Als es wahr ist, wirklich wahr, das endgültige, unglaubliche, undisputierbare 3:1, bleibt natürlich keine andere Möglichkeit: Ich muss mich bei Ms. Columbo entschuldigen und durch den Schnee in die Domschänke stapfen, um in Euphorie zu baden. Dort, in dieser an gewöhnlichen Tagen dumpf vor sich hin dämmernden Kneipe, ist jetzt gerade das pulsierende Herz der Republik, aber die Augsburger, Bitterfelder, Groß-Gerauer müssen samt und sonders mit der Tatsache ihres Nichthierseinkönnens leben, doch ich kann einfach hinüber gehen, es dauert keine fünf Fußminuten, und deshalb muss ich hin.
In den 80er Jahren ging ein Rekord durch die Presse, der Aufnahme ins Guinness-Buch fand: Ungefähr zwölf Leute (oder mehr) quetschten sich damals in eine Telefonzelle. Schade, dass sich heute Abend niemand aus der Guinness-Redaktion in der Domschänke aufhält. Denn das halbe Stadion ist da. Tohuwabohu! Halleluja! Glück tropft von der Decke!
Ich sehe Menschen, die während eines Handy-Telefonats lauthals einstimmen in den Kiezklassiker „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, der aus der Musikbox donnert. Sogar Bremer Fans wanken herein. Sie singen „Ihr seid bessä / als der Ha-Ess-Vau“, womit sie bei den Domschänkensardinen mächtig punkten. Am Zigarettenautomaten, wo wir eine halbwegs passable Stelle des ungefährdeten Zusammengequetschtseins gefunden haben, treffe ich einen kugelrunden Dreitagebarttürken, der mir versichert, eigentlich nicht zu rauchen. Aber heute, nach diesem Sieg: Da muss es sein.
Er erklärt mir die neue deutsche Rechtschreibung: Weil St. Pauli im DFB-Pokal ausschließlich Städte besiegte, die mit B beginnen (Burghausen, Bochum, Berlin, Bremen), muss jetzt auch der Wettbewerb als ganzer umbenannt werden – in „Bokal“. Das erscheint mir vollkommen logisch.
Währenddessen spekuliert die Runde wild über den nächsten Gegner. Es kann uns ja, dem Gesetz der Serie folgend, nur Bayern oder Bielefeld zugelost werden; der letzte übriggebliebene Kandidat Frankfurt ist schließlich völlig B-los. Andreas argumentiert noch spitzfindiger: Da bisher jeder Gegner nominell stärker war als der letzte, muss nach Bremen natürlich Bayern kommen. Keinesfalls Bielefeld. Und wenn doch, dann hätte man ja vielleicht die Chance, gar das Halbfinale zu gewinnen, dann führe man zum Finale nach Berlin, und was immer dort geschähe: St. Pauli wäre im Uefa-Cup. St.Pauli.Im.Uefa.Cup. Gegen Inter Mailand oder so, man darf gar nicht drüber nachdenken.
In der Domschänke ist zügig das Astra ausgegangen. Die Menge hebt kurz die Augenbraue und steigt auf Jever und Holsten um. Irgendjemand hat „You’ll never walk alone“ gedrückt, und während ich aus voller Lunge mitsinge, wird mir klar, dass ich heute Abend sogar die Töne treffe, was mir sonst nie gelingt, weshalb ich diese Art der Artikulation gemeinhin sorgsam aus meinem Gefühlsäußerungsspektrum ausklammere. Jaja, der Zauber dieser Nacht!
Auf dem Rückweg sehe ich, wie die Fans den verschneiten Stadtteil verwandelt haben. Auf Windschutzscheiben und Kühlerhauben, auf Heckfenstern und Seitentüren, überall ist es zu lesen: „3:1“. Heute ist St. Pauli das Zentrum der Republik. Ach was: der Welt.
Und manchmal haben sie neben das „3:1” noch etwas anderes in den Schnee gemalt, mit bloßen Händen: ein Herz.
Ex cathedra: Die Top 3 der gößten Akustikgitarrensongs
1. „Caroline’s tune“ von John Renbourn
2. „Thrasher“ von Neil Young
3. „When poets dream of angels“ von David Sylvian