24 November 2012

Der Biss in die Bank

Neulich joggte Kramer abends mit Musik auf den Ohren durch Eppendorf. Dabei übersah er eine perfide verdunkelte Parkbank (Symbolfoto). Er traf sie auf der schmalen Seite.

Über Kramers Schienbein setzte eine naturgesetzlich bedingte Hebelwirkung ein, die seine Einsneundzig in einer parabelartigen Flugbewegung längs auf die Parkbank knallen ließ. Dabei schlug Kramer seinen Oberkiefer kraftvoll ins unschuldige Holz dieser Eppendorfer Sitzgelegenheit.

Wie er uns am Folgetag mit aufgeschlagener Oberlippe und lockerem Vorderzahn berichtete, sei allerdings unmittelbar nach dem Aufprall keineswegs die aufgeschlagene Oberlippe oder der lockere Vorderzahn das größte Ärgernis gewesen, sondern die Tatsache, dass sein iPod weiter ungerührt Musik spielte.

Und zwar einen Song der Schweizer Band Die Aeronauten.

Quälend zähe Sekunden lang befingerte Kramer demnach den vielfach verfluchten Player, ehe er den Soundtrack zu seinem Unglück endlich stoppen konnte.

Besorgte Passanten, die den zitternd und zeternd auf einem kleinen weißen Kasten herumdrückenden Trumm von Mann nach seinem Wohlbefinden fragten, beschied er in verwaschenem Duktus und unangemessen schroff, alles sei „in Ordnung“. Doch das stimmte nicht. Nichts war in Ordnung.

Und dass ausgerechnet eine Band namens Die Aeronauten Kramers Sturzflug auf die Eppendorfer Parkbank untermalte: Das hat schon ein G’schmäckle, liebes Schicksal.

21 November 2012

Das schwere Atmen

Heute tauchte zum wiederholten Male die Hamburger Telefonnummer 040-808044935 in der Anrufliste unserer Fritzbox auf. Normalerweise steht diese Nummer einfach im Protokoll, denn dem ominösen Anrufer ist es bisher zuverlässig gelungen, uns nie zu Hause anzutreffen.

Heute aber war etwas anders, nämlich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Zu hören ist, wie jemand 50 Sekunden lang schwer in den Hörer atmet. Im Hintergrund Trubel und Stimmengewirr, meist weiblichen Zuschnitts.

Eine Webrecherche legt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um den Kontaktversuch eines o2-Callcenters handeln könnte. Das beweissichere Hinterlassen schweren Atmens erwarte ich aber normalerweise nicht von o2. Nicht mal von der Telekom.

Warum 040-808044935 immer wieder mal anruft, aber nie etwas sagt, sondern allenfalls schwer atmet, könnte darauf hindeuten, dass sie Arbeit bloß simuliert – „hier, Chef, das sind die 1278 Nummern, die ich heute angerufen habe, krieg ich jetzt ne Gehaltserhöhung?“

An dieser Taktik muss 040-808044935 auch künftig nichts ändern, denn dass ich die Nummer jetzt endlich in die Fritzbox-Sperrliste eingetragen habe, kriegt sie gar nicht mit. Angeblich hört sie nämlich trotzdem ein Freizeichen – wir aber das Klingeln (und Atmen) nicht mehr.

Wieder mal eine Win-win-Situation, wie ich sie sehr, sehr schätze.



19 November 2012

Selig gehört (vermutlich)

 „Da vorne ist Jan Plewka! Ich habe Jan Plewka gesehen!“, brülle ich Ms. Columbo zu. Wir stehen im Kellerclub Molotow. Vorn auf der Bühne, die nicht zu sehen ist, sollen Selig spielen. Klingt auch danach.

Wenn man am Eingang des Molotow-Bühnenraums vor einer unnachgiebigen Wand aus Rückenfronten steht, hat man vielerlei Probleme, die in mehreren Dimensionen anzusiedeln sind.

Zum einen ist der Sound von strunzdumpfer Breiigkeit, aber wenigstens bläst er einem nicht das Hirn aus dem Schädel: Die Front der unnachgiebigen Körper wirkt wie ein riesiger Punchingball, der den Schall teilabsorbiert. Zugleich verhindert sie zuverlässig unser weiteres Vordringen.

Um die Situation zu verschärfen und den Weltrekord in der Disziplin „Unzumutbare Konzertbedingungen“ nicht aus den Augen zu verlieren, minimiert die unmittelbar überm Scheitel des Publikums ansetzende Molotow-Decke außerdem den Sichtspalt Richtung Bühne auf Schlipsbreite – und ich meine nicht die Schlipsmodelle aus den 70ern.

