25 November 2019

Fundstücke (240)


Mich beschleichen schon leichte Zweifel, ob wir Umweltzerstörung und Klimawandel in den Griff bekommen, wenn wir auf dem Weg dorthin Menschen mitschleppen müssen, die E-Roller nach Gebrauch im Fleet entsorgen.

Aber vielleicht bin ich auch einfach zu kleinlich.


17 November 2019

Essen, was aufn Tisch kommt

Nach langer Zeit ist es mal wieder passiert: Ich habe vorm Franken meinen Teller leer. Wer hier seit rund anderthalb Jahrzehnten mitliest, weiß sehr wohl, wie erwähnenswert diese Tatsache ist.

Wir sind im Palazzozelt an den Deichtorhallen, wo man uns mit Artistik, Kulinarik und Showeinlagen verwöhnt. Das hier ist der erste Gang, Vitello tonnato, Scheiben vom Holsteiner Kalb mit Tunfisch und Kapernäpfeln, und der Franke staunt: „Du vor mir fertig? War ja noch nie da.“ Doch, war es wohl, aber jeder meiner raren Erfolge wird natürlich vom Grundrauschen der Vielzahl seiner zerschmetternden Siege überdröhnt. „Aber der Abend“, droht er, „ist ja noch lang.“

Das stimmt – lang, aber dank der Künstler- und Artistenschar kurzweilig. Vor allem die Conferencière, die US-Amerikanerin Ariana Savalas, sorgt für gehobenes Niveau und verleiht dem Showmotto „Glanz & Gloria“ Glam und Glitzer, nicht nur wegen ihres in allen Spektren einer Discokugel funkelnden Abendkleides.

Wir sind derweil beim Zwischengang, confiertem Eismeerlachs mit Zitronenknusper, übergossen (von mir als Dienstleister für alle am Achtertisch) mit einem Blumenkohlsüppchen. Hier ist der Sieger nicht hundertprozentig feststellbar, da wir alle Nachschlag nehmen. Wertung zur Güte: Remis.

Zwischen den Nummern der Artisten – darunter ein Spanier namens Ramiro Vergaz, der mit bis zu sechs kapitalen Kegeln jongliert, was eindeutig von den Naturgesetzen so nicht vorgesehen ist – neckt Frau Savalas am Nachbartisch einen Gast mit Spötteleien über sein Outfit (Sweatshirt und Jeans). Zwar trage ich zum Glück einen mitternachtsblauen Schurwollanzug von Gieves & Hawkes, doch mir wird unschön bewusst, dass angesichts meines Sitzplatzes der Franke die letzte Brandmauer zwischen Savalas und mir ist. Im Notfall wäre zwar er zum Glück als Opfer leichter erlegbar, doch verspricht er für diesen Fall der Fälle, jeden auf Interaktivität erpichten Künstler eindringlich an mich zu verweisen.

Nun zum Hauptgang: Rücken und Bäckchen vom spanischen Eichelschwein mit knackigem Wokgemüse und Gewürzjus. Dazu spielt die Band Boomraiders Schweinerock. Darf sie herzlich gern, doch täte sie das etwas leiser, könnte man sich bei Bedarf auch mal mit seinem Tischgegenüber unterhalten. So bleibt mir als Gesprächspartner im Wesentlichen meine Brandmauer, der Franke, gegen den ich beim Hauptgang sehr, sehr knapp verliere.

Das vermaledeite Problem bei diesem von der Hamburger Spitzenköchin Cornelia Poletto konzipierten Menü ist aber auch, dass es viel zu gut mundet, um sich ernsthaft eines gebremsten Esstempos befleißigen zu können. Nach jedem Bissen denkt man: Hmm, jetzt gerne schon den nächsten. Und schwups, ist schon wieder ein Gang weg. Hier im Palazzozelt jedenfalls wird besonders gern und rasch gegessen, was auf den Tisch kommt.

Dieser Mechanismus setzt übrigens nur bei den Aufstrichen nicht ein, die als Amuse-Gueule in Porzellanschiffchen auf dem Tisch stehen. Merkwürdig durchschnittlich, geradezu gewöhnlich, wundert man sich – bis man im Programmheft auf die Sponsorenliste stößt. Darunter: Exquisa. So was schafft natürlich Sachzwänge, gegen die sich wohl auch eine Cornelia Poletto nicht wehren kann. Dann eben wenigstens hübsche Porzellanschiffchen als Trägermedium.

Nach atemberaubenden Trapez-, Bänder- und Stangennummern steht das Dessert an: Kokosbaiser mit Mascarponecreme, exotischen Früchten und Ananassorbet. Ein buntschillernder Strauß sich nur scheinbar widersprechender, doch letztlich miteinander verschmelzender Aromen; von allen am Tisch – Carnivoren wie Vegetariern – erhält das Dessert die Bestnote.

Der Franke und ich trennen uns hierbei schiedlich, friedlich unentschieden. Mehr von diesem seit rund anderthalb Jahrzehnten andauernden Wettstreit zwischen Goliath und mir dann nächstes Jahr. Oder spontan noch mal in den kommenden Wochen: Das Palazzozelt steht hier noch bis März.

Savalas verschonte uns übrigens beide. Tragen Sie also bloß nicht Sweatshirt und Jeans!


PS: Es gab natürlich von allen Gängen eine vegetarische Variante. Wie mir Ms. Columbo bestätigte, waren auch diese von erheblicher Qualität; ihre leise monierte Würzdezenz bei der Vorspeise (Auberginen-Caponata) sei, wie sie sagt, eine Klage auf hohem Niveau.

PPS: Zu dieser Veranstaltung waren wir eingeladen.

Foto: Palazzo Produktionen GmbH




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13 November 2019

Vorsicht, Weltrevolution!


Vor einigen Wochen hatte ich das unverdiente Privileg, die Vorpremiere von Jan Plewkas neuem Rio-Reiser-Programm „Wann, wenn nicht jetzt“ auf Kampnagel besuchen zu dürfen. An diesem Samstag folgt nun die offizielle Premiere – und das ist für mich Anlass genug, bestimmte Bevölkerungsgruppen ausdrücklich vor dem Besuch dieser Veranstaltung zu warnen.

Wenn Sie es zum Beispiel generell befremdlich fänden, sich am Ende des Rio-Abends jubelnd auf Ihrem Sitz stehend wiederzufinden, derweil Sie zu Ihrer eigenen Verblüffung wild entschlossen sind, am nächsten Morgen sofort nach dem ersten Nespresso die Weltrevolution zu starten: 

Dann gehen Sie bitte nicht hin.

Alle anderen hingegen sollten sich tunlichst ein Ticket kaufen. Allein schon deshalb, um in Zeiten sich verzwergender Sozialdemokratie mal wieder eine Ahnung davon zu bekommen, wie sich linke Inbrunst mal anfühlte.


PS: Moment mal – Plewka … Da war doch was? Ja, er hat das Vorwort zu meinem Buch „3000 Plattenkritiken“ verfasst. Es ist natürlich weiterhin lieferbar, und bald ist Weihnachten!



Aus dem Vorschautext: Nach drei musikalisch beglückenden Sommerfestivalproduktionen von Selig-Frontmann Jan Plewka und Theatermacher Tom Stromberg ist das Team nun zurück mit neuem Programm: Jan Plewka und die Schwarz-Rote Heilsarmee singen und feiern die unvergesslichen Songs von Ton Steine Scherben. Nach über 200 ausverkauften Vorstellungen und unzähligen emotionalen Höhepunkten der Rio Reiser-Show gibt es nun einen zweiten Abend insbesondere mit Songs von Ton Steine Scherben. Mit einer tiefen Verbeugung vor der musikalischen und politischen Haltung der Band geht Plewkas Show mit gewohntem Charme und seiner originalen Bandbesetzung in die nächste Runde. Sehnsüchtig und zärtlich, gleichzeitig revolutionär und kraftvoll wird dieser neue Abend an die Legende des linken Zeitgeistes von Ton Steine Scherben erinnern und das Rockkonzert für die Freiheit nicht enden lassen – WANN, WENN NICHT JETZT.

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10 November 2019

Kloputzen in der Absturzkneipe

Voilà: der übelste Job, der je auf St. Pauli ausgeschrieben wurde – jemand Interesse?



06 November 2019

Wenn der Geisterzug nicht kommt

Natürlich: Bahnbashing ist wohlfeil. Andererseits denke ich mir: Besser wird es bestimmt nicht, wenn keiner was sagt. Oder schreibt. 

Am Sonntag jedenfalls hatten wir mal wieder ein Bahnerlebnis der besonderen Art. Unser gebuchter IRE Berlin-Hamburg fiel aus. IRE ist die Kurzform für Interregio Express. Der Name legt nahe, dieser Zug huschte in Windeseile von der offiziellen in die heimliche Landeshauptstadt. Dabei kröche er, sofern er denn führe, gemütlich in drei Stunden durch die Pampa gen Elbe. Doch er fiel ja aus – wie eigentlich immer, beschied uns eine Frau an der Information.

Üblicherweise entert man als Bahnkunde in einem solchen Fall einfach einen beliebigen Ersatzzug, und alle sind zufrieden. Nicht aber den IRE! Der nämlich ist von dieser Regel ausgeschlossen. Obwohl wir also ein gültiges Ticket vorzuweisen hatten, zwang uns die Bahn, ein neues Ticket zu kaufen. Zum Tagespreis, und der war happig: 135,20 Euro für zweimal Berlin-Hamburg einfach, im ICE. Die Rückerstattung dieses Betrags sei indes nicht sicher, eröffnete man uns beim gleichzeitig mit dem Ticket übergebenen Fahrgastrechteformular. Aber wir könnten es ja mal probieren. Und ob wir das mal probieren! Mit Begleitschreiben!

Für den ICE, den wir dann ersatzweise bestiegen, hätte man uns gleichwohl nach Maßgabe der UN-Menschenrechtskonvention gar keine Tickets mehr verkaufen dürfen. Denn darin befand sich die Bevölkerung einer halben Kleinstadt, überall standen, lagen, hockten so schlecht gelaunte wie riechende Menschen herum, auch in den Gängen, vor den Türen, und manche hatten neben ausladenden Koffern auch Zwillingskinderwagen dabei. Das war das Szenario. 

Zeitweise war sogar unsicher, ob diese zuggewordene Presswurst überhaupt losfahren würde. Selbstverständlich war die anfangs noch erreichbare Toilette in der Nähe unseres Standplatzes weit jenseits jeder Funktionsfähigkeit; in der Schüssel stand die Brühe bis zur Brillenkante. Ms. Columbos spätere Versuche, in beide Richtungen wenigstens noch irgendein Klo zu erreichen, scheiterten daran, dass sich die Leute, Koffer und Zwillingskinderwagen praktisch bis zur Decke stapelten. Wie ihr erging es natürlich auch vielen anderen, weshalb die Gefahr von Pipileaks minütlich wuchs.

Wären uns diese Zustände bekannt gewesen, hätten wir natürlich gar kein Ticket gekauft und den ICE (nach vorherigem Toilettengang!) trotzdem grimmig geentert. Und den Zugbegleiter hätte ich sehen wollen, der den Schneid gehabt hätte, deswegen eine Diskussion anzufangen …! Aber natürlich kamen von denen auch keiner durch.

Am Ende bleibt die Frage, warum die Bahn uns überhaupt eine IRE-Fahrkarte verkauft hat, obwohl dieser Geisterzug die Strecke Berlin-Hamburg anscheinend gar nicht mehr bedient. Aber vielleicht erwarte ich auch einfach zu viel von einem deutschen Dienstleister im 21. Jahrhundert.




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26 Oktober 2019

Ein lehrreicher Saunabesuch

„Normale“ Smartphonezombies haben ihr Suchtmittel selbstverständlich immer und überall dabei. Sie karriolen damit blind über Radwege, torkeln gegen Poller oder bekommen einen Herzkasper, wenn man im Vorübergehen leise „Buh“ macht. Die ganz harten User haben es vermutlich auch auf dem Klo in Gebrauch und allerhöchstens beim Sex und unter der Dusche nicht. (Bei einem der beiden Szenarien bin ich mir allerdings nicht so sicher.)

Bislang dachte ich, dass auch eine 90-Grad-Sauna zu den wenigen Tabuzonen gehören müsste. Das aber ist, wie sich heute herausstellte, falsch. Mir gegenüber in der Sauna nämlich saß im Halbdunkel ein wohlbeleibter Mann, und ich erkannte erst, was da Schwarzes neben ihm auf der glühenden Holzbank lag, als er es hochnahm, aufklappte und ein aufflammender Bildschirm uns Saunabesucher in fahles Licht tauchte.

Der Mann schaute kurz drauf, klappte sein Smartphone wieder zu und legte es zurück auf die vor Hitze leise knackende Holzbank. Ein iPhone zum Beispiel soll nur bei Temperaturen bis zu 35 Grad zuverlässig funktionieren. In der Sauna herrschten heute – wie erwähnt – ungefähr 90 Grad. Läge sie, die Sauna, in einer Höhe von 2981 Metern, finge dabei Wasser an zu kochen. Die Ionen seines Handys müssen sich gefühlt haben, als tanzten sie auf einer eingeschalteten Herdplatte um ihr Leben. 

Vor vielen Jahren habe ich übrigens einmal vorm Betreten eben dieser Sauna vergessen, meine Brille abzunehmen, und als ich den Raum nach zehn Minuten verließ, waren die Kunststoffgläser angeschmolzen. Die Brille war Schrott. Fielmann verhielt sich damals sehr kulant, was unbedingt für diesen Brillenverkäufer spricht, doch Ähnliches sollte der Kollege aus der Sauna von seinem Smartphonehersteller nicht erwarten. Das ist zumindest der erhellenden Webseite Saunazeit zu entnehmen. 

Übrigens verdanke ich dem heutigen Saunabesuch noch eine weitere Erkenntnis: Nicht bei allen Frauen ist der 70er-Jahre-Busch verpönt. Aber das nur nebenbei.

PS: In verständlicher Ermangelung eines Fotos der oben geschilderten Situationen gibt es eins vom Solarium um die Ecke.


24 Oktober 2019

Die Badenixe

Gestern, an einem kühlen, aber sonnigen Herbsttag, saß ich mittags an der Alster und möfelte mein Pausenbrot, als plötzlich eine Dame von etwa 60 Jahren sich ihrer Kleider entledigte. Darunter trug sie einen dunklen Badeanzug. Sie betrat den Steg, und dann ging sie ein paar Runden schwimmen.

Im Anschluss lief sie – weiterhin im Badeanzug und tropfnass – zehn Minuten lang auf dem Holzsteg hin und her, ehe sie zur Bank neben meiner ging, wo ihre Sachen lagen, und sich abtrocknete.

Ein älteres Rentnerpaar trat herbei und sagte: „Das machen Sie nicht zum ersten Mal, nöch?“ Die Dame bestätigte das lächelnd. „Wie viel Grad hat denn das Wasser?“, lautete die nächste Frage. „Woher soll ich das denn wissen?“, blaffte die Dame stolzvergnügt zurück, ließ sich dann aber doch zu einer Schätzung herab: „Auf jeden Fall unter 15 Grad.“

Das Rentnerpaar trollte sich bewundernd. Und ich alter Kiezianer, der ich wollmützengeschützt an diesem kühlen, aber sonnigen Herbsttag mein Pausenbrot möfelte, fühlte mich plötzlich eins ganz und gar nicht mehr: hartgesotten.


22 September 2019

Ich hatte ein Wristband!

Das Reeperbahnfestival sorgt seit 14 Jahren jeden September für Feiertage auf dem Kiez – genauer gesagt taten das die diesmal 50.000 Indiefans, die von Mittwoch bis Samstag durch die auf der Karte zu sehenden Clubs zogen. Darunter ich. 

Dank meiner Akkreditierung war ich dieses Jahr ein „Wristbandholder“ und hoffte, dass mein Wristband vier Tage Höchstbelastung (darunter Duschen) aushalten würde, ohne abzufallen. Dann wäre ich nämlich aufgeschmissen gewesen.

Diesmal hatte ich mir nur ein loses Programm zusammengestellt. Ich wollte mich einfach quer durch St. Pauli treibenlassen – von Gig zu Gig, von einem (mir unbekannten) Act zum andern. Doch so einfach war das nicht. Im Pooca am Hamburger Berg machte ich gleich wieder kehrt, als ich drinnen auf Menschen mit glühenden Zigaretten stieß. Für so was bin ich einfach zu alt (obgleich ich es als Kind noch erleben durfte, wie die Erwachsenen sogar im Auto rauchten, bei geschlossenen Fenstern und mir auf dem Rücksitz).

