden und Steinen imprägnierte, als es in ihre Poren drang mit der ganzen Fulminanz einer Erstaufführung. Dieses Gebäude, soviel steht fest, wird nie mehr das gleiche sein hinfort. Es ist – sagte ich das schon? – gebenedeit.
Auf dem Rückweg passiere ich an den Landungsbrücken einen turmartigen Rundbau, der seit Jahren mit dem Schicksal leben muss, die Vollprollkneipe Pupasch zu beherbergen. Man muss sich das mal vorstellen: Allabendlich fallen Horden von abschlussgefährdeten Jungs dort ein, die Kampfsaufen für olympisch halten und an die Mär glauben, dass Freigetränke für Mädchen Traumfrauen anziehen, die sie auch noch abkriegen. Träumt weiter.
Auf der Rückseite des Pupasch indes sorgt die Telekom für einen kleinen Anachronismus, nämlich ein Arrangement von Openair-Telefonzellen. Wer, um alles in der Welt, geht denn noch in eine Zelle zum Klönen? Wer akzeptiert es heutzutage noch klaglos, mithilfe eines fest verankerten Kabels an einen klobigen Apparat gefesselt zu sein und dafür auch noch Kleingeld berappen zu müssen? Haben nicht selbst Hartz-IV-Empfänger inzwischen das Menschenrecht auf ein Handy, und sei es prepaid?
Wie auch immer: Die rosa Lichtemissionen dieses an der Pupaschsüdseite voll hübsch drapierten Zellentrios warfen einen derart nostalgischen Glanz aufs Gemäuer, dass es meinem fotografischen Interesse anheimfiel.
Übrigens telefonierte urplötzlich wirklich einer. Ich habe ihn angestarrt wie einen Pandabären bei Hagenbeck.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Ain't no sunshine“ von Jazzamor, „Sportif“ von Heights Of Abraham und „Kisses“ von Bent.
Auf dem Rückweg passiere ich an den Landungsbrücken einen turmartigen Rundbau, der seit Jahren mit dem Schicksal leben muss, die Vollprollkneipe Pupasch zu beherbergen. Man muss sich das mal vorstellen: Allabendlich fallen Horden von abschlussgefährdeten Jungs dort ein, die Kampfsaufen für olympisch halten und an die Mär glauben, dass Freigetränke für Mädchen Traumfrauen anziehen, die sie auch noch abkriegen. Träumt weiter.
Auf der Rückseite des Pupasch indes sorgt die Telekom für einen kleinen Anachronismus, nämlich ein Arrangement von Openair-Telefonzellen. Wer, um alles in der Welt, geht denn noch in eine Zelle zum Klönen? Wer akzeptiert es heutzutage noch klaglos, mithilfe eines fest verankerten Kabels an einen klobigen Apparat gefesselt zu sein und dafür auch noch Kleingeld berappen zu müssen? Haben nicht selbst Hartz-IV-Empfänger inzwischen das Menschenrecht auf ein Handy, und sei es prepaid?
Wie auch immer: Die rosa Lichtemissionen dieses an der Pupaschsüdseite voll hübsch drapierten Zellentrios warfen einen derart nostalgischen Glanz aufs Gemäuer, dass es meinem fotografischen Interesse anheimfiel.
Übrigens telefonierte urplötzlich wirklich einer. Ich habe ihn angestarrt wie einen Pandabären bei Hagenbeck.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Ain't no sunshine“ von Jazzamor, „Sportif“ von Heights Of Abraham und „Kisses“ von Bent.
31 Oktober 2005
Der totale Ausverkauf
Mein täglicher Radelweg zur Arbeit führt mich an der Kreuzung Holsten- und Utrecht-Straße vorbei. Dort prangt über Eck ein nicht eben kleiner Möbelladen, und seit Monaten verkünden gewaltige Transparente hinter seinen Scheiben den „Totalen Räumungsverkauf“.
Von außen sieht man zum Beispiel metallene Beistellregale mit zwei Abstellflächen, an denen riesige gelbe Preisschilder kleben. Der ursprüngliche Betrag ist durchgestrichen, aber lesbar; und aktuell hätte der totalausverkaufende Möbelladen gern nur noch lachhafte 280 Euro dafür. Meine Herren! Die Dinger scheinen einen Goldüberzug zu haben.
Seit einigen Wochen frage ich mich nun immer drängender, wann denn der „Totalausverkauf“ endlich abgeschlossen sein wird. Der Laden wird jedenfalls einfach nicht leerer. Mein Blick ist inzwischen geschärft, und ich muss gestehen, dass sich gar ein gerüttelt Maß unfeines Misstrauen einschlich. Allmorgendlich schaue ich mir im Vorüberfahren wie zwanghaft die Verkaufsräume an – und sie sind voll. Sie sind sogar immer gleich voll. Was auch kein Wunder ist, denn oftmals stehen Lieferwagen vor der Eingangstür. Sie laden aus, nicht ein. Und zwar Möbel. Sofas, Tische, Schränke: Immer rein damit.
Der „totale Räumungsverkauf“ scheint mir ergo – aber ich bin ja nur ein Laie und immens unbewandert in den Deklarationskonventionen von Möbelläden an Hamburger Kreuzungen – nicht hundertprozentig ernst gemeint zu sein. Sondern vielleicht nur zweiprozentig, aufgerundet. Irgendwie hat das Ganze etwas von persischen Teppichläden: Die haben auch immer gerade Ausverkauf und derart maximale Minipreise, dass du dich vor Verblüffung und aufbrandendem Teppichkaufzwang glatt lang hinlegen musst, aber zum Glück liegt ja genau dort ein persischer Teppich.
Ich werde das weiter beobachten. Zumindest, wenn es nicht regnet: Der Bus nimmt eine andere Strecke.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Eternal drift“ von Axiom Ambient, „Another green world“ von Brian Eno und „The deadly nightshade“ von Daniel Lanois.
Von außen sieht man zum Beispiel metallene Beistellregale mit zwei Abstellflächen, an denen riesige gelbe Preisschilder kleben. Der ursprüngliche Betrag ist durchgestrichen, aber lesbar; und aktuell hätte der totalausverkaufende Möbelladen gern nur noch lachhafte 280 Euro dafür. Meine Herren! Die Dinger scheinen einen Goldüberzug zu haben.
Seit einigen Wochen frage ich mich nun immer drängender, wann denn der „Totalausverkauf“ endlich abgeschlossen sein wird. Der Laden wird jedenfalls einfach nicht leerer. Mein Blick ist inzwischen geschärft, und ich muss gestehen, dass sich gar ein gerüttelt Maß unfeines Misstrauen einschlich. Allmorgendlich schaue ich mir im Vorüberfahren wie zwanghaft die Verkaufsräume an – und sie sind voll. Sie sind sogar immer gleich voll. Was auch kein Wunder ist, denn oftmals stehen Lieferwagen vor der Eingangstür. Sie laden aus, nicht ein. Und zwar Möbel. Sofas, Tische, Schränke: Immer rein damit.
Der „totale Räumungsverkauf“ scheint mir ergo – aber ich bin ja nur ein Laie und immens unbewandert in den Deklarationskonventionen von Möbelläden an Hamburger Kreuzungen – nicht hundertprozentig ernst gemeint zu sein. Sondern vielleicht nur zweiprozentig, aufgerundet. Irgendwie hat das Ganze etwas von persischen Teppichläden: Die haben auch immer gerade Ausverkauf und derart maximale Minipreise, dass du dich vor Verblüffung und aufbrandendem Teppichkaufzwang glatt lang hinlegen musst, aber zum Glück liegt ja genau dort ein persischer Teppich.
Ich werde das weiter beobachten. Zumindest, wenn es nicht regnet: Der Bus nimmt eine andere Strecke.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Eternal drift“ von Axiom Ambient, „Another green world“ von Brian Eno und „The deadly nightshade“ von Daniel Lanois.
30 Oktober 2005
Das Maffay-Missverständnis
In Gerhard Henschels hochamüsantem Roman „Der dreizehnte Beatle“ las ich heute den Satz: „Meine Zunge schmeckte wie ein Kniestrumpf“, und das erinnerte mich aus bestimmten Gründen an den Blog-Eintrag von gestern.
Die abgebildete Spinne verwehrte uns heute mit einem voluminösen Netz beinah den Ausstieg aus dem U-Bahn-Fahrstuhl am Rödingsmarkt, den wir nach dem Fitnesstraining gern benutzen, um uns nicht ächzend die vielstufigen Treppen hinanschleppen zu müssen.
Die Strecke der U3 führt von dort aus über nur drei Stationen nach St. Pauli, doch es gibt in ganz Hamburg keine schönere Fahrt. Es geht an der Speicherstadt entlang, dann ragt stolz die Kehrwiederspitze gen Himmel, auf der anderen Elbseite sehen wir das kühn geschwungee Musicalhaus für den „König der Löwen“, wir passieren zwei Prunkschiffe, die dauerhaft hier vor Anker liegen, die schneeweiße Cap San Diego und den moosgrün leuchtenden Segler Rickmer Rickmers, ehe wir an den Landungsbrücken nach rechts abknicken und mit einem Bild des alten Elbtunnels auf der Retina in die U-Bahnröhre eintauchen, die hochführt zur Reeperbahn.
Apropos Cap San Diego: Dort verbrachte ich mal einen denkwürdigen Abend, den ich ob seiner Denkwürdigkeit bereits einmal bei den höflichen Paparazzi geschildert habe. Doch leider fiel er einem gewaltigen Servercrash zum Opfer, wovon sich die verdienstvolle Website noch immer nicht recht erholt hat. Deshalb gibt es die Story jetzt exklusiv in diesem Blog:
Es herrscht Trubel auf dem Museumsschiff Cap San Diego im Hamburger Hafen. Peter Maffay präsentiert sein neues Album, eingespielt mit Menschen aus aller Welt, darunter der US-amerikanische Blues-Musiker Keb' Mo'. Vom Management habe ich telefonisch die lose Zusage, mit Maffay ein Interview führen zu können, alleine, „so irgendwann ab 22 Uhr“. Nun, nach Präsentation und Buffet, gilt es, im Tohuwabohu den richtigen Menschen zu erwischen, der mit mir Maffay findet.