Aus irgendeinem Grund erhasche ich gleichwohl einen Bühnenblick und erkenne den Bart des Sängers. „Da vorne ist Jan Plewka! Ich habe Jan Plewka gesehen!“, brülle ich daher Ms. Columbo zu. Sie scheint mir zu glauben, und wenn nicht, dann spätestens jetzt, mit diesem Beweisbild:




Das süße Discokügelchen über der Treppe, die harmlos tuend hinabführt in den Molotow-Höllenschlund, sollten die Betreiber übrigens unbedingt abhängen. Aus Sicht der zuständigen Jury gefährdet sie möglicherweise den Weltrekord in der Disziplin „Unzumutbare Konzertbedingungen“.


15 November 2012

Glück im Unglück und im Keks


Neulich vermisste ich meine Kamera. Nirgends war sie zu finden. Ich schickte Rundmails an die üblichen Verdächtigen, ohne Erfolg.

Als ich drei Tage später zu Hause eine Jacke von der Garderobe nahm, sah ich sie plötzlich wieder. Sie hing mittels der Handschlaufe an einem der Jackenknöpfe. Die ohne Zweifel gerichtsfeste Rekonstruktion des Vorfalls lautet hiermit folgendermaßen:

 

Als ich den Parka, in deren Brusttasche sich die Kamera üblicherweise befindet, drei Tage zuvor von der Garderobe genommen hatte, verfing sich die Schlaufe im Knopf der darunter hängenden Jacke. Die Kamera wurde dadurch sanft und unbemerkt herausgezogen und blieb dort baumeln.

Die üblichen Verdächtigen waren also wirklich unschuldig. Das war Vorfall Nummer eins, der glimpflich ausging. Vorfall Nummer zwei betraf mein iPhone. Es befindet sich ebenfalls gerne mal in der Brusttasche des Parkas.

Beim Schlendern übern Flohmarkt fand ich es allerdings zu meiner Verblüffung in der Umhängetasche, in der ich normalerweise Flohmarkfunde wie rare Edelweine verstaue, aber niemals das iPhone.

Auch hier gelang mir dank meiner Sherlock-Holmes-schen Kombiniationsgabe eine lückenlose Beweisführung des Tathergangs: 


Ich hatte in einer Kiste gewühlt, die auf dem Boden stand, und mich tief hinabgebeugt. Dabei war das iPhone klammheimlich aus der Brusttasche gefallen – aber nicht etwa in die Kiste, sondern in meine Umhängetasche, die mir ob meiner gebeugten Körperhaltung und wohl auch in weiser Voraussicht vom Rücken vor den Oberkörper gerutscht war.

All das geschah
direkt vor meinen Augen und doch vollkommen unbemerkt. Zwei entscheidende Gadgets, ohne die mein Leben trübsinnig wäre und voller Harm und Ödnis, sind also aus purem Dummenglück weiterhin in meinem Besitz.

„Mit all dem“, fasste Ms. Columbo diese Slapsticknummern zusammen, „könntest du im chinesischen Staatszirkus auftreten.“ Anscheinend bin ich gebenedeit unter den Schusseln.

Apropos China: Im Asiarestaurant Bok im Schanzenviertel erwischte ich neulich oben abgebildete Glückskeksbotschaft, die meine gesamte Berufslaufbahn der vergangenen 25 Jahre trefflichst auf den Punkt bringt.

Irgendwie ein toll(dreist)er Monat, dieser November, wenn ich dieses Fazit schon mal ziehen darf.

13 November 2012

Meine Killerskills als Linguist

Über unseren Köpfen dreht sich die wahrscheinlich größte Discokugel St. Paulis und überflackert die Stuckengel an den Wänden mit silbrigem Gesprenkel. Kein Zweifel: Wir sind in der Prinzenbar, wo die Südtiroler Frauenband Ganes konzertiert.

Die aparten Damen haben die urige Eigenart, auf Ladinisch zu singen. Dabei handelt es sich einer Theorie zufolge um das Überbleibsel eines alten lateinischen Dialekts aus der römischen Provinz Raeta. Vielleicht importierten aber auch Außerirdische das Ladinische vom Aldebaran; jedenfalls höre ich fasziniert zu.

„Sie rollen das R wie die Spanier“, informiere ich überraschend sachkundig Ms. Columbo, „und manche Nuschellaute klingen deutlich nach Portugiesisch.“

„Das Stück gerade“, antwortet sie, „war aber auf Italienisch.“

Hmpf. HMPF.

Im Anschluss singen die Grazien zum Glück und ganz ohne Rrrrollen und Nuschellaute Bob Marleys „Redemption Song“, und ich bin froh, dass Ms. Columbo das Thema nicht weiter vertieft.

11 November 2012

Die Stille nach dem Kuss

Die Hälfte der Republik soll ja laut Wetterkarte heute mit bis zu 100 Liter Regen pro Quadratmeter gewässert worden sein. Wie so oft aber erfreute sich Hamburg stattdessen eines blitzeblanken Sonnentags, der sich an der Alster wie oben dokumentiert bemerkbar machte.

Bevor wir zu diesem schönen Spaziergangsziel aufbrachen, sah ich an der Reeperbahn einen rauchenden Mann, der ein Werbeplakat des russischen Staatsballetts auffällig unauffällig umschlich und musterte.

