Vom Tanzen habe ich zirka so viel Ahnung wie ein Karpfen von Atomphysik. Ein Manko, das mir vor allem in der Pubertät erhebliche Nachteile bescherte. In der Dorfdisco stand ich immer am Rand und guckte ersatzweise expressiv geheimnisvoll, um so auf die abhottende Weiblichkeit vielleicht auch ohne Schlenkereien interessant zu wirken.
Hat aber nie funktioniert. Die heißesten Schnitten bekamen immer die Jungs mit den Gummigelenken, auch wenn die sonst nichts zu bieten hatten. Aber pubertierenden Mädchen ist so was egal. Hormone folgen stets dem Beat, nie der Birne.
All das muss ich erst einmal vorwegschicken, um etwas begreiflich zu machen, was ich selbst noch nicht so ganz kapiere: mein jüngst entflammtes Interesse am Tanz. Genauer: dem Ballett. Der Grund dafür liegt in einem Korrekturauftrag, den ich vor einigen Wochen an Land ziehen konnte. Er kam vom SWR-Journalisten Thomas Aders, der einen dokufiktionalen Roman geschrieben hat über einen Ballettchoreografen namens John Cranko.
Noch nie hatte ich diesen Namen gehört, aber das ist beim Korrekturlesen natürlich egal. Man liest halt das, was man kriegt, ob chinesische Philosophen oder das „Wuhan Diary“, streicht die Fehler an, setzt oder eliminiert Kommas, schlägt Umformulierungen vor. Am Ende schreibt man eine Rechnung, und auf geht’s zum nächsten Projekt.
Diesmal aber war es anders. Schon nach wenigen Seiten von Aders’ Roman „Seelentanz“ über das rauschhafte kurze Leben des einstigen Stuttgarter Ballettchefs Cranko, der in den 60er-Jahren das schwäbische Ensemble auf Augenhöhe mit dem Bolschoi und damit zu anhaltendem Weltruhm führte, geriet ich in einen ziemlich unprofessionellen Leseflow.
Als Lektor und Korrektor ist es ja ähnlich wie bei jeder anderen Arbeit auch: Man tritt morgens seinen Dienst an, und wenn er spätnachmittags vorüber ist, kümmert man sich um die Freizeitgestaltung. Doch bei Aders’ „Seelentanz“ ertappte ich mich dabei, freiwillig noch eine Schicht dranzuhängen, und wenn abends das Haus und der Kiez zur Ruhe kamen, dann erwachte in mir nicht selten der Wunsch, noch ein paar Seiten weiterzulesen. Arbeit und Privates verschmolzen miteinander, die Grenzen zwischen Pflicht und Leselust verschwammen.
Ich, genetisch ausgestattet mit dem Rhythmusgefühl eines arthritischen Breitmaulnashorns, interessierte mich plötzlich für Pas de deux, droit und quatre, wollte auf einmal mehr wissen über ouzonasse Nächte beim Stuttgarter Griechen Pireus, die Beziehungswirren der Startänzerin Marcia Haydée oder den fast fatalen Knöchelbruch der legendären Babyballerina Birgit Keil. Und ich – man glaubt es kaum – lud mir plötzlich Cranko-Ballette von YouTube runter!
Was war nur los mit mir? Nun, ich war einem verzaubernden Buch verfallen, in das der Autor sein Herzblut derart hineinfließen ließ, dass es wie eine Transfusion wirkt. Sogar auf einen Tanzmuffel wie mich. Und ich bin froh und stolz, irgendwie Teil dieses Projektes zu sein, auch wenn ich nur der Kommasetzer und -eliminierer vom Dienst war.
Man kann „Seelentanz“ ab sofort hier erwerben, und das kann ich jedem nur empfehlen. Ballettfans natürlich sowieso – aber vor allem auch jenen, die damals in der Dorfdisco immer nur am Rand standen und denen nichts anderes übrig blieb, als expressiv geheimnisvoll zu gucken.
PS: Hat vielleicht irgendwer eine signierte Autogrammkarte von Marcia Haydée oder Birgit Keil im Angebot? Ich würde wer weiß was dafür geben – und sie im Flur neben die von Frank Zappa hängen.
Update vom 17.10.2024: Vier Jahre nach dem oben geschilderten unvergesslichen Korrekturauftrag ploppt plötzlich wieder der Name Cranko auf, diesmal im Rahmen eines Kinofilms. Sofort nahm ich natürlich hocherfreut an, jetzt habe jemand doch wahrhaftig Thomas Aders’ Herzensbuch verfilmt, und das Erste, was ich tat, war, auf IMDB Infos zum Film aufzurufen. Irgendwo auf der Liste der Beteiligten musste doch sicher der Name meines damaligen Auftraggebers auftauchen, wahrscheinlich als Co-Drehbuchautor, Berater, Ideengeber, überschwänglich Bedankter, was auch immer. Doch nichts da: verwunderlicherweise kein Aders, nirgends.
Nun habe ich mir auch den Film „Cranko“ angeschaut – und meine Verwunderung mindert das kaum, wie ich gestehen muss, denn an vielen Stellen wirkt das bewegende Biopic so, als hätte der Roman nicht nur Pate, sondern gleich als Drehbuchblaupause parat gestanden. Egal ob da eine Ballerina, statt sich aufzuwärmen, lieber warm duscht oder der Generalintendant das Vortanzen einer Bewerberin mit despektierlichen Blicken und Kopfschütteln kommentiert: So steht es im Buch, und so zeigt es der Film. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die mich – wäre ich Thomas Aders – ziemlich auf Zinne bringen würden.
Was ich mit alldem auch sagen will: Lesen Sie das Buch, schauen Sie den Film. Beides wird Ihr Schaden nicht sein, im Gegenteil.