Irgendwann finde ich eine hochblonde Mitarbeiterin seines Büros. Vielmehr: Sie findet mich. Ob ich noch einen Wunsch hätte, fragt sie. Ja, ich suche Peter Maffay. Der ist noch oben, sagt sie, und wird am Tisch von Keb' Mo' erwartet, kommen Sie, ich bringe Sie zum Tisch von Keb' Mo'. Wir gehen hoch, am Tisch kein Keb' Mo', kein Maffay. Warten Sie, sagt sie, ich hole Keb' Mo'. Entschuldigung, nicht nötig, sage ich, ich möchte sowieso Peter Maffay sprechen.
Sag mal, fragt sie einen Kollegen, weißt du, wo Keb' Mo' ist? Wahrscheinlich im Salon, sagt er. Kommen Sie, flüstert sie, wir gehen hoch in den Salon. Im Salon gedämpfte Stimmung und kein Keb' Mo'. Aber Peter Maffay, gerade im Interview. Klappt ja wunderbar. Ich nehme Platz im Vorraum und warte, dass ich drankomme.
Die Blonde trollt sich. Ich verfolge zufrieden den Aufmarsch der Kollegen, die nach mir dran sein werden. Nach zehn Minuten kommt sie zurück, in heller Aufregung. Wild gestikuliert sie vom Treppenabsatz herüber. Kommen Sie! Kommen Sie! brüllt sie flüsternd, ich habe Keb' Mo'! Ich stehe auf, gehe einige Schritte auf sie zu, sage: Entschuldigung; aber sie läuft erregt die Treppe hinab, weiter wie von Sinnen winkend – klar, schließlich hat sie Keb' Mo'!
Zögernd gehe ich zum Absatz, bange um den Platz in der Schlange. Ich bin der nächste bei Maffay, flüstere ich hinunter, ich darf meinen Platz in der Schlange nicht aufgeben. Sie: Keb' Mo' ist hier unten, kommen Sie, ich setze mich solange auf Ihren Platz! Aber ich möchte Keb' Mo' nicht sprechen, barme ich, ich will nur Peter Maffay sprechen!
Sie bleibt stehen. Ihr Winken gefriert, sie erstarrt geradezu, Erkenntnis bahnt sich ihren Weg, wenngleich mühsam. Ja, drei Meter entfernt von mir ist jetzt alles schiere blonde Fassungslosigkeit. Aber vorhin, heult sie, wollten Sie doch noch Keb' Mo'! Nein, flüstere ich verzweifelt treppab, ich wollte Maffay, immer nur Maffay! Sie hebt die Arme, wirft sie durch die Luft und jault im Abdampfen diesen Satz, den ich nie mehr vergessen werde: Ich mache dieses Spielchen nicht mehr mit!
Immerhin ist mein Platz noch frei, ein Glück. Ich habe weitere zehn Minuten Zeit, über die Tücken menschlicher Kommunikation nachzudenken, ohne freilich zu letzten Schlüssen zu kommen. Ah, jetzt ist Maffay frei, er stellt sich an die Theke zu seinen Mitarbeitern für einen Sekt zwischen zwei Interviews. Ich stelle mich dazu, warte auf die Chance, ihn zum Gespräch zu bitten, ohne dem Freundeskreis unhöflich in die Parade zu fahren.
Plötzlich beugt sich sein Manager zu mir herüber und flüstert: Sagen Sie, woran ist eigentlich das Gespräch mit Keb' Mo' gescheitert … ?
Später, auf dem Weg zu Fuß nach Hause in die Seilerstraße, fühle ich mich echt schlecht. Keb' Mo' wahrscheinlich auch.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Space travel is boring“ von Sun Kil Moon, „San Francisco“ von Caterina Valente und „57th minute of the 23rd hour“ von Galliano.
Die abgebildete Spinne verwehrte uns heute mit einem voluminösen Netz beinah den Ausstieg aus dem U-Bahn-Fahrstuhl am Rödingsmarkt, den wir nach dem Fitnesstraining gern benutzen, um uns nicht ächzend die vielstufigen Treppen hinanschleppen zu müssen.
Die Strecke der U3 führt von dort aus über nur drei Stationen nach St. Pauli, doch es gibt in ganz Hamburg keine schönere Fahrt. Es geht an der Speicherstadt entlang, dann ragt stolz die Kehrwiederspitze gen Himmel, auf der anderen Elbseite sehen wir das kühn geschwungee Musicalhaus für den „König der Löwen“, wir passieren zwei Prunkschiffe, die dauerhaft hier vor Anker liegen, die schneeweiße Cap San Diego und den moosgrün leuchtenden Segler Rickmer Rickmers, ehe wir an den Landungsbrücken nach rechts abknicken und mit einem Bild des alten Elbtunnels auf der Retina in die U-Bahnröhre eintauchen, die hochführt zur Reeperbahn.
Apropos Cap San Diego: Dort verbrachte ich mal einen denkwürdigen Abend, den ich ob seiner Denkwürdigkeit bereits einmal bei den höflichen Paparazzi geschildert habe. Doch leider fiel er einem gewaltigen Servercrash zum Opfer, wovon sich die verdienstvolle Website noch immer nicht recht erholt hat. Deshalb gibt es die Story jetzt exklusiv in diesem Blog:
Es herrscht Trubel auf dem Museumsschiff Cap San Diego im Hamburger Hafen. Peter Maffay präsentiert sein neues Album, eingespielt mit Menschen aus aller Welt, darunter der US-amerikanische Blues-Musiker Keb' Mo'. Vom Management habe ich telefonisch die lose Zusage, mit Maffay ein Interview führen zu können, alleine, „so irgendwann ab 22 Uhr“. Nun, nach Präsentation und Buffet, gilt es, im Tohuwabohu den richtigen Menschen zu erwischen, der mit mir Maffay findet.
Irgendwann finde ich eine hochblonde Mitarbeiterin seines Büros. Vielmehr: Sie findet mich. Ob ich noch einen Wunsch hätte, fragt sie. Ja, ich suche Peter Maffay. Der ist noch oben, sagt sie, und wird am Tisch von Keb' Mo' erwartet, kommen Sie, ich bringe Sie zum Tisch von Keb' Mo'. Wir gehen hoch, am Tisch kein Keb' Mo', kein Maffay. Warten Sie, sagt sie, ich hole Keb' Mo'. Entschuldigung, nicht nötig, sage ich, ich möchte sowieso Peter Maffay sprechen.
Sag mal, fragt sie einen Kollegen, weißt du, wo Keb' Mo' ist? Wahrscheinlich im Salon, sagt er. Kommen Sie, flüstert sie, wir gehen hoch in den Salon. Im Salon gedämpfte Stimmung und kein Keb' Mo'. Aber Peter Maffay, gerade im Interview. Klappt ja wunderbar. Ich nehme Platz im Vorraum und warte, dass ich drankomme.
Die Blonde trollt sich. Ich verfolge zufrieden den Aufmarsch der Kollegen, die nach mir dran sein werden. Nach zehn Minuten kommt sie zurück, in heller Aufregung. Wild gestikuliert sie vom Treppenabsatz herüber. Kommen Sie! Kommen Sie! brüllt sie flüsternd, ich habe Keb' Mo'! Ich stehe auf, gehe einige Schritte auf sie zu, sage: Entschuldigung; aber sie läuft erregt die Treppe hinab, weiter wie von Sinnen winkend – klar, schließlich hat sie Keb' Mo'!
Zögernd gehe ich zum Absatz, bange um den Platz in der Schlange. Ich bin der nächste bei Maffay, flüstere ich hinunter, ich darf meinen Platz in der Schlange nicht aufgeben. Sie: Keb' Mo' ist hier unten, kommen Sie, ich setze mich solange auf Ihren Platz! Aber ich möchte Keb' Mo' nicht sprechen, barme ich, ich will nur Peter Maffay sprechen!
Sie bleibt stehen. Ihr Winken gefriert, sie erstarrt geradezu, Erkenntnis bahnt sich ihren Weg, wenngleich mühsam. Ja, drei Meter entfernt von mir ist jetzt alles schiere blonde Fassungslosigkeit. Aber vorhin, heult sie, wollten Sie doch noch Keb' Mo'! Nein, flüstere ich verzweifelt treppab, ich wollte Maffay, immer nur Maffay! Sie hebt die Arme, wirft sie durch die Luft und jault im Abdampfen diesen Satz, den ich nie mehr vergessen werde: Ich mache dieses Spielchen nicht mehr mit!
Immerhin ist mein Platz noch frei, ein Glück. Ich habe weitere zehn Minuten Zeit, über die Tücken menschlicher Kommunikation nachzudenken, ohne freilich zu letzten Schlüssen zu kommen. Ah, jetzt ist Maffay frei, er stellt sich an die Theke zu seinen Mitarbeitern für einen Sekt zwischen zwei Interviews. Ich stelle mich dazu, warte auf die Chance, ihn zum Gespräch zu bitten, ohne dem Freundeskreis unhöflich in die Parade zu fahren.
Plötzlich beugt sich sein Manager zu mir herüber und flüstert: Sagen Sie, woran ist eigentlich das Gespräch mit Keb' Mo' gescheitert … ?
Später, auf dem Weg zu Fuß nach Hause in die Seilerstraße, fühle ich mich echt schlecht. Keb' Mo' wahrscheinlich auch.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Space travel is boring“ von Sun Kil Moon, „San Francisco“ von Caterina Valente und „57th minute of the 23rd hour“ von Galliano.
29 Oktober 2005
Der Zwischenfall
Gestern in der Redaktion sitze ich bei offenem Fenster im T-Shirt am Rechner und lasse mir von meinem nagelneuen USB-Ventilator Kühlung zublasen. Ich meine: Es ist fast November! Das geht doch nicht. Alles gerät aus den Fugen.
Auch abends. Wir sind bei Freunden zum Essen, in Bahrenfeld. Die S-Bahnlinie 1 verbindet die Station Reeperbahn mit diesem westlichen Stadtteil. Abends fahren die Züge nicht mehr so oft. Als wir gegen 23.15 Uhr den Bahnsteig betreten, müssen wir uns auf 15 Minuten Wartezeit in klarer Oktoberkälte einstellen.
Dass es am Ende fast 45 werden, liegt nicht an der Bahn. Sondern an einem besoffenen 18-Jährigen, der beschließt, auf die Gleise hinabzusteigen und über die Schwellen ins Dunkel hinauszustolpern. Wir kriegen es nicht live mit, sondern nur das, was dann passiert: nämlich die Reaktion seines nüchternen Kumpels, der hinterherspringt und nach einer Weile erfolglos und panisch zurückkehrt (Ankunft der Bahn: in 12 Minuten), den Notrufknopf drückt und adrenalingepeitscht mit einer reservierten Dame am anderen Ende verhandelt, während wir ihm soufflieren, wie die Richtung heißt, in die der Unzurechnungsfähige entschwunden ist. Ein weiterer wartender Fahrgast ruft derweil die Polizei. Ankunft der Bahn: in acht Minuten.
Der just eingefahrene Zug auf dem Gegengleis bleibt vorsorglich stehen, man weiß ja nicht, wo der verschwundene Verwirrte hintaumelt. Bald herrscht richtig Betrieb auf dem Bahnsteig. Ratlos stehen Menschen herum, verärgert, besorgt. Der panische Kumpel will nicht auf die Einsatzkräfte warten und springt erneut auf die Gleise, um seinen Freund zu retten. Und wirklich: Zwei Minuten später hat er ihn am Schlafittchen und schleppt ihn hoch. „Alles deine Schuld!“ schreit er ihn an, „deine Mutter wird dich verprügeln!“
Und jetzt kommen sie alle binnen weniger Minuten an, die Blau- und die Grünhemden, die Streifenpolizisten und die Kripo, die S-Bahn-Exekutive, und alle umringen die Jungs, es wird unübersichtlich. Längst ruht der komplette Fahrbetrieb, auf der Anzeige steht gar keine Zeitangabe mehr. Ankunft der Bahn: irgendwann.
Der Verursacher steht stumpf und schwankend da, die Fäuste tief in die Taschen gestemmt, und ihm dämmert, dass er ein Problem hat. Was er da unten gewollt habe, im Dunkeln auf den Gleisen? Er weiß es nicht mehr. Er wollte einfach weg. Seine Ruhe haben. Er ist 18, wohnt alleine, und Mama sitzt in Harburg. Ob sie ihn abholen kann? „Sie kriegt Sozialhilfe“, murmelt er verwaschen, und für ihn scheint das die Antwort auf die Frage zu sein.
Die Polizei befragt Zeugen, es geht darum, wer alles Schuld hat an diesem Schlamassel. Darum, ob der kleine Retter mitbelangt werden muss oder seine Aktion legitim war – das wird noch richtig wichtig, denn es geht um viel Geld. Die Einsätze der Rettungskräfte wollen bezahlt sein, das komplette Lahmliegen der S1 zwischen Wedel und Poppenbüttel verursacht ebenfalls finanzielle Schäden.
„Deine Mutter“, ruft der Kleine wieder voller Zorn und Resignation, „wird dich verprügeln!“ Er sitzt jetzt zerschlagen auf der Drahtbank. Der Gerettete bittet ihn stumm um eine Kippe, und er reicht sie ihm mit müder Geste. Neben ihnen sitzt ein weiterer Freund wie tot auf der Bank, sein Kopf hängt zwischen den Knien, er ist derartig voll, dass man ihm morgen alles über diese Scheißnacht erzählen muss. Sofern er dann schon wieder aufnahmefähig ist.
Ah, seliges Teenagerleben.
Auf unserer Heimfahrt – nach rund 45 Minuten – sah es dann übrigens draußen ungefähr so aus wie auf dem heutigen Foto.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Rockin' chair“, „It makes no difference“ und „Tears of rage“, alle von The Band (die monothematische Auswahl liegt an einem Band-Sampler, den ich mir gestern Nacht zusammenstellte).
Auch abends. Wir sind bei Freunden zum Essen, in Bahrenfeld. Die S-Bahnlinie 1 verbindet die Station Reeperbahn mit diesem westlichen Stadtteil. Abends fahren die Züge nicht mehr so oft. Als wir gegen 23.15 Uhr den Bahnsteig betreten, müssen wir uns auf 15 Minuten Wartezeit in klarer Oktoberkälte einstellen.
Dass es am Ende fast 45 werden, liegt nicht an der Bahn. Sondern an einem besoffenen 18-Jährigen, der beschließt, auf die Gleise hinabzusteigen und über die Schwellen ins Dunkel hinauszustolpern. Wir kriegen es nicht live mit, sondern nur das, was dann passiert: nämlich die Reaktion seines nüchternen Kumpels, der hinterherspringt und nach einer Weile erfolglos und panisch zurückkehrt (Ankunft der Bahn: in 12 Minuten), den Notrufknopf drückt und adrenalingepeitscht mit einer reservierten Dame am anderen Ende verhandelt, während wir ihm soufflieren, wie die Richtung heißt, in die der Unzurechnungsfähige entschwunden ist. Ein weiterer wartender Fahrgast ruft derweil die Polizei. Ankunft der Bahn: in acht Minuten.
Der just eingefahrene Zug auf dem Gegengleis bleibt vorsorglich stehen, man weiß ja nicht, wo der verschwundene Verwirrte hintaumelt. Bald herrscht richtig Betrieb auf dem Bahnsteig. Ratlos stehen Menschen herum, verärgert, besorgt. Der panische Kumpel will nicht auf die Einsatzkräfte warten und springt erneut auf die Gleise, um seinen Freund zu retten. Und wirklich: Zwei Minuten später hat er ihn am Schlafittchen und schleppt ihn hoch. „Alles deine Schuld!“ schreit er ihn an, „deine Mutter wird dich verprügeln!“
Und jetzt kommen sie alle binnen weniger Minuten an, die Blau- und die Grünhemden, die Streifenpolizisten und die Kripo, die S-Bahn-Exekutive, und alle umringen die Jungs, es wird unübersichtlich. Längst ruht der komplette Fahrbetrieb, auf der Anzeige steht gar keine Zeitangabe mehr. Ankunft der Bahn: irgendwann.
Der Verursacher steht stumpf und schwankend da, die Fäuste tief in die Taschen gestemmt, und ihm dämmert, dass er ein Problem hat. Was er da unten gewollt habe, im Dunkeln auf den Gleisen? Er weiß es nicht mehr. Er wollte einfach weg. Seine Ruhe haben. Er ist 18, wohnt alleine, und Mama sitzt in Harburg. Ob sie ihn abholen kann? „Sie kriegt Sozialhilfe“, murmelt er verwaschen, und für ihn scheint das die Antwort auf die Frage zu sein.
Die Polizei befragt Zeugen, es geht darum, wer alles Schuld hat an diesem Schlamassel. Darum, ob der kleine Retter mitbelangt werden muss oder seine Aktion legitim war – das wird noch richtig wichtig, denn es geht um viel Geld. Die Einsätze der Rettungskräfte wollen bezahlt sein, das komplette Lahmliegen der S1 zwischen Wedel und Poppenbüttel verursacht ebenfalls finanzielle Schäden.
„Deine Mutter“, ruft der Kleine wieder voller Zorn und Resignation, „wird dich verprügeln!“ Er sitzt jetzt zerschlagen auf der Drahtbank. Der Gerettete bittet ihn stumm um eine Kippe, und er reicht sie ihm mit müder Geste. Neben ihnen sitzt ein weiterer Freund wie tot auf der Bank, sein Kopf hängt zwischen den Knien, er ist derartig voll, dass man ihm morgen alles über diese Scheißnacht erzählen muss. Sofern er dann schon wieder aufnahmefähig ist.
Ah, seliges Teenagerleben.
Auf unserer Heimfahrt – nach rund 45 Minuten – sah es dann übrigens draußen ungefähr so aus wie auf dem heutigen Foto.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Rockin' chair“, „It makes no difference“ und „Tears of rage“, alle von The Band (die monothematische Auswahl liegt an einem Band-Sampler, den ich mir gestern Nacht zusammenstellte).
28 Oktober 2005
Die Fahrradwerkstatt
Neulich gab ich mein sehr sympathisches und im Wesentlichen treues Fahrrad in Reparatur, weil der Hinterreifen platt, die Vorderlampe abgebrochen und das Rücklicht defekt war. Im Ottenser Fahrradladen beäugt man die Schäden und nimmt ohne Murren die Mängelliste auf.
Am Abholtag gehe ich wohlgemut hin, doch dieses Gefühl verfliegt rasch. Denn der Chef des Ladens sagt: „Das Rücklicht ist ja jetzt neu, aber das fällt Ihnen bestimmt bald wieder ab.“ Ah so, wundere ich mich, warum denn das? „Weil das Schutzblech an zwei Stellen gebrochen ist und nur noch von einem kleinen Steg gehalten wird.“ Aha, sage ich, und warum haben Sie das nicht gleich mal eben mitrepariert? „Weil wir dafür keinen Auftrag hatten. Wir dachten, Sie wüssten das, und es wäre Ihnen egal.“
Ah so, sage ich, jetzt neugierig geworden, und warum haben Sie mich nicht vor fünf Tagen, als ich das Fahrrad abgegeben habe, einfach mal drauf aufmerksam gemacht und sich erkundigt, ob Sie nicht vielleicht die Ehre haben dürften, auch diese Kleinigkeit gleich mitzuerledigen? „Das haben wir erst in der Werkstatt gesehen.“ Na gut, mag sein, wende ich ein, aber Sie hätten mich doch anrufen können und nachfragen – nur so als Anregung. „Wir dachten eben“, sagt der Fachmann, „Sie wüssten das, und es wäre Ihnen egal.“
Diese Stelle im Kreis der Diskussion kenne ich bereits. Doch dieses Musterbeispiel deutschen Unternehmertums hat noch einen Nachsatz im Köcher: „Außerdem“, sagt er nämlich, „ist das doch eh nur ein Fahrrad, um von A nach B zu kommen.“
„Eh nur ein Fahrrad, um von A nach B zu kommen.“ Meine Güte: Wofür ist dieses Ding mit den zwei Rädern und dem Lenker denn sonst da – zum Staubsaugen? Wahrscheinlich möchte der Mann ausschließlich HiTech-Maschinen mit Titanrahmen, beheiztem Sattel und serienmäßigem GPS an den Mann bringen, für 3000 Euro das Stück. Aber, guter Mann, auch ein solches Gerät kann nicht staubsaugen. Es bringt dich einfach nur von A nach B.
Nach der ersten Sprachlosigkeit muss ich mich nun mit dem unschönen Gedanken anfreunden, dass die gepeinigten Leute vom Fahrradladen offenbar bereits dreimal mein Erscheinen mit entsetztem innerlichem Aufstöhnen begleitet haben: Oh nein, da ist er wieder, dieser Typ mit seinem Fahrrad für von A nach B! Mist, er hat uns gesehen, wir können nicht mehr tun, als hätten wir schon zu …
Insofern muss ich Ihnen geradezu dankbar sein für ihr Übermaß an Höflichkeit, mir erst beim drittenmal dezente Hinweise auf meine Unerwünschtheit gegeben zu haben. Da ich jedoch ebenfalls ein höflicher Mensch bin, respektiere ich das hinfort natürlich.
Das heutige Foto zeigt mein sehr sympathisches, im Wesentlichen treues Rad an der S-Bahn-Station Sternschanze in Gegenwart eines Eisenträgers, der das Stationsdach stützt. Das Hinterrad habe ich übrigens doch noch vom Fahrradladen wechseln lassen; für einen sofortigen Vereinswechsel war ich einfach zu faul.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Walk on the wild side“ von Tok Tok Tok, „He was the king“ von Neil Young und „Play an old guitar“ von The Band Of Blacky Ranchette.
Am Abholtag gehe ich wohlgemut hin, doch dieses Gefühl verfliegt rasch. Denn der Chef des Ladens sagt: „Das Rücklicht ist ja jetzt neu, aber das fällt Ihnen bestimmt bald wieder ab.“ Ah so, wundere ich mich, warum denn das? „Weil das Schutzblech an zwei Stellen gebrochen ist und nur noch von einem kleinen Steg gehalten wird.“ Aha, sage ich, und warum haben Sie das nicht gleich mal eben mitrepariert? „Weil wir dafür keinen Auftrag hatten. Wir dachten, Sie wüssten das, und es wäre Ihnen egal.“
Ah so, sage ich, jetzt neugierig geworden, und warum haben Sie mich nicht vor fünf Tagen, als ich das Fahrrad abgegeben habe, einfach mal drauf aufmerksam gemacht und sich erkundigt, ob Sie nicht vielleicht die Ehre haben dürften, auch diese Kleinigkeit gleich mitzuerledigen? „Das haben wir erst in der Werkstatt gesehen.“ Na gut, mag sein, wende ich ein, aber Sie hätten mich doch anrufen können und nachfragen – nur so als Anregung. „Wir dachten eben“, sagt der Fachmann, „Sie wüssten das, und es wäre Ihnen egal.“
Diese Stelle im Kreis der Diskussion kenne ich bereits. Doch dieses Musterbeispiel deutschen Unternehmertums hat noch einen Nachsatz im Köcher: „Außerdem“, sagt er nämlich, „ist das doch eh nur ein Fahrrad, um von A nach B zu kommen.“
„Eh nur ein Fahrrad, um von A nach B zu kommen.“ Meine Güte: Wofür ist dieses Ding mit den zwei Rädern und dem Lenker denn sonst da – zum Staubsaugen? Wahrscheinlich möchte der Mann ausschließlich HiTech-Maschinen mit Titanrahmen, beheiztem Sattel und serienmäßigem GPS an den Mann bringen, für 3000 Euro das Stück. Aber, guter Mann, auch ein solches Gerät kann nicht staubsaugen. Es bringt dich einfach nur von A nach B.
Nach der ersten Sprachlosigkeit muss ich mich nun mit dem unschönen Gedanken anfreunden, dass die gepeinigten Leute vom Fahrradladen offenbar bereits dreimal mein Erscheinen mit entsetztem innerlichem Aufstöhnen begleitet haben: Oh nein, da ist er wieder, dieser Typ mit seinem Fahrrad für von A nach B! Mist, er hat uns gesehen, wir können nicht mehr tun, als hätten wir schon zu …
Insofern muss ich Ihnen geradezu dankbar sein für ihr Übermaß an Höflichkeit, mir erst beim drittenmal dezente Hinweise auf meine Unerwünschtheit gegeben zu haben. Da ich jedoch ebenfalls ein höflicher Mensch bin, respektiere ich das hinfort natürlich.
Das heutige Foto zeigt mein sehr sympathisches, im Wesentlichen treues Rad an der S-Bahn-Station Sternschanze in Gegenwart eines Eisenträgers, der das Stationsdach stützt. Das Hinterrad habe ich übrigens doch noch vom Fahrradladen wechseln lassen; für einen sofortigen Vereinswechsel war ich einfach zu faul.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Walk on the wild side“ von Tok Tok Tok, „He was the king“ von Neil Young und „Play an old guitar“ von The Band Of Blacky Ranchette.
Das Knust
Schon wieder ein Konzert: Teenage Fan Club im Knust. Suse vom Hamburger Lokalfernsehen Tide TV spendiert mir und Volker je einmal Garderobe; das ist uns auch noch nicht passiert. Dafür spendiere ich eine Runde Bier, und Volker auch.
Vor einigen Jahren war das Knust noch an der Brandstwiete zu Hause. Der berühmten Brandstwiete. Denn wenn man draußen vor der Tür stand, sah (und sieht) man die prachtvolle Wucht des Spiegel-Gebäudes, steingewordene Investigation, Lordsiegelbewahrer der Demokratie, Fluch und Schrecken korrupter Regierungen.
Dort, im alten Knust, erlebte ich eins meiner größten Hamburger Desaster. Ich hatte eine Gästelistenzusage fürs Konzert von Townes van Zandt, heiliger Suffkopp der Songwriter, tragischster aller Tragöden, fleischgewordener Galgenhumor. Townes war unglaublich sanftmütig, trug aber einen Schmerz mit sich herum, den man kaum ertragen konnte. Er am allerwenigsten, und deshalb trank er und trank und trank. Es war klar, dass der Mann weniger Chancen auf ein langes Leben haben würde als der Rest von uns.
Ich hatte also eine Gästelistenzusage fürs Townes-Konzert im Knust, es sollte mein drittes werden. Beim ersten hatte ich mich in der Pause schüchtern und keck in seine Garderobe geschlichen, das war in Marburg vor Äonen, ich hatte all meine Townes-Platten unterm Arm und einen wasserfesten schwarzen Edding dabei, und er lächelte auf diese dumpfe, selbstvergessene Weise, wie Betrunkene es tun, nahm den Edding und krakelte mir auf jede Platte einen Kaktus, der einsam an einem endlos sich schlängelnden Wüsten-Highway steht. Schätze meines Archivs!
Im Knust also Konzert Nummer drei. Ich stehe erwartungsfroh an der Kasse, doch man findet mich trotz vorheriger telefonischer Zusage nicht auf der Gästeliste. Ich bin konsterniert, argumentiere, diskutiere, man bleibt unnachgiebig, ich werde sauer, gar störrisch, der Kassenwart genauso, keiner will mehr sein Gesicht verlieren, und ich ziehe schließlich ab, kochend.
Townes spielt sein Konzert im Knust ohne mich. Sechs Wochen später ist er tot.
Im Monat darauf war ich der unglücklichste von rund 50 Fans, die sich im Knust versammelt hatten, um noch einen auf ihn zu trinken (ein sarkastisches Ritual, ich weiß), und man legte den Videomitschnitt jenes Abends auf, den ich verschenkt hatte aus Arroganz und kleinlicher Eitelkeit. „Nobody’s fault but mine“, singt David Bromberg. Er hat Recht.
Das ist lange her, aber unvergessen. Eine Wunde, die sich nicht schließen will, und die auch heute Abend wieder schmerzte – einfach, weil ich im Knust war, auch wenn es inzwischen umgezogen ist nach St. Pauli und im Foyer besänftigende weiße Leuchtkugeln von der Decke hängen. Weiße Leuchtkugeln sind meine Lieblingslampen, mit Abstand.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Out of the blue“ von The Band, „Chelsea burns“ von Keren Ann und „Sleeping is the only love“ von The Silver Jews.
Vor einigen Jahren war das Knust noch an der Brandstwiete zu Hause. Der berühmten Brandstwiete. Denn wenn man draußen vor der Tür stand, sah (und sieht) man die prachtvolle Wucht des Spiegel-Gebäudes, steingewordene Investigation, Lordsiegelbewahrer der Demokratie, Fluch und Schrecken korrupter Regierungen.
Dort, im alten Knust, erlebte ich eins meiner größten Hamburger Desaster. Ich hatte eine Gästelistenzusage fürs Konzert von Townes van Zandt, heiliger Suffkopp der Songwriter, tragischster aller Tragöden, fleischgewordener Galgenhumor. Townes war unglaublich sanftmütig, trug aber einen Schmerz mit sich herum, den man kaum ertragen konnte. Er am allerwenigsten, und deshalb trank er und trank und trank. Es war klar, dass der Mann weniger Chancen auf ein langes Leben haben würde als der Rest von uns.
Ich hatte also eine Gästelistenzusage fürs Townes-Konzert im Knust, es sollte mein drittes werden. Beim ersten hatte ich mich in der Pause schüchtern und keck in seine Garderobe geschlichen, das war in Marburg vor Äonen, ich hatte all meine Townes-Platten unterm Arm und einen wasserfesten schwarzen Edding dabei, und er lächelte auf diese dumpfe, selbstvergessene Weise, wie Betrunkene es tun, nahm den Edding und krakelte mir auf jede Platte einen Kaktus, der einsam an einem endlos sich schlängelnden Wüsten-Highway steht. Schätze meines Archivs!
Im Knust also Konzert Nummer drei. Ich stehe erwartungsfroh an der Kasse, doch man findet mich trotz vorheriger telefonischer Zusage nicht auf der Gästeliste. Ich bin konsterniert, argumentiere, diskutiere, man bleibt unnachgiebig, ich werde sauer, gar störrisch, der Kassenwart genauso, keiner will mehr sein Gesicht verlieren, und ich ziehe schließlich ab, kochend.
Townes spielt sein Konzert im Knust ohne mich. Sechs Wochen später ist er tot.
Im Monat darauf war ich der unglücklichste von rund 50 Fans, die sich im Knust versammelt hatten, um noch einen auf ihn zu trinken (ein sarkastisches Ritual, ich weiß), und man legte den Videomitschnitt jenes Abends auf, den ich verschenkt hatte aus Arroganz und kleinlicher Eitelkeit. „Nobody’s fault but mine“, singt David Bromberg. Er hat Recht.
Das ist lange her, aber unvergessen. Eine Wunde, die sich nicht schließen will, und die auch heute Abend wieder schmerzte – einfach, weil ich im Knust war, auch wenn es inzwischen umgezogen ist nach St. Pauli und im Foyer besänftigende weiße Leuchtkugeln von der Decke hängen. Weiße Leuchtkugeln sind meine Lieblingslampen, mit Abstand.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Out of the blue“ von The Band, „Chelsea burns“ von Keren Ann und „Sleeping is the only love“ von The Silver Jews.
26 Oktober 2005
Die Tanke
Gestern erwähnte ich Christians Begegnung der Dritten Art mit Bob Dylan an einer österreichischen Tankstelle. Heute erzählt er die ganze Geschichte in seinem eigenen Blog. Lohnt sich.
Komme heute nach Arbeitstag und Fitnesstraining erst gegen 21 Uhr in ein verwaistes Zuhause, denn die Liebste ist auf Achse. Und immer an einsamen Abenden packt mich der Heißhunger auf das Besondere – sei es, um mich über ihre Abwesenheit hinwegzutrösten, sei es, weil ich mir dann in aller Ruhe etwas zubereiten kann, das sie nicht mag.
Zum Beispiel gebratene luftgetrocknete Salami mit gedünsteten Tomaten und überbackenem Spiegelei, was am Ende komplett auf ein doppelt getoastetes Sauerteigbrot gelegt wird, das mit dünnen, durch die Wärme des Brotes leicht angeschmolzenen Parmesanscheiben belegt ist. Dazu ein Astra Urtyp – das ist kulinarisches Glück. Deftig, aber unübertrefflich.
So ist's geplant, und die Butter brodelt auch schon in der Pfanne, als ich die Kühlschranktür öffne und nur sehr wenige Eier erblickte. Genauer gesagt: null. Auf St. Pauli ist das aber kein Problem. Während der Rest der Republik nach 20 Uhr nur noch zum Nachbarn gehen kann, um Lebensmittelmängel zu beheben, habe ich die Wahl zwischen mindestens vier Läden, die sich an keine Öffnungszeiten halten müssen. Einer davon hat meines Wissens sogar rund um die Uhr auf (sicher kann ich es nur deswegen nicht sagen, weil ich ihn morgens um vier noch nie aufgesucht habe).
Ich entscheide mich für die geografisch nächste Möglichkeit: die Tankstelle am Spielbudenplatz, die trotz eines augenscheinlich begrenzten Verkaufsraums ALLES zu haben scheint, natürlich auch Eier. Diese Tanke rettet meinen Abend, nicht zum erstenmal. Und auf dem Rückweg ragt das Steakhaus an der Reeperbahn derart attraktiv in die Nacht, dass es hier glatt fotografisch verewigt werden muss.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „25 minutes to go“ von Johnny Cash, „La la la I love you“ von Don McLean und „Sing“ von Travis.
Komme heute nach Arbeitstag und Fitnesstraining erst gegen 21 Uhr in ein verwaistes Zuhause, denn die Liebste ist auf Achse. Und immer an einsamen Abenden packt mich der Heißhunger auf das Besondere – sei es, um mich über ihre Abwesenheit hinwegzutrösten, sei es, weil ich mir dann in aller Ruhe etwas zubereiten kann, das sie nicht mag.
Zum Beispiel gebratene luftgetrocknete Salami mit gedünsteten Tomaten und überbackenem Spiegelei, was am Ende komplett auf ein doppelt getoastetes Sauerteigbrot gelegt wird, das mit dünnen, durch die Wärme des Brotes leicht angeschmolzenen Parmesanscheiben belegt ist. Dazu ein Astra Urtyp – das ist kulinarisches Glück. Deftig, aber unübertrefflich.
So ist's geplant, und die Butter brodelt auch schon in der Pfanne, als ich die Kühlschranktür öffne und nur sehr wenige Eier erblickte. Genauer gesagt: null. Auf St. Pauli ist das aber kein Problem. Während der Rest der Republik nach 20 Uhr nur noch zum Nachbarn gehen kann, um Lebensmittelmängel zu beheben, habe ich die Wahl zwischen mindestens vier Läden, die sich an keine Öffnungszeiten halten müssen. Einer davon hat meines Wissens sogar rund um die Uhr auf (sicher kann ich es nur deswegen nicht sagen, weil ich ihn morgens um vier noch nie aufgesucht habe).
Ich entscheide mich für die geografisch nächste Möglichkeit: die Tankstelle am Spielbudenplatz, die trotz eines augenscheinlich begrenzten Verkaufsraums ALLES zu haben scheint, natürlich auch Eier. Diese Tanke rettet meinen Abend, nicht zum erstenmal. Und auf dem Rückweg ragt das Steakhaus an der Reeperbahn derart attraktiv in die Nacht, dass es hier glatt fotografisch verewigt werden muss.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „25 minutes to go“ von Johnny Cash, „La la la I love you“ von Don McLean und „Sing“ von Travis.
25 Oktober 2005
Dylan (2)
Gestern nachmittag ging ich ins Büro von Kramer und dem Franken und sagte: „Liebe Kollegen, ich möchte euch darum bitten, mal für einen Moment innezuhalten. Lasset uns innehalten und der Tatsache gedenken, dass eins der größten Genies, das je unter der Sonne wandelte, sich just in dieser Sekunde ganz in der Nähe von uns aufhält und wir die unverdiente Ehre haben, diese Stadt mit ihm zu teilen.“
Die Kollegen schauten irritiert, einer zieh mich sogar eines pastoralen Tons. Doch die beiden hatten ja auch keine Karten für das abendliche Konzert von Bob Dylan. Aber ich. Auf dem Weg durchs hässliche CCH begegnete ich kurz dem Blick von Bap-Chef Wolfgang Niedecken und war recht froh, dass er nicht wusste, mit welchen Worten ich vor einiger Zeit seine Hörbuchfassung von Dylans Memoiren auseinandergenommen hatte.
Ich saß im Hochparkett (alle saßen, leider), und dennoch bekam ich die volle Ladung jener Auradusche ab, die Dylan stets aufdreht, wenn er einen Saal betritt. Näher als bei einem Dylan-Konzert kann man der Geschichte der Populärkultur nämlich nicht sein. Er spielt sein „All along the watchtower“, und diese mythosbildende Maschine namens Gehirn lässt die ganze Historie des Rock innerlich abschnurren und sagt dir, dass Jimi Hendrix ohne diesen Song um ein paar Nummern kleiner ins kollektive Menschheitsgedächtnis eingesunken wäre. Hendrix!
Und genau jener Typ, der dafür verantwortlich ist, steht in nur wenigen Metern Entfernung vor dir, ganz in schwarz und mit einem hellen Hut auf dem notorischen Wuschelkopf, er patscht auf dem Keyboard herum, raunzt „the wind began to howl“ und schickt dich unter die Auravolldusche. Und weil wir, wir alle, seine Songs okkupiert und sie in Folklore, Volksgut, Allgemeinbesitz verwandelt haben, holt er sie sich zurück, indem er sie verbiegt und zerkrächzt, indem er alle Melodien in eine fließen lässt, ob von „Simple twist of fate“ oder „Lay lady lay“, und so ihr Zombiedasein beendet und sie wieder zum Leben erweckt. Ja, er holt seine Kinder heim.
Dylan spielt keine verschiedenen Stücke mehr (obwohl seine Band die Harmonien heute abend sehr originalnah angeht und sie mit überraschendem Countryflair versieht), sondern er singt einen einzigen großen, großen Song. Am Ende steht er stumm da, wiegt sich vor und zurück, wischt sich kurz über die Nase mit unbewegter Miene und versucht es einen weiteren Tag auszuhalten, im Körper einer Legende gefangen zu sein, im Körper von BOB DYLAN.
Hinterher geht es in der Weltbühne weiter, wo Kollege Max Dax aus Berlin Dylan-Raritäten auflegt, und der aus dem Eintrag von gestern bekannte Zeiser vom Prinz erzählt, wie er mal Dylan auf Europatour hinterher reiste und dem Sänger an einer Tankstelle in der Nähe von Wien leibhaftig begegnete. Er stand zwischen den Zapfsäulen herum, trug eine Kapuze über dem Kopf und blickte in den Wagen, aus dem heraus ihn Zeiser & Co. anstarrten. Dann ging er weg.
Lasset uns innehalten.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Ringing bells“ von Mando Diao, „Valdez in the country“ von Donny Hathaway und „Sans Soleil“ von Kreidler.
Die Kollegen schauten irritiert, einer zieh mich sogar eines pastoralen Tons. Doch die beiden hatten ja auch keine Karten für das abendliche Konzert von Bob Dylan. Aber ich. Auf dem Weg durchs hässliche CCH begegnete ich kurz dem Blick von Bap-Chef Wolfgang Niedecken und war recht froh, dass er nicht wusste, mit welchen Worten ich vor einiger Zeit seine Hörbuchfassung von Dylans Memoiren auseinandergenommen hatte.
Ich saß im Hochparkett (alle saßen, leider), und dennoch bekam ich die volle Ladung jener Auradusche ab, die Dylan stets aufdreht, wenn er einen Saal betritt. Näher als bei einem Dylan-Konzert kann man der Geschichte der Populärkultur nämlich nicht sein. Er spielt sein „All along the watchtower“, und diese mythosbildende Maschine namens Gehirn lässt die ganze Historie des Rock innerlich abschnurren und sagt dir, dass Jimi Hendrix ohne diesen Song um ein paar Nummern kleiner ins kollektive Menschheitsgedächtnis eingesunken wäre. Hendrix!
Und genau jener Typ, der dafür verantwortlich ist, steht in nur wenigen Metern Entfernung vor dir, ganz in schwarz und mit einem hellen Hut auf dem notorischen Wuschelkopf, er patscht auf dem Keyboard herum, raunzt „the wind began to howl“ und schickt dich unter die Auravolldusche. Und weil wir, wir alle, seine Songs okkupiert und sie in Folklore, Volksgut, Allgemeinbesitz verwandelt haben, holt er sie sich zurück, indem er sie verbiegt und zerkrächzt, indem er alle Melodien in eine fließen lässt, ob von „Simple twist of fate“ oder „Lay lady lay“, und so ihr Zombiedasein beendet und sie wieder zum Leben erweckt. Ja, er holt seine Kinder heim.
Dylan spielt keine verschiedenen Stücke mehr (obwohl seine Band die Harmonien heute abend sehr originalnah angeht und sie mit überraschendem Countryflair versieht), sondern er singt einen einzigen großen, großen Song. Am Ende steht er stumm da, wiegt sich vor und zurück, wischt sich kurz über die Nase mit unbewegter Miene und versucht es einen weiteren Tag auszuhalten, im Körper einer Legende gefangen zu sein, im Körper von BOB DYLAN.
Hinterher geht es in der Weltbühne weiter, wo Kollege Max Dax aus Berlin Dylan-Raritäten auflegt, und der aus dem Eintrag von gestern bekannte Zeiser vom Prinz erzählt, wie er mal Dylan auf Europatour hinterher reiste und dem Sänger an einer Tankstelle in der Nähe von Wien leibhaftig begegnete. Er stand zwischen den Zapfsäulen herum, trug eine Kapuze über dem Kopf und blickte in den Wagen, aus dem heraus ihn Zeiser & Co. anstarrten. Dann ging er weg.
Lasset uns innehalten.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Ringing bells“ von Mando Diao, „Valdez in the country“ von Donny Hathaway und „Sans Soleil“ von Kreidler.
24 Oktober 2005
Die panische Sekunde
Häufig bin ich auch abends im Einsatz, entweder auf Konzerten (mit gewöhnlich halbdienstlichem Anstrich, weil die Kontaktpflege das gänzlich freie Flottieren durch den Abend ein wenig einschränkt) oder auf Releasepartys und immer öfter auf sogenannten Listening Sessions. Dabei wird mir und den Kollegen einige Zeit vor Veröffentlichung ein neues Album vorgespielt, das sich die Plattenfirma nicht zu bemustern traut.
Das hat seine Gründe. In den 70ern und 80ern, Alice Schwarzers großer Zeit, war jeder Mann ein potentieller Vergewaltiger. Heute ist jeder Musikjournalist ein potentieller Raubkopierer. Wir werden inzwischen behandelt wie flackernd blickende syrische Hassprediger am Flughafen, die mit seltsam ausgebeulter Taille nach New York fliegen möchten – und zwar ohne Rückflugticket.
Unlängst stand bei einer Listening Session das neue Album von Kate Bush auf dem Programm. Die Plattenfirma hatte das Restaurant Gardoza's an der Alsenstraße dafür gebucht. Nach einer Leibesvisitation und Konfiszierung aller strombetriebener Gegenstände wurde uns auch ohne weitere Auflagen Zutritt gewährt. Das Gardoza’s ist eine gute Wahl für eine komplexe Künstlerin wie Kate Bush. Einerseits strahlt es eine gewisse postmoderne Kühle aus, andererseits wird es von einem gewaltigen offenenen Kamin dominiert. Seine Flammen schlagen hoch in ein großes gläsernes Rohr, das in der Decke verschwindet.
In gemütlicher Runde saßen wir dort beisammen. Da war der Wigger von Spiegel online, der Krulle vom WOM-Journal - und der Zeiser vom Prinz. Der hatte seine journalistischen Utensilien vergessen (wahrscheinlich, weil er unterbewusst annahm, die Plattenfirma argwöhnte in seinem Stift ein verstecktes Aufnahmegerät). Also lieh ich ihm meinen Schreibblock, von dem er im Verlauf der Albumvorführung ein ums andere Blatt abriss, um sich rezensionsrelevante Gedanken zu notieren.
Am Ende sage ich zu ihm: „So, Christian, gibst du mir bitte die Blätter wieder? Die waren nur geliehen.“ Die Sekunde panischer Verblüffung vor seinem erleichterten Auflachen war sehr hübsch anzuschauen.
Als die CD durchgelaufen war, nahm der Mann von der Plattenfirma sie aus dem Player, schaute weihevoll und kündigte ihre sofortige Vernichtung an. Dann zerbrach er sie, achtete aber darauf, dass keine Bruchstücke zu Boden fielen. Uns troff der Geifer, aber wir hatten keine Chance aufs kleinste Silberfitzelchen Kate Bush. Wenigstens händigte man uns die Handys wieder aus.
Guter Abend.
PS: Die Anti-Raubkopierer-Kampagne ist inzwischen Gegenstand von Spott und Satire. Oben abgebildete parodistische Variante des Claims konnte man unlängst bei spreadshirt.net als T-Shirt kaufen.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „The strangest thing" von George Michael, „Solitary diving“ von Adrian Crowley und „Desafinado“ von Astrud Gilberto & George Michael.
Das hat seine Gründe. In den 70ern und 80ern, Alice Schwarzers großer Zeit, war jeder Mann ein potentieller Vergewaltiger. Heute ist jeder Musikjournalist ein potentieller Raubkopierer. Wir werden inzwischen behandelt wie flackernd blickende syrische Hassprediger am Flughafen, die mit seltsam ausgebeulter Taille nach New York fliegen möchten – und zwar ohne Rückflugticket.
Unlängst stand bei einer Listening Session das neue Album von Kate Bush auf dem Programm. Die Plattenfirma hatte das Restaurant Gardoza's an der Alsenstraße dafür gebucht. Nach einer Leibesvisitation und Konfiszierung aller strombetriebener Gegenstände wurde uns auch ohne weitere Auflagen Zutritt gewährt. Das Gardoza’s ist eine gute Wahl für eine komplexe Künstlerin wie Kate Bush. Einerseits strahlt es eine gewisse postmoderne Kühle aus, andererseits wird es von einem gewaltigen offenenen Kamin dominiert. Seine Flammen schlagen hoch in ein großes gläsernes Rohr, das in der Decke verschwindet.
In gemütlicher Runde saßen wir dort beisammen. Da war der Wigger von Spiegel online, der Krulle vom WOM-Journal - und der Zeiser vom Prinz. Der hatte seine journalistischen Utensilien vergessen (wahrscheinlich, weil er unterbewusst annahm, die Plattenfirma argwöhnte in seinem Stift ein verstecktes Aufnahmegerät). Also lieh ich ihm meinen Schreibblock, von dem er im Verlauf der Albumvorführung ein ums andere Blatt abriss, um sich rezensionsrelevante Gedanken zu notieren.
Am Ende sage ich zu ihm: „So, Christian, gibst du mir bitte die Blätter wieder? Die waren nur geliehen.“ Die Sekunde panischer Verblüffung vor seinem erleichterten Auflachen war sehr hübsch anzuschauen.
Als die CD durchgelaufen war, nahm der Mann von der Plattenfirma sie aus dem Player, schaute weihevoll und kündigte ihre sofortige Vernichtung an. Dann zerbrach er sie, achtete aber darauf, dass keine Bruchstücke zu Boden fielen. Uns troff der Geifer, aber wir hatten keine Chance aufs kleinste Silberfitzelchen Kate Bush. Wenigstens händigte man uns die Handys wieder aus.
Guter Abend.
PS: Die Anti-Raubkopierer-Kampagne ist inzwischen Gegenstand von Spott und Satire. Oben abgebildete parodistische Variante des Claims konnte man unlängst bei spreadshirt.net als T-Shirt kaufen.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „The strangest thing" von George Michael, „Solitary diving“ von Adrian Crowley und „Desafinado“ von Astrud Gilberto & George Michael.
23 Oktober 2005
Die Porno-DVD
Auf dem Weg zur Bäckerei stolpere ich über eine Porno-DVD, die in der Detlev-Bremer-Straße auf dem Gehweg liegt. Die Rückseite zeigt nach oben, und die Macher hatten mit routiniertem Blick einige sehr ausdrucksstarke Szenen ausgewählt, welche die Kaufentscheidung begünstigen sollten.
Jetzt aber liegt die Hülle hier im Schmutz des Sonntagmorgens, der nächtliche Regen hat für Feuchtigkeit zwischen Cover und Plastikhülle gesorgt, so dass leichte Verfärbungen und eine Wellung des Papiers zu sehen sind.
Ich bin unschlüssig, was ich damit anstellen soll. Reinschauen, um zu sehen, ob noch eine DVD drin ist? Ohne näheren Augenschein in die nächste Mülltonne stopfen? Immerhin könnten Kinder das Teil finden. Zwar sind Kiezkids sicher abgebrühter als ihre Altersgenossen in Castrop-Rauxel oder gar Hodenhagen, aber hierbei handelt es sich unbedingt um Hardcore.
Wie auch immer: Ich hebe das in jeder Hinsicht schmuddelige Teil nicht auf, sondern schubse es mit dem linken Fuß nur etwas näher an die Hauswand und gehe weiter. Unterwegs plagt mich allerdings schnell das Gewissen, und ich beschließe, die DVD auf dem Rückweg doch noch spitzfingrig aufzuheben und der geborgenen Anonymität eines Mülleimers zu übereignen.
Als ich wenig später wieder in die Detlev-Bremer-Straße einbiege, sehe ich 20, 30 Meter vor mir eine junge Familie, und sie ist unweigerlich auf Pornokurs. Die beiden um die Eltern herumtollenden Kinder sind vielleicht vier oder fünf Jahre alt, und mir wird klar, dass ihr Vorsprung zu groß ist, um ihren Weg noch moralisch säubern zu können.
Ich habe es versaut, ich hätte es auf dem Hinweg erledigen sollen … Angespannt gehe ich hinter ihnen her, die Kinder sprühen vor Energie und dem altersüblichen Willen zur umfassenden Welteroberung. Jetzt kommen sie an die Stelle, gleich wird eins der Kinder etwas vom Boden aufheben und sagen: „Papa, was hat denn der Mann da für einen Stock am Bauch? Tut er der Frau weh? Warum haben die denn nichts an?“ Es wird so kommen, und ich kann nichts mehr tun.
Doch die DVD, sie ist weg. Die Stelle an der Hauswand tut, als sei nichts gewesen. Fünf Minuten ohne Aufsicht haben gereicht. Jemand hat sie mitgenommen, vielleicht einer, der sie kopfschüttelnd in die Tonne drosch, vielleicht einer, der sich einen schönen entspannenden Sonntagnachmittag damit macht.
Oder vielleicht ein Kind.
Eine Schrift auf dem Pflaster in unmittelbarer Nähe scheint sich spöttisch an mich zu wenden: „Es wird wieder“. Die Lehre daraus: Denk nicht nur das Richtige, sondern tu's auch. Und zwar sofort.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „City of dreams“ von Marah, „Silver bullets“ von Ryan Adams und „Just one star“ von Antony & The Johnsons.
Jetzt aber liegt die Hülle hier im Schmutz des Sonntagmorgens, der nächtliche Regen hat für Feuchtigkeit zwischen Cover und Plastikhülle gesorgt, so dass leichte Verfärbungen und eine Wellung des Papiers zu sehen sind.
Ich bin unschlüssig, was ich damit anstellen soll. Reinschauen, um zu sehen, ob noch eine DVD drin ist? Ohne näheren Augenschein in die nächste Mülltonne stopfen? Immerhin könnten Kinder das Teil finden. Zwar sind Kiezkids sicher abgebrühter als ihre Altersgenossen in Castrop-Rauxel oder gar Hodenhagen, aber hierbei handelt es sich unbedingt um Hardcore.
Wie auch immer: Ich hebe das in jeder Hinsicht schmuddelige Teil nicht auf, sondern schubse es mit dem linken Fuß nur etwas näher an die Hauswand und gehe weiter. Unterwegs plagt mich allerdings schnell das Gewissen, und ich beschließe, die DVD auf dem Rückweg doch noch spitzfingrig aufzuheben und der geborgenen Anonymität eines Mülleimers zu übereignen.
Als ich wenig später wieder in die Detlev-Bremer-Straße einbiege, sehe ich 20, 30 Meter vor mir eine junge Familie, und sie ist unweigerlich auf Pornokurs. Die beiden um die Eltern herumtollenden Kinder sind vielleicht vier oder fünf Jahre alt, und mir wird klar, dass ihr Vorsprung zu groß ist, um ihren Weg noch moralisch säubern zu können.
Ich habe es versaut, ich hätte es auf dem Hinweg erledigen sollen … Angespannt gehe ich hinter ihnen her, die Kinder sprühen vor Energie und dem altersüblichen Willen zur umfassenden Welteroberung. Jetzt kommen sie an die Stelle, gleich wird eins der Kinder etwas vom Boden aufheben und sagen: „Papa, was hat denn der Mann da für einen Stock am Bauch? Tut er der Frau weh? Warum haben die denn nichts an?“ Es wird so kommen, und ich kann nichts mehr tun.
Doch die DVD, sie ist weg. Die Stelle an der Hauswand tut, als sei nichts gewesen. Fünf Minuten ohne Aufsicht haben gereicht. Jemand hat sie mitgenommen, vielleicht einer, der sie kopfschüttelnd in die Tonne drosch, vielleicht einer, der sich einen schönen entspannenden Sonntagnachmittag damit macht.
Oder vielleicht ein Kind.
Eine Schrift auf dem Pflaster in unmittelbarer Nähe scheint sich spöttisch an mich zu wenden: „Es wird wieder“. Die Lehre daraus: Denk nicht nur das Richtige, sondern tu's auch. Und zwar sofort.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „City of dreams“ von Marah, „Silver bullets“ von Ryan Adams und „Just one star“ von Antony & The Johnsons.
Der Dobrospieler
Am Freitagnachmittag im Käseladen sagt Renate, während sie gerade eine Portion Parmaschinken schneidet: „Die Wochen rauschen nur so vorbei. Das merke ich immer, wenn ich Sie sehe.“ Ein verblüffendes Echo, ja geradezu eine unbewusste spiegelbildliche Replik auf meinen Blog-Eintrag vom 16. September, auf den ich nunmehr auch Renate hingewiesen habe.
Vorm Bahnhof Altona sitzt seit einigen Tagen ein Straßenmusiker. Er spielt Slide auf einem wunderschönen Dobro, einer Akustikgitarre mit silbrig schimmerndem Metallaufsatz; dazu bläst er Mundharmonika oder singt mit jener strapazierbaren Stimme, die der Wind und die Myriaden mikroskopischer Schmutzteilchen in der Luft europäischer Metropolen raugeschmirgelt haben.
Hinter seinem Gitarrenkoffer, der um Kleingeld barmt, liegen CDs, die man für 15 Euro kaufen kann, und sie verraten den Namen dieser One-Man-Band: Ewan Blackledge. Hoch über ihm besiegt gerade die Leuchtreklame des Media-Markts das Abenddämmerblau des Himmels, und es liegt eine Ironie in diesem Bild: Hier der Konzern, der den Geiz als geil in unser Gedächtnis hämmerte, und da der einsame Slide-Gitarrist, der darauf hofft, wir würden dank seiner Songs diesen Slogan eine Sekunde lang vergessen und für ein süßes Klirren im Gitarrenkoffer sorgen. Und das hat er geschafft.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „In the Ghetto“ von Candi Staton, „Drunken hands“ von Christian Kjellvander und „The errors of my ways“ von Wishbone Ash.
Vorm Bahnhof Altona sitzt seit einigen Tagen ein Straßenmusiker. Er spielt Slide auf einem wunderschönen Dobro, einer Akustikgitarre mit silbrig schimmerndem Metallaufsatz; dazu bläst er Mundharmonika oder singt mit jener strapazierbaren Stimme, die der Wind und die Myriaden mikroskopischer Schmutzteilchen in der Luft europäischer Metropolen raugeschmirgelt haben.
Hinter seinem Gitarrenkoffer, der um Kleingeld barmt, liegen CDs, die man für 15 Euro kaufen kann, und sie verraten den Namen dieser One-Man-Band: Ewan Blackledge. Hoch über ihm besiegt gerade die Leuchtreklame des Media-Markts das Abenddämmerblau des Himmels, und es liegt eine Ironie in diesem Bild: Hier der Konzern, der den Geiz als geil in unser Gedächtnis hämmerte, und da der einsame Slide-Gitarrist, der darauf hofft, wir würden dank seiner Songs diesen Slogan eine Sekunde lang vergessen und für ein süßes Klirren im Gitarrenkoffer sorgen. Und das hat er geschafft.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „In the Ghetto“ von Candi Staton, „Drunken hands“ von Christian Kjellvander und „The errors of my ways“ von Wishbone Ash.
21 Oktober 2005
Die Große Freiheit
Ich treffe in der Großen Freiheit 36 meinen Freund Mark, ebenfalls Musikjournalist. Wir veräppeln uns manchmal, indem wir uns gegenseitig in Artikeln erwähnen. Er hat mal in der Welt oder im Hamburger Abendblatt geschrieben, ich würde in Puschen bei Konzerten auf dem Kiez auftauchen; ich habe enttarnt, dass er bei der Anhörung eines neuen Oasis-Albums eine Kotzgeste über den Tresen geschickt hat.
Wahrscheinlich steht es zwischen uns ungefähr 4:4. Gestern trafen wir uns, wie gesagt, in der Großen Freiheit 36. Das ist echtes Beatles-Kernland. Um die Ecke war früher der Starclub, im Souterrain residiert noch heute der Kaiserkeller, wo die Beatles einst ihre ersten Hamburger Gigs spielten. Und heute feiert die Große Freiheit 36 ihren 20. Geburtstag.
An der Kasse gibt es erst mal Kommunikationsprobleme, weil die Kirche gegenüber glaubt, ausgerechnet bei meiner Ankunft minutenlang lauthals bimmeln zu müssen. Wenn just die Tür der Tabledance-Institution Dollhouse ein paar Meter weiter offensteht (was sie wegen der einladenden Aussicht öfter tut), dann beeinträchtigen die Glocken jetzt gerade die Taktfrequenz der Striptease-Show.
Alles ist hier eben sehr nah beieinander – die Theater und die Tunten, der Sex und das Sakrale, Gott und GV. Und die Heilsarmee in der Talstraße wird friedlich umlagert von einer Phalanx schwuler Pornokinos. Drinnen in der Großen Freiheit hört man aber keinen Mucks mehr von der Kirche, sondern nur noch die mörderische Euphorie der schwedischen Band Moneybrother, die das letzte Konzert ihrer Tournee nutzt, um St. Pauli zu rocken. Der Saal ist eine Symbiose aus Bühne und vielen Tresen, von der Decke schicken Punktstrahler scharfe Lichtkegel, und in einen davon hält Mark sein Bier, was ein hübsches Motiv abgibt.
Im Foyer mache ich mir ein paar Notizen, und ein Typ Marke Banktresor – so hoch wie tief und breit – starrt mich dumpf an. Ich lächle, aber er verzieht keine Miene. Komisch. Draußen läuft ein Transvestit vorbei, schnappt sich einen der Große-Freiheit-36-Geburtstagsluftballons und bringt ihn zum Zerplatzen. Er lächelt beim Einbiegen in die Schmuckstraße. Ich frage mich seltsamerweise, was seine Eltern gerade über ihn denken. Und ob er manchmal darüber nachdenkt, was seine Eltern über ihn denken. Egal – Parallelwelten. So fern voneinander wie Erde und Mars.