Plötzlich beugte er sich hinunter und drückte der abgebildeten Tänzerin einen schüchternen Kuss aufs Ballettröckchen. Dann eilte er rasch davon.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde so was recht seltsam, sogar wenn man Kiezkriterien zugrunde legt.

09 November 2012

Eine kleine Gewalt Fantasie


 

Ich glaube, wir müssen uns allmählich wirklich vom altehrwürdigen zusammengesetzten Hauptwort verabschieden.

Über Jahrhunderte tat es tapfer seinen Dienst, übte sich lustvollst im Kreieren von Neuschöpfungen, schmolz zusammen, was oft nicht mal ahnte, dass es zusammengehört, schuf wie aus dem Nichts neue Wort- und damit Sinnwelten.

Diese Ära geht nun zuende, gewalt- und grausam. Denn die Kompositazerstückelung grassiert inzwischen in einem Maße, wie sie in der Vergangenheit nur in Serienkillerhaushalten vorkam. Irgendwann werden in der deutschen Sprachlandschaft nur noch Wort fet zen her um lie gen, zuckend und zappelnd und den letzten Rest ihrer Semantik aushauchend.

Das oben dokumentierte Beispiel eines Promoteranschreibens, das mich heute erreichte, ist nur die Spitze des Scheißbergs, ich schwör. So was bloß als „Deppenleerzeichen“ zu diskreditieren, wäre eine Beschönigung, der ich mich keinesfalls schuldig machen möchte.

Nein, Hopfen, Malz und das zusammengesetzte Hauptwort scheinen verloren. Oder gibt es einen Untergrund, in den man gehen könnte, um zurückzuschlagen? Könnte man von dort aus nicht mit kapitalen Kompositakanonen auf diese Spatzen Hirne schießen?

Wenigstens einen Vorteil hätte es ja, dass schon so viele davon herumflattern: Man träfe garantiert mit jedem Schuss.

07 November 2012

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (77)

Das Komet in der Erichstraße wäre auf dem Kiez nicht nur wegen des Hank-Williams-Bildes die weltweit liebenswerteste Kneipe – würde man dort als Gast nicht zugepestet wie bei einem Werbermeeting 1963 in der New Yorker Madison Avenue.

Aber man kann schließlich nicht alles haben.

06 November 2012

Entscheidungshilfe erbeten

Auf dem Schlachthofflohmarkt ist mir die abgebildete Flasche Sauternes-Wein von 1967 (!) für einen lächerlichen Preis in die Hände gefallen.

Da der Wert dieser Kreszenz laut einer kurzen fiebrigen Webrecherche aber eher in den dreistelligen Eurobereich hineinlappt, stellt sich mir nun eine (ge)wichtige Frage: trinken oder verticken? Und wenn trinken: mit wem?

Bewerbungen bitte in den Kommentaren.

03 November 2012

01 November 2012

Vermutlich im Crackmodus

Gebrüll von draußen hat mich ja schon oft auf den Balkon getrieben, und häufig boten sich mir illustre Szenerien. Ich verweise nur auf einen legendären Polizeieinsatz von 2009.

Diesmal sehe ich einen Mann mit Astraknolle, der unten an der Postfiliale irgendwas schreit, das verschwommen nach „Fuck!“ klingt, im Kreis läuft und immer wieder mit einem Fuß voraus gegen die Wand der Postfiliale springt.

Er scheint wie gefangen in dieser Kreisbewegung, dieser Abfolge, diesem Schreien und Springen. Manche, die auf ihn zulaufen, wechseln 20 Meter vorher die Straßenseite. Andere, deren Unbekümmertheit ich bewundere – schließlich könnten sie unversehens in eine Situation
geraten wie Bart Simpson auf dem abgebildeten Ottenser Graffito –, laufen an dem tobenden Kreisläufer vorbei, als wäre er gar nicht da.

Bis vor einigen Wochen hätte ich überhaupt nicht kapiert, was da vor sich geht, was mit diesem Mann los ist, warum er in diesem beängstigenden Modus gefangen ist. Inzwischen bin ich schlauer und vermute einen unvorsichtigen Umgang mit Crack.

Also Balkontür zu und ab in die Heia. Am nächsten Morgen ist alles wieder ruhig, und an der Wand der Postfiliale kann ich keinerlei Schäden erkennen.

28 Oktober 2012

Es gibt Wichtigeres als J. Los Hintern

Mit den fröhlichen Worten „Komm, lass uns Jennifer Lopez auf den Hintern starren!“ lockte ich Ms. Columbo heute Abend erfolgreich in die o2-Arena nach Stellingen. Und da ich gebenedeit bin unter den Musikjournalisten, durften wir das Konzert in der Loge ihrer Plattenfirma Warner Music verbringen.

Die Wände dort sind geschmückt mit Porträts der bedeutendsten Labelkünstler, also Kalibern wie Miles Davis, Ray Charles, Neil Young, