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23 September 2012

21 September 2012

Das Leben kann so einfach sein

Ich war ja sooo dumm.

Seit anderthalb Jahrzehnten suche ich nach einem Bannspruch, der mich schlagartig vom Kobern der Huren befreit. Anderthalb Jahrzehnte habe ich wirkungslose Konter gesetzt wie „Nein danke, ich bin verheiratet“ (Antwort: „Das kriegt die doch nicht mit.“) oder „Ich bin schwul“ (Antwort: „Ich dreh dich um.“).

Und gestern fliegt mir der Bannspruch wie zufällig zu, eine spontane Eingebung, die so naheliegend ist, dass ich mich frage, wieso ich nicht schon von anderthalb Jahrzehnten darauf gekommen bin.

„Kommste ma mit?“, fragt die Hure in der Davidstraße. „Nö“, sage ich. „Warum nicht?“ Und dann rutscht es mir raus, knapp, klar und schnörkellos:

„Kein Geld.“

Blam! Die Hure prallt zurück wie das Elbhochwassser vor der Flutschutzwand, dreht wortlos eine Pirouette und ist weg. Kein Geld: Das Leben kann so einfach sein.

Dieser beglückende Vorfall war ein später Höhepunkt des ersten Tags des Reeperbahnfestivals, dessen Spektrum von einer Smashing-Pumpkins-artigen Band aus Singapur namens Monster Cat bis zum mitternächtlichen Gig des ESC-Sternchens Lena im Schmidts Tivoli reichte.

Kein Geld. Hoffentlich vergesse ich den Spruch nicht wieder.

PS: Lorna Thomas von der großartigen irischen Folkpunkband Skinny Lister beugte sich übrigens nur rein zufällig in dem Moment vor, als ich auf den Auslöser drückte. Dieses Dekolleté ist also reiner Zufall, ich schwör!


14 September 2012

Das Herz von St. Pauli auf US-Tour



Der Kiezbummel gestern Abend mit Andreas endete nach allerkürzester Zeit in der „Korall Bar“. Ja, ich habe das e auch vermisst, aber den ganzen Abend nicht gefunden, auch nicht auf der Getränkekarte.

Jedenfalls blieben wir hängen in dieser netten Kneipe, die seit April an der Ecke Hein-Hoyer- und Simon-von-Utrecht-Straße derart fleißig ihr Auskommen zu finden versucht, dass sie es bisher versäumt hat, am Haus ihren Namen anzubringen. Vielleicht wüssten wir sonst sicherer, ob der Korall Bar ein e abhanden gekommen ist oder nicht.

Wir wandten uns eh bald wichtigeren Themen zu, vor allem Andreas’ mehrmonatiger Amerikareise als Roadmanager, Fahrer, Begleiter und Bespaßer seiner musizierenden Frau Tish, die er in einem grandiosen Blog verewigt hat.

Die beiden hatten bei ihrer Tour durch 42 Bundesstaaten die schrullige Idee, das US-Publikum regelmäßig mit dem auf Deutsch gesungenen Kiezgassenhauer „Das Herz von St. Pauli“ zu überraschen – siehe Video.

Ich würde mich ja so was nicht trauen: einfach auf die Bühne gehen und „Das Herz von St. Pauli“ singen. Dafür stehe ich manchmal sehr dicht vor der Bühne. Manchmal auch zu dicht.

Bei einem Solokonzert von John Cale in den 80ern stand ich mal in der ersten Reihe, als Cale mit der ihm eigenen Vehemenz „Fear is a man’s best friend“ zischte, schrie, brüllte – und spuckte.

Die Spucke des Mannes, der damals mit Andy Warhol, Lou Reed und Nico abhing, flog meterweit und fand auf meiner Wange ihr Ende.

Natürlich habe ich mich seither nie mehr geduscht.


06 Juni 2012

Niemand hat den Kopf verloren



Heute verbrachte ich den ganzen Abend auf der Frau Hedi, was außerhalb Hamburgs wahrscheinlich anzüglicher klingt als innerhalb, denn die Frau Hedi ist – wie Stammleser wissen – eine hochanständige Barkasse.

Sie tuckerte heute Abend drei Stunden lang kreuz und quer durch den Hafen, und nicht nur ich war an Bord, sondern auch zwei Bands, die sogenannte Showcases spielen sollten. Das sind Konzerte speziell für Journalisten, damit sie warm werden mit den Künstlern und vielleicht geneigter sind, ein Interview zu führen. Die Konkurrenz um die raren Artikelplätze ist schließlich groß.

Einer der Künstler war Stefan Dettl, der bayerische Frontmann von La Brass Banda, der vehement eine Solokarriere anstrebt. Wie so vielen vor ihm war ihm aber die Spezifik eines Showcases nicht ganz klar. Ich zum Beispiel gehöre zu jenen spezifisch gestrickten Menschen, die sich von Aufforderungen, mitzuklatschen oder gar zu -singen, gänzlich unbeeindruckt zeigen. Sie sind mir sogar zuwider.

 
Schließlich bin ich nicht automatisch Fan, sondern im Dienst, warum also sollte ich Euphorie heucheln? Er tat jedenfalls alles, der Dettl, und das ist wirklich viel, doch die Journaille inklusive mir verließ nie das Terrain der höflichen Akklamation, und das war auch gut so.

In der Kloschlange bekam ich Kontakt zu einer Frau, die sich als frühere Produktmanagerin der Toten Hosen herausstellte. Eine gute Gelegenheit, um ihr Vorhaltungen zu machen. Sie konnte sich ja nicht wehren, wir standen in der Kloschlange.

„Sie sind also dafür mitverantwortlich“, schimpfte ich, „dass die Toten Hosen zwar immer um Rezensionen gebettelt, aber ihr Label innerhalb von 20 Jahren niemals eine einzige Anzeige in den Medien geschaltet haben, für die ich arbeite.“

Sie verkrampfte, das war deutlich zu sehen, doch noch ehe sie zur Verteidigungsrede ansetzen konnte, fuhr ich die zweite Angriffswelle. „Tickten alle so wie die Toten Hosen“, erläuterte ich ihr mit bitterem Hohnlächeln, „dann wären wir längst Pleite – und ich arbeitslos.“

Immerhin stünden wir dann jetzt nicht in der gleichen Kloschlange, schoss mir durch den Kopf; das Ganze hätte also auch Vorteile. „Ich war ja immer nur die Botin mit der schlechten Nachricht“, piepste sie verunsichert. Dann ging zu ihrer (doppelten) Erleichterung die Toilettentür auf, was sie zur Flucht nutzte.

In absolutistischen Zeiten, fiel mir ein, hat man Boten, die schlechte Nachrichten überbrachten, geköpft. Ob das auch für Botinnen galt, weiß ich allerdings nicht.

Mal Google fragen.


23 Mai 2012

Im Eroscenter



Khatia Buniatishvili trägt ein hauchdünnes chiffonartiges Kleid mit Spaghettiträgern.

Immer, wenn Liszt, Chopin oder Strawinsky einen dynamischen Part in ihre Sonaten und Scherzi eingebaut haben, stürzt sich die Georgierin mit solcher Vehemenz auf den Steinway, dass sie hochhüpft vom Hocker und die Erschütterungswellen der Tastenanschläge sich in ihrem Körper fortpflanzen bis in tiefere Regionen, wo sie ihren aparten südlichen Speck zum Wallen bringen …

Beobachtungen wie diese, dass beim Klavierkonzert der akustischen eine adäquate visuelle Attraktion zur Seite gestellt wird, hätte man noch zu den großen Zeiten einer Martha Argerich in keinem Konzertsaal der Welt notieren können. Doch seit Vanessa „Ms. Wet Shirt“ Mae wird man auch in den heiligen Hallen der Hochkultur wie selbstverständlich mit sündiger Ästhetik verwöhnt.

Kurz: Wir hätten heute Abend den Kiez eigentlich gar nicht gen Laeiszhalle zu verlassen brauchen.

PS: Die Schreibweise des Namens Khatia Buniatishvili sieht auf Georgisch übrigens genauso kurvig aus wie die Frau selbst: ხატია ბუნიათიშვილი.


10 Mai 2012

Zurück aus der Zukunft



Erstaunlich, welche Subkulturen so alles im Verborgenen vor sich hin existieren. Unlängst war ich zu einem Konzert ins Grünspan (Große Freiheit) eingeladen und fand überraschenderweise vor:


Mädchen in Petticoats, die lustig ihre Lederhandtaschen schwangen und die Köpfchen schieflegten; Jungs mit pomadisierten Ententollen und ausrasierten Schläfen, die Sonnenbrillen trugen und kaugummikauend versuchten, coole Blicke zu simulieren.

Ich fühlte mich wie Marty McFly in „Zurück in die Zukunft“, nur dass die verkleideten Menschen im Grünspan bereits wussten, wer das Gitarrenriff von „Johnny B. Goode“ geschrieben hatte. Zum Glück war das Völkchen so höflich, diesen komischen Cargohosentyp mit seiner fleecegefütterten Wetterjacke (wasser- und winddicht sowie kälteresistent bis minus 25 Grad) zu ignorieren.

Was ich sagen will: Es gibt harmlos aussehende Menschen in unserer Mitte, die zu bestimmten Zeiten so tun, als hätten wir 1958. Gleichwohl erfreute mich ein kleiner Veranstaltungsflyer auf der Theke mehr als die ganze gefakte Halbstarkenästhetik um mich herum.

Dort warb nämlich ein „Horst with no Name“ für seinen Auftritt – und verdammt, das nenne ich mal einen Künstlernamen! Wo dieser so grobschlächtig wie verblüffend daherkommende Kalauer seinen Ursprung hat, hätte ich den Petticoathupfdohlen natürlich bei Bedarf erklären können, aber sie haben mich nicht gefragt, diese Hühner.

Mit Horst with no Name, der „international one man band“, kann man übrigens am 17. Mai durch den Hafen tuckern. Klingt nach einem Plan.


19 März 2012

Ein Kreis schließt sich



Irgendwann Anfang des Jahrtausends
war ich im alten Knust an der Brandstwiete beim Konzert von Mark Olson und Victoria Williams.

Olson hatte irgendwann vorher den Song „Miss Williams’ guitar“ geschrieben, um Victoria anzubaggern, und das hatte prächtig funktioniert: Sie war inzwischen mit ihm liiert, er hatte sogar die Jayhawks wegen ihr verlassen, sie war also sozusagen die Yoko Ono des Alt.country.

Im Song hieß es: „Miss William's guitar/I remember watching her play/And the whole damn crowd/Seemed so far away“, und wenn so was nicht mehr als Anbauern funktioniert, dann weiß ich auch nicht. Jedenfalls hatte es voll hingehauen, Olson war bei Williams gelandet, aber so was von – und jetzt war er sogar mit ihr auf Tour.

Ich stand in der ersten Reihe im alten Knust, einen guten Meter entfernt von den Turteltäubchen, und wünschte mir nichts sehnlicher, als diesen großartigen, schnurgeraden Countryliebesrocker jetzt und hier live zu hören, von den Betroffenen höchstselbst. Und das rief ich ihnen zwischen zwei Songs auch vernehmlich zu.

Ich rief also: „Miss Williams’ guitar“!


Der Effekt war allerdings ein unerwarteter. Mark Olson schaute, als hätte ich ihm einem Waterboarding mit Zitronensaft unterzogen, und Miss Williams tat so, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört. Beide wechselten einen schnellen Blick, in dem ein Funken Panik aufzuleuchten schien, und dann spielten sie schnell einen anderen Song.

So machten sie den ganzen Abend weiter, sie kramten praktisch alles aus der Kiste, nur ausgerechnet nicht „Miss Williams’ Guitar“.

Ich schämte mich aus nicht näher benennbaren Gründen fürchterlich, doch jetzt die erste Reihe zu verlassen, hätte das Eingeständnis meiner Scham bedeutet und damit irgendwie eine Art Niederlage, weshalb ich mich zwang, dort stehenzubleiben und allen anderen gespielten Songs abbittemäßig Beifall zu zollen. Danach verdrückte ich mich rasch, ohne Zugaben zu fordern.

Wenige Wochen später hörte ich, dass Olson sich von Williams getrennt habe, und ich fühlte mich schlecht. Dabei war sicherlich nicht ich der Grund für das Scheitern dieser auch und gerade künstlerisch vielversprechenden Beziehung, doch der Abend im Knust schien etwas Derartiges nahezulegen.

Heute Abend, zwölf Jahre später, spielte Mark Olson mit den Jayhawks im Grünspan, es war das erste Mal, dass ich mich seit dem schamgeprägten Auftritt im Knust wieder in einem Raum mit ihm befand, und nichts hätte mir ferner gelegen, als „Miss Williams’ guitar“ auf der Setlist zu erwarten.

Das Ergebnis sehen und hören Sie im Video oben. Bestimmt hat Olson den Song nur deshalb ins Programm gehievt, weil er dachte, dieser Typ von damals sei nicht schon wieder im Publikum.

Was macht eigentlich Victoria Williams? Ewig nichts mehr gehört von ihr.


15 März 2012

Wie das achte Weltwunder


Hacke, was war das denn?

Da besucht man zuwenigahnend eine Feier von XL Recordings (dem Label von Adele! ADELE!!!) in einer Kneipe in der schwulsten aller Kiezecken, der Talstraße, und plötzlich betritt eine Art achtes Weltwunder die „Bühne“.

Darf ich vorstellen: Willis Earl Beal.

Der Mann hat die Coolness von Prince, die Energie von James Brown, er trägt Miles Davis’ Brille und eine Hose obenrum so eng wie bei Jürgen Drews anno 73. Und später zupfte er mit seinem Cocktailpikser, der im Clip oben noch in seinem Glas Whiskey-Cola steckt, die E-Gitarre.

Beal lebt in Chicago übrigens noch bei seiner Oma. Aber hier, in der schwulsten aller Kiezecken, wäre er der Star in jedem Darkroom. Vor allem mit dieser Hose.

PS: Der Song ging übrigens noch drei Minuten weiter. Ich habe zu früh auf stop gedrückt.


06 März 2012

Wechselwirkungen



Hier sehen wir einen Künstler (Felix Meyer), wie er das Publikum (u. a. mich) fotografiert, während das Publikum (u. a. ich) den Künstler (Felix Meyer) fotografiert.

Kurz zuvor hatte der Künstler (Felix Meyer) das Publikum (u. a. mich) aufgefordert, den nächsten Song (s. u.) mitzufilmen und auf YouTube hochzuladen, damit er (der Künstler) daraus einen Videoclip für uns (das Publikum) schnitzen kann.

Ja, Mann, das ist das 21. Jahrhundert – und verdammt, ich liebe es!







02 März 2012

Über den Wolken



Es ist eine objektiv feststehende Tatsache vom Range eines Axioms, dass Damien Jurado mit „Cloudy Shoes“ den bisher besten Song des laufenden Jahrzehntes geschrieben hat, und ich würde mich auf Bon Ivers Küchentisch stellen und diese Behauptung wiederholen.

Doch der gute Damien spielte und spielte dieses Stück einfach nicht bei seinem Konzert heute Abend im Schanzenviertel. Stattdessen trug er weiße Socken, und zwar ohne Schuhe. Erst vor den Zugaben unterwarf er sich den bewährten Regeln öffentlichen Verhaltens und bedeckte sich.

Und deshalb wird, wie Sie oben sehen können, seine akustische Solofassung von „Cloudy Shoes“, welche er erst auf unser nachhaltiges Insistieren anstimmte, zum Glück nicht von ästhetischen Tabubrüchen kontaminiert.

Wer sich die episch-psychedelische Originalversion von „Cloudy Shoes“ anhören möchte: bitte sehr.




26 Februar 2012

Pilates auf Piña Colada



Es gibt Fragen, die man sich nur in Hamburg stellen kann. Zum Beispiel: Wohin gehen wir heute Abend – ins Uebel & Gefährlich oder ins Freundlich + Kompetent?

Vorgestern entschieden wir uns für ersteres, um den australischen Überflieger Gotye – die exakte Schnittmenge aus Sting, Phil Collins und Peter Gabriel – seinen Riesenhit „Someone that I used to know“ singen zu hören.

Immer wenn ich im Uebel & Gefährlich bin, frage ich mich übrigens, warum Betreiber Tino Hanekamp (den mein Rechtschreibprogramm hartnäckigst zu „Dino Hansdampf“ verballhornen möchte) das „Uebel“ mit Ue, das „gefährlich“ aber mit Umlaut schreibt. Und wahrscheinlich hat er es genau aus diesem Grund getan, dieser Fuchs.

Gestern Abend ging es aber weder ins U&G noch ins F+K, sondern ins Haus III&70, wo die hier in diesem Blog sehr beliebte Berliner Songwriterin Julia A. Noack spielte – und das trotz der überaus schlechten Erfahrung beim letzten Auftritt ebenda.


Julia ist weltweit die einzige Songwriterin, die ungestraft „Pilates“ auf „Piña Coladas“ reimen darf, ohne von uns mit Schuhen beworfen zu werden. Im eingebundenen Video aber singt sie überhaupt nicht, sondern loopt höchst mantraesk das Ende ihres Songs „Leave the door ajar“ vor sich hin.

Als ich ihr nach dem Konzert androhte, diese Passage auf YouTube hochzuladen, guckte sie panisch und sagte: „Aber nur, wenn es gut ist.“ Versprochen.

Wie ist es eigentlich im Freundlich + Kompetent?
Ich war noch nie da.


01 Dezember 2011

Lemmy und mein limbisches System

Es muss im Pleistozän gewesen sein. Mein Klassenkamerad Klaus, der Hinkefuß, hatte schon einen Kassettenrekorder, wir standen an der Bushaltestelle, und der Kassettenrekorder spielte „Silver Machine“ von Hawkwind.

Ich war sofort hoffnungslos verloren an diesen Song und wusste jahrzehntelang nicht, woran das eigentlich lag. Jetzt weiß ich es: Es ist der Basslauf. Dieses tiefe hektische Sägen, das dem Stück den Takt gibt.

Selbst der Drummer muss sich ihm unterwerfen. Er kann nur versuchen, diesem Bass zu folgen, er ist sein Lakai, sein Diener, er muss sich unterordnen, weil nichts und niemand der Macht dieses Basslaufs widerstehen kann.

Und weil dieser Bass so elementar ist, bricht das Stück auch ausgerechnet im Refrain, der doch eigentlich der Höhepunkt des Songs sein soll, komplett zusammen. Der Bass überlässt das Feld plötzlich der ideenlosen Multiplikation eines ideenlosen Refrains, und es ist jedes mal eine tiefe Erleichterung, wenn er den liegen gelassenen Groove wieder aufnimmt.

Jahrzehntelang hat es gedauert, bis ich endlich das Geheimnis dieses Stückes begriff – und noch einmal einige Jahre, bis mir klar wurde, wer diesen Bass
überhaupt spielt: Es ist Lemmy Kilmister. Der Mann, der heute Abend in der Alsterdorfer Sporthalle Motörhead anführt.

Und jetzt erst begreife ich auch, was einen Abend mit Motörhead so euphorisierend, so einmalig macht: vor allem dieser Bass. Lemmy spielt ihn wie 1971 in „Silver Machine“. Es ist immer noch dieses tiefe hektische Sägen, eine Demonstration der Stärke, eine Verkörperung der Essenz des elektrischen Rock’n’Roll.

Dieser Bass prägt jedes, jedes Stück von Motörhead, und deshalb ist es mir auch egal, dass seit einem Vierteljahrhundert alle ihre Platten gleich klingen. Ihr Werk ist eine große, gewaltige Kathedrale, erbaut zu Ehren dieses Basses, der seit dem Pleistozän in der Welt ist, als mein Klassenkamerad Klaus, der Hinkefuß, draußen an der Bushaltestelle seinen Kassettenrekorder anwarf und „Silver Machine“ von Hawkwind herauskam, ein Song, an den ich sofort verloren ging.

Wir trafen heute Abend einen völlig verrückten Kasselaner, der im T-Shirt in der Kälte stand und seinem 132. Motörhead-Konzert entgegenfieberte. Ich frage ihn, was ihn antreibt, was Motörhead für ihn bedeutet.

Seit Jahren reist er Lemmy hinterher, geht auf jedes verdammte Konzert, das irgendwie zeitlich und verkehrstechnisch erreichbar ist, er hat eine ganze Schublade voller abgerissener Motörhead-Eintrittskarten, er hat buchstäblich Monate seines Lebens in Gegenwart von Motörhead verbracht, und doch wusste er auf meine Frage nur hilflos zu antworten:

„Weil sie einfach geil sind.“

Lemmy hat ihn so oft in der ersten Reihe stehen sehen, dass er ihn irgendwann hochwinkte auf die Bühne. Jetzt hat der Kasselaner den bandinternen Status „Superfan“, er bekommt bei jedem Konzert einen V.I.P.-Ausweis (Foto) und darf hinter die Bühne. Heute ist Lemmy ein bisschen erkältet, verrät uns der Superfan, er trinkt vor allem Wasser und nur ein bisschen Jack Daniel’s.

Ich frage mich, ob eine Band taktisch das Richtige tut, wenn sie Superfans auf die Bühne winkt und hinter die Bühne lässt. Ist nicht gerade deren Hingabe Beweis einer für die Band merkantil gesehen lukrativen Glorifizierung, die keineswegs durch Backstageerlebnisse entmystifiziert werden darf?

Aber was weiß ich schon über Lemmy. Nur, dass er den Bass auf eine Art spielen kann, die im limbischen System Dinge dauerhaft verändern kann, über Jahrzehnte.

Und das ist einfach geil.
Foto: German Psycho

25 November 2011

Motörhead, 30. 11., Sporthalle



Am 23.11.2011 um 22:06 schrieb Matt:

Lieber German Psycho,

den kommenden Mittwoch wir haben ein Datum mit Motörhead. Ist es, dass wir schon einen Plan der Anreise haben, der Sinn macht für die beiden von uns? Hoffe zu hören von dir bald.

Am 23.11.2011 um 22:58 schrieb German Psycho:

Ich denke, es ist gut zu sehen, du machst bereits Pläne.
Wann gehts los? Das Konzert? Sollen wir mit dem Auto fahren?

Am 23.11.2011 um 22:06 schrieb Matt:
Es startet an 8 Uhr nach dem Mittag. Es tut nicht kümmern mich, ob wir gehen bei Auto. Was tust du mögen am meisten?


Seither: Funkstille. Hoffentlich kein schlechtes Zeichen. Wobei mir einfällt, dass ich in einer älteren Motörhead-Plattenkritik mal einen Song über einen Serienkiller besonders hervorgehoben habe. Unheimlich.

Foto: www.imotorhead.com


Nachtrag

Am 26.11.2011 um 8:13 schrieb German Psycho:

Ich denke, wir sollten gehen bei Zug. I mag sein Lust haben auf ein zweites Bier.

05 November 2011

Mein ausgeglichenes Konzertkarmakonto



Anna Ternheim scheint dünner zu sein als beim letzten Mal, und weil ich eine neue Kamera habe, die in HD filmen kann, sieht man das auch besonders deutlich.

Wegen ihr fuhr ich nachmittags zu Saturn in die Mönckebergstraße, wo sie einen klitzekleinen Akustikgig spielte, während aus dem Saturn-Lautsprechersytem die übliche Kryptik à la „Servicedesk für 24“ drang, zum Glück und wundersamerweise nur zwischen den Songs.

Gestern hatten sich ja manche Kommentatoren vor Abscheu über meinen Besuch des Jean-Michel-Jarre-Auftritts gar nicht mehr eingekriegt. Nun, mit meiner Aufwartung für Frau Ternheim, dürfte ich mein Konzertkarma für diese Woche wohl wieder ausgeglichen haben.

Es sei denn, irgendjemand reagiert mit Abscheu auf fein gezupfte Folkmelancholie – und so was soll es ja auch geben, wahrscheinlich vor allem unter Jean-Michel-Jarre-Fans.

04 November 2011

Nein, Dylan wird hier nicht erwähnt



Das zu kleine Zeitfenster zwischen Arbeitsende und Konzertbeginn bietet eine gute Gelegenheit, in der o2-Arena mal wieder etwas Überteuertes mit ordentlich E-600-irgendwas zu essen.

Ms. Columbo nimmt eine Pilzpfanne, ich entscheide mich für eine kapitale Currywurst mit lecker Purinbasenstickstoff und heftig Polysacchariden. Dann geht es rein in den Saal zu Jean Michel Jarre.

Darf ich vorstellen: Das ist der Mann, der die Leinwandgöttin Charlotte Rampling erst ins Bett und dann vor den Traualtar verschleppte, nur um seine Ehe nach zwei Jahrzehnten per Seitensprung zu pulverisieren.

Auf Deutsch: Er hatte Rampling, rammelte aber auswärts. Nicht gerade jarremant, wenn Sie mir diesen Kalauer gestatten.

Auf dem Weg zu unserem Platz mussten wir auch noch über H. P. Baxxters lange Beine steigen. Und über die die seiner ebenso blonden, aber deutlich tiefer dekolletierten Begleitung.

Entscheidend aber war sowieso die Tatsache, dass wir heute Abend in der o2-Arena die gleiche Bühne vor uns sahen, auf der vor drei Tagen erst der Meister gestanden hatte, ganz ohne Laserlarifari.

17 Oktober 2011

JJ droht JB



Da mag ich mal einen jungen Künstler, der Folk und Soul zu fantastischen Songs verschmilzt, und im Konzert stellt sich heraus, dass er von lauter jungen Frauen angeschmachtet wird, die unverhohlen aussehen, als würden sie sonst James Blunt anschmachten.

Sie singen schon beim ersten Stück mit und rufen glockenhell „Jonathan, we love you!“ ins Halbdunkel, und sobald der Künstler pantomimisch zum Mitklatschen auffordert, machen sie treudoof was? Sie klatschen los, als fühlten sie sich verpflichtet, das abgebildete Schild neben der Garderobe mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen.

Jonathan Jeremiah ist natürlich trotzdem weiterhin ein toller Künstler, das lasse ich mir doch von denen nicht verderben – auch wenn die Gefahr einer gewissen Bluntisierung nicht mehr zu leugnen ist; das weiß ich jetzt.

Aber biddebidde nicht vor – sagen wir – 2013.

28 September 2011

Der Inhalt von Roger Ciceros Hose



Wenn hier einer von den beiden Due Baristi mitliest: Wundert euch bitte nicht, wenn demnächst der Swingpopper Roger Cicero bei euch auftauchen sollte.

Dem – wie sich heute Abend beim musikalischen Dinner im Kiezrestaurant Nil herausstellte – geradezu fanatischen Espressoaficionado habe ich euch nämlich wärmstens empfohlen, und er schien elektrisiert.

Doch nicht nur über seine Suche nach dem perfekten Kaffee, der er zu Hause unter häufiger Inanspruchnahme einer 1400 Euro teuren Maschine nachgeht, plauderte der Sänger beim Abendessen. Cicero erzählte – wahrscheinlich nur zufällig, während er Hokkaidokürbis (sic!) aß – auch von seinem ersten Auftritt überhaupt, bei dem er eine etwas zu enge Hose trug, die auch noch etwas zu hoch gerutscht war und sich dadurch entsprechend prominent in einem Zeitungsbericht am nächsten Tag niederschlug.

„Das war meine erste Rezension überhaupt“, sagte er mit einer Mischung aus Bedauern und süßer Erinnerung, „und sie beschäftigte sich zu zwei Dritteln mit Spekulationen über den Inhalt meiner Hose.“ Was mich angesichts seiner daraufhin folgenden rasanten Karriere an Hitchcocks Rezept für einen guten Film erinnerte: mit einer Explosion anfangen und sich dann langsam steigern.


Zu Hause stellte ich allerdings beschämt fest, dass keineswegs Alfred Hitchcock, sondern dessen Regiekollege Samuel Fuller das gesagt haben soll. Doch dieses bei mir absolut übliche gesunde Viertelwissen ist Cicero zum Glück nicht aufgefallen, und ich bin mir sicher, dass er das zitierte Zitat bereits auf der nächsten Espressoparty dem guten alten Hitchcock in die Schuhe schieben wird. Vielleicht auch schon während seines Besuchs des Due Baristi.

Cicero nahm übrigens wieder mal den ganzen Abend seinen Hut nicht ab, wahrscheinlich aus exakt dem gleichen Grund wie Udo Lindenberg.

Mehr sage ich dazu nicht. Und womit? Mit Aplomb.


02 September 2011

Ein Ufo und die Folgen



Promiauflauf in der Sichtbar am Fischmarkt, weil eine große Plattenfirma zur Albumparty eines (wie sie hofft: noch) kleinen Künstlers geladen hat.

Die Sichtbar gehört Nina-Tochter Cosma Shiva Hagen, und nach dem Konzert steht die Kneipierin persönlich an den Plattenspielern und legt guten Clubsoul auf, während sie alle drei Sekunden fünfmal an der Kippe saugt.


Musikgeschmack ist allerdings das Eine, und den hat sie – „aber die Übergänge …“, raunt es im Publikum, und zwar mit Recht.

Lorielle London stakst unbeeindruckt
von Hagens akustischen Holprigkeiten durchs Pickepackepublikum wie ein Storch im Karneval und demonstriert die rasanten Fortschritte ihrer Feminisierung, Franz Plasa trägt zum Sakko ein Halstuch. Das tun hier heute Abend erstaunlich viele Männer; ich bin wohl mal wieder ganz weit hinten dran, trendtechnisch.

Wenn Cosma Shiva jetzt noch dafür sorgen könnte, dass ihre Weißweine kalt serviert und deren Aromen hinfort nicht mehr durch Zigarettenrauch plattgemacht würden, dann wäre die Sichtbar am Fischmarkt eine echte Ausgehalternative jenseits der Reeperbahn.

Aber so weit sind wir noch nicht, oh nein.

Habe ich eigentlich schon mal erzählt, dass Nina Hagen mir mal erzählt hat, dass sie ihre Tochter nur deshalb „Cosma Shiva“ genannt hat, weil ihr während der entsprechenden Schwangerschaft ein Ufo erschienen ist? Habe ich nicht?

Dann werde ich das auch nicht mehr tun (zumal Mama Hagen das absolut jedem erzählt, der nicht bei drei im Ashram ist).


27 Juni 2011

Von Punk und Plauzen



„Mike Ness“, konstatiert der Einheitskanzler beim ersten Bier des Abends, „hat inzwischen genau so eine Plauze wie ich.“

Kein gutes Vorzeichen für ein Punkrockkonzert mit Ness’ Band Social Distortion, auf das ich mich schon seit Monaten freue und zu dem ich den Einheitskanzler als Begleitschutz engagiert habe. Doch es wird wieder mal so ein Abend, an dem ich die Welt nicht mehr verstehe, was inzwischen beunruhigend oft vorkommt.

Noch während der Vorband nämlich erklärt mir der eigentlich stockkonservative Einheitskanzler, er möge Billy Bragg. In Worten: Billy Bragg.

Klar, Herr Bragg ist nachgewiesenermaßen großartig, aber auch ein unbeirrbarer, störrischer Kommunist, und den darf ein Stahlhelmzyniker wie der Einheitskanzler niemals mögen, sonst ist heute Abend mal wieder so ein Abend, an dem ich die Welt nicht mehr verstehe.

Gleichwohl beharrt der Mann aufs Braggmögen, während er zur Bekräftigung ein Bier ums andere ordert. Selbst mein sinngemäßer Einwand, Bragg passe zu seinem Weltbild wie Senf zu Gummibärchen (eine Kombination, die Dr. K. übrigens liebt), vermag den tätowierten Vierschröter nicht zu beirren.

Eine der drei Grazien, die im Docks hinter der Theke stehen, perfektioniert diesen eh schon verstörenden Abend dann mühelos. Sie arbeitet schon seit Freitag hier, immer spielen Social Distortion mit Frank Turner als Vorband. Frank Turner, sagt sie, sei unglaublich geil, sie plane sogar dessen eigene Headlinertournee im Dezember definitiv aufzusuchen, dabei möge sie eigentlich nur R’n’B.

Frank Turner, meine Damen und Herren, spielt Folkpunk, aber so was von, da wäre sogar Billy Bragg hin und weg, und warum mag jetzt eine im Docks bedienende R’n’B-Schnepfe im Sommerkleidchen Frank Turner?

Manchmal verstehe ich einfach die Welt nicht mehr.

Mike Ness hat übrigens überhaupt nicht so eine Plauze wie der Einheitskanzler, aber vielleicht habe ich mich auch nur verguckt.


30 Mai 2011

Kauen, immer weiterkauen



Wer bisher – wie eingestandenermaßen ich – inniglich darauf setzte, der unerträgliche Anblick des schottischen Wrigleymonsters Sir Alex Ferguson (Manchester United, 69) erledige sich irgendwann auf biologische Weise gleichsam von selbst (nur wann bloß? WANN?), hat eins gewiss nicht bedacht:


Sein Nachfolger steht schon vorm Kaugummiautomaten, und verdammt: Er hat Kleingeld dabei.

Es ist der Rocksänger Liam Gallagher (Beady Eye, 38), der heute Abend in der hitzedampfenden Großen Freiheit zu meinem ästhetischen Missvergnügen nicht nur einen hochgeschlossenen Kapuzenanorak zur Schau stellte, sondern auch ein Alex-Ferguson-Gedächtnis-Kauen von selten blasierter Breitlippig- und Offenmäuligkeit.

Dass Herr Gallagher uns außerdem schon vorm ersten Stück wortlos kiefermahlend seinen Stinkefinger entgegenreckte, komplettierte die eindrucksvolle Visualisierung seines traditionellen Markenkerns, den er während seiner Zeit bei Oasis entwickelt hat und seither unverdrossen beibehält: der schnöselige Rüpel vom Dienst zu sein.

Klar: Wahrscheinlich ist Liam privat ein Charmeur mit schüchternstem Augenaufschlag, der verschämt herumdruckst, wenn er bei Frau Nachbarin nach einer Zwiebelknolle zu fragen hat; auf der Bühne aber setzt der böse Mann aus Manchester alles daran, bei unsereins blinde Aggression hervorzurufen.

Kurz bevor ich aufgrund dessen erwog, die Bühne zu stürmen, um Gallagher mit seinem eigenen Kaugummi gewaltsam sämtliche Karieskrater zu versiegeln, und zwar ein für alle mal, besann ich mich – und fotografierte zur Beruhigung draußen vor der Tür einige Stilleben, die jeweils ein so direktes wie schlichtes Ursache-Wirkung-Prinzip zum Thema haben.

Kurz: ein rundum gelungener Abend, für Liam wie für mich.