Vor einigen Clubs stieß ich auf grimmige Türsteher, die „Einlassstopp!“ grummelten, was auch schon längst per Pushnachricht auf meinem Smartphonebildschirm aufgeploppt war, aber dank des gegenüber normalen Kiezabenden noch mal deutlich dezibelreicheren Grundbrummens rundherum war mir das entgangen. Zwar hätte ich mir als offizieller Wristband- und Akkreditierungskärtchenholder trotzdem Zutritt verschaffen können, doch mich in einen brechend vollen Laden zu quetschen, wo ohne Bazooka weder Theke noch Klo in absehbarer Zeit erreichbar gewesen wären, dafür bin ich – Sie ahnen es – zu alt.

Problemlos gelang indes das Entern des Sankt-Pauli-Museums, vor dessen Eingang ich vergangenes Jahr Günter Zint bei seiner Attacke auf ein Verkehrsschild ablichten konnte. Dort sang der isländische Singer/Songwriter Teitur Magnússon, ein rotbärtiger Nordmann mit Pelzmütze, aber verblüffend elfenähnlicher Bübchenstimme. Wenn wirklich Gott die Menschen – und somit auch Herrn Magnússon – erschaffen hat, dann muss man sagen: ER hat Sinn für Humor.

Im Moondoo an der Reeperbahn stieß ich auf die junge, dünne argentinische Elektrokünstlerin Catnapp. Ihre Schläfen waren rasiert, dafür wippte ein einzelner langer Rastazopf im Rhythmus kalter blauer zuckender Strahler und dem reeperbahnerschütternden Beben ihrer Breakbeats und -bässe. Es war faszinierend. Im Berliner Berghain soll sie eine große Nummer sein. Hoffentlich trägt sie regelmäßig Ohrstöpsel, sonst geht es ihr irgendwann wie Sven Väth.

Freitag dann Elbphilharmonie. Zwar passt der Kulturtempel nur suboptimal zu einem Festival, das vor allem auf kleine Clubs und Indiekünstler setzt, doch wie könnte ich das bemäkeln, wenn dort die schwedische Songwriterin Anna Ternheim auftritt, die ich seit ihrem ersten Album verehre (Näheres dazu in diesem Buch)? 

Der schwarze Herrenanzug, den sie trägt, umschlottert sie derart, dass ich die Journalistin, die neben mir sitzt und Ternheim erst neulich interviewt hat, frage, ob diese damit ein eventuelles Untergewicht zu kaschieren trachte. Das sei sicher nicht so, heißt es, Ternheim sei sehr normalgewichtig.

Mit Sicherheit ist sie auch sehr duldsam mit dem unbotmäßigen Verhalten ihres blonden Schopfs. Hätte ich eine Frisur, die mich dazu zwänge, mir alle acht Sekunden die Strähnen aus dem Gesicht zu wischen, ich legte mir augenblicks eine gänzlich andere zu. Andererseits verfügte ich als jemand, der sich seine spärlichen Reststoppel zweimal die Woche auf einen halben Millimeter Länge runterkürzt, gern über ein solches Luxusproblem.

Ternheim jedenfalls wischt sich während ihres Auftritts hochgerechnet circa 600-mal die Haare aus dem Gesicht, derweil das sie begleitende Kaiser Quartett ihre schönsten (und leider auch einige mittelprächtige neue) Songs in apartesten Kammerpop kleidet. Hätte Ternheim statt des herumrumpelnden Drummers einen Perkussionisten dabeigehabt, das Ganze wäre als Zauberabend in die Reeperbahnfestivalgeschichte eingegangen. Das Publikum war trotzdem euphorisiert bis zum Aufspringen und mehrfach Zugabefordern.

Genau so wie das des kanadisch-ukrainischen Pianoschrats Lubomyr Melnyk am Samstag in der St.Pauli-Kirche. Der 71-Jährige, ein leicht berberhaft wirkender Grauzausel in ausgebeulter Cordhose, ist sozusagen das missing link zwischen Rachmaninov und Steve Reich, nur dass er schneller spielt als Lucky Lukes Schatten. 

Damit schafft Melnyk wellenartig dröhnende Klangmuster, von denen er behauptet, die (für ihn eh verdammenswerte) Digitaltechnik sei zu träge, um sie adäquat aufzunehmen. Warum der Mann an seinem Verkaufsstand trotzdem neben Vinyl auch CDs anbietet, gehört zur Dialektik dieses Festivals – des weltweit besten von ganz St. Pauli, wenn nicht des ganzen Planeten.

Mein Wristband hat übrigens vier Tage lang durchgehalten. Gegen die Schere Samstagnacht war es aber hilf- und machtlos.



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