Zwischen Mark und mir steht es weiterhin 4:4. Denke ich mal, denn ich weiß nicht, was er über den Abend in der Großen Freiheit 36 schreiben wird. Jedenfalls habe ich keine Puschen getragen, sondern schwarze italienische Lederslipper.
Wahrscheinlich steht es zwischen uns ungefähr 4:4. Gestern trafen wir uns, wie gesagt, in der Großen Freiheit 36. Das ist echtes Beatles-Kernland. Um die Ecke war früher der Starclub, im Souterrain residiert noch heute der Kaiserkeller, wo die Beatles einst ihre ersten Hamburger Gigs spielten. Und heute feiert die Große Freiheit 36 ihren 20. Geburtstag.
An der Kasse gibt es erst mal Kommunikationsprobleme, weil die Kirche gegenüber glaubt, ausgerechnet bei meiner Ankunft minutenlang lauthals bimmeln zu müssen. Wenn just die Tür der Tabledance-Institution Dollhouse ein paar Meter weiter offensteht (was sie wegen der einladenden Aussicht öfter tut), dann beeinträchtigen die Glocken jetzt gerade die Taktfrequenz der Striptease-Show.
Alles ist hier eben sehr nah beieinander – die Theater und die Tunten, der Sex und das Sakrale, Gott und GV. Und die Heilsarmee in der Talstraße wird friedlich umlagert von einer Phalanx schwuler Pornokinos. Drinnen in der Großen Freiheit hört man aber keinen Mucks mehr von der Kirche, sondern nur noch die mörderische Euphorie der schwedischen Band Moneybrother, die das letzte Konzert ihrer Tournee nutzt, um St. Pauli zu rocken. Der Saal ist eine Symbiose aus Bühne und vielen Tresen, von der Decke schicken Punktstrahler scharfe Lichtkegel, und in einen davon hält Mark sein Bier, was ein hübsches Motiv abgibt.
Im Foyer mache ich mir ein paar Notizen, und ein Typ Marke Banktresor – so hoch wie tief und breit – starrt mich dumpf an. Ich lächle, aber er verzieht keine Miene. Komisch. Draußen läuft ein Transvestit vorbei, schnappt sich einen der Große-Freiheit-36-Geburtstagsluftballons und bringt ihn zum Zerplatzen. Er lächelt beim Einbiegen in die Schmuckstraße. Ich frage mich seltsamerweise, was seine Eltern gerade über ihn denken. Und ob er manchmal darüber nachdenkt, was seine Eltern über ihn denken. Egal – Parallelwelten. So fern voneinander wie Erde und Mars.
Zwischen Mark und mir steht es weiterhin 4:4. Denke ich mal, denn ich weiß nicht, was er über den Abend in der Großen Freiheit 36 schreiben wird. Jedenfalls habe ich keine Puschen getragen, sondern schwarze italienische Lederslipper.
20 Oktober 2005
Die Lieblingsband
Manchmal muss man seufzen über Hamburg. Da gehe ich zu einem Konzert in den Waagenbau an der Max-Brauer-Allee, will eine alte Lieblingsband aus den 80ern sehen, die Legendary Pink Dots, und wann geht es los? Offiziell um 22 Uhr. An einem Mittwochabend.
Vor Ort erfahre ich, dass ich mich realistischerweise lieber auf 23 Uhr einstellen sollte – allerdings erst mal aufs Vorprogramm. Die arbeitende Bevölkerung gehört offenbar nicht zur Zielgruppe. Also warte ich und vertreibe mir die Zeit mit einigen Fotostudien über den Waagenbau, der direkt (und ich meine DIREKT) unter einer S-Bahn-Brücke liegt, weshalb sie hier lieber keinen einsamen Singer/Songwriter auftreten lassen sollten.
Das Vorprogramm gestaltet der Keyboarder der Lieblingsband, er baut an einer dreiviertelstündigen Klangwand aus statischem Lärm, was durchaus seinen Reiz hat, aber nicht mittwochsabends zur Geisterstunde, wenn man auf seine Lieblingsband wartet.
Dann kommt sie, es ist schon Donnerstagmorgen, und mein alter Held Edward Ka-Spel ist aufgemacht wie eine Tuntendiva (würde Senait sagen): langer dunkler Umhang, ein Wollschal bis ans Schienbein, dazu eine lächerlich coole Sonnenbrille – der Mann wirkt wie ein Provinzstadtintellektueller, der auf Stadtrat und Kunstvereinsvorsitzende exzentrisch wirken will. Ich fotografiere lieber den Saxofonisten (auch wenn er partout nicht stillhalten will) und verziehe mich erschöpft gegen eins.
Übrigens war das nicht mal der Verzögerungsrekord. Auf den Beginn eines Konzertes im Molotov, einem kleinen Club in zwei Fußminuten Entfernung, musste ich mal bis viertel vor eins warten. An einem Donnerstag. Ganz klar: Die Hamburger Konzertveranstalter zielen voll auf die Generation Hartz IV. Auf die, die ausschlafen können.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Black baby“ von Kruder & Dorfmeister, „Elevator“ von Jaffa und „Edge of time“ von Jean F. Cochoise.
Vor Ort erfahre ich, dass ich mich realistischerweise lieber auf 23 Uhr einstellen sollte – allerdings erst mal aufs Vorprogramm. Die arbeitende Bevölkerung gehört offenbar nicht zur Zielgruppe. Also warte ich und vertreibe mir die Zeit mit einigen Fotostudien über den Waagenbau, der direkt (und ich meine DIREKT) unter einer S-Bahn-Brücke liegt, weshalb sie hier lieber keinen einsamen Singer/Songwriter auftreten lassen sollten.
Das Vorprogramm gestaltet der Keyboarder der Lieblingsband, er baut an einer dreiviertelstündigen Klangwand aus statischem Lärm, was durchaus seinen Reiz hat, aber nicht mittwochsabends zur Geisterstunde, wenn man auf seine Lieblingsband wartet.
Dann kommt sie, es ist schon Donnerstagmorgen, und mein alter Held Edward Ka-Spel ist aufgemacht wie eine Tuntendiva (würde Senait sagen): langer dunkler Umhang, ein Wollschal bis ans Schienbein, dazu eine lächerlich coole Sonnenbrille – der Mann wirkt wie ein Provinzstadtintellektueller, der auf Stadtrat und Kunstvereinsvorsitzende exzentrisch wirken will. Ich fotografiere lieber den Saxofonisten (auch wenn er partout nicht stillhalten will) und verziehe mich erschöpft gegen eins.
Übrigens war das nicht mal der Verzögerungsrekord. Auf den Beginn eines Konzertes im Molotov, einem kleinen Club in zwei Fußminuten Entfernung, musste ich mal bis viertel vor eins warten. An einem Donnerstag. Ganz klar: Die Hamburger Konzertveranstalter zielen voll auf die Generation Hartz IV. Auf die, die ausschlafen können.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Black baby“ von Kruder & Dorfmeister, „Elevator“ von Jaffa und „Edge of time“ von Jean F. Cochoise.
Der Edelwein
Autsch, das ist dekadent ... Habe mir einen langgehegten Traum erfüllt und zwei Flaschen des angeblich besten Weins der Welt erstanden: Chateau D'Yquem. Diese edelsüße Trockenbeerenauslese gibt es eigentlich nirgends zu kaufen, man kann sie nur beim Weingut direkt zeichnen. Und zeichnen wiederum darf nicht jeder, sondern nur langjährige Kunden (keine Ahnung, wie man unter diesen Umständen den geforderten Status erreichen kann).
Also keine Chance auf Yquem. Nur über Auktionen kommt man ran. Oder über einen Weinraritätenversand, der manchmal bei Kellerauflösungen auf ein paar Flaschen stößt, was ungefähr so wahrscheinlich ist wie eine Affäre zwischen Merkel und Lafontaine. Und bei einem solchen Raritätenhändler habe ich die beiden Piccolo-Flaschen auch entdeckt. Der Preis soll jetzt mal - ähem - keine Rolle spielen. Viel schmerzlicher ist die Jugend dieses Weins, der - da erst 1999 abgefüllt - noch Jahre brauchen wird, um zu jener dionysischen Köstlichkeit heranzureifen, die als Potential in ihm schlummert.
Vor einigen Jahren veranstaltete der Weinsammler Rodenstock eine Yquem-Verkostung in München, nachdem es ihm gelungen war, die letzten rund 230 Jahrgänge lückenlos zu ergattern. Wie sich herausstellte, war selbst ein Yquem aus den 1770er Jahren noch makellos. Nun, 230 Jahre werde ich nicht warten, das ist sicher.
* Nachtrag 15.7.2007: Diese Verkostung ist inzwischen in Verruf geraten. Möglicherweise wurden Flaschen gefälscht.
Also keine Chance auf Yquem. Nur über Auktionen kommt man ran. Oder über einen Weinraritätenversand, der manchmal bei Kellerauflösungen auf ein paar Flaschen stößt, was ungefähr so wahrscheinlich ist wie eine Affäre zwischen Merkel und Lafontaine. Und bei einem solchen Raritätenhändler habe ich die beiden Piccolo-Flaschen auch entdeckt. Der Preis soll jetzt mal - ähem - keine Rolle spielen. Viel schmerzlicher ist die Jugend dieses Weins, der - da erst 1999 abgefüllt - noch Jahre brauchen wird, um zu jener dionysischen Köstlichkeit heranzureifen, die als Potential in ihm schlummert.
Vor einigen Jahren veranstaltete der Weinsammler Rodenstock eine Yquem-Verkostung in München, nachdem es ihm gelungen war, die letzten rund 230 Jahrgänge lückenlos zu ergattern. Wie sich herausstellte, war selbst ein Yquem aus den 1770er Jahren noch makellos. Nun, 230 Jahre werde ich nicht warten, das ist sicher.
* Nachtrag 15.7.2007: Diese Verkostung ist inzwischen in Verruf geraten. Möglicherweise wurden Flaschen gefälscht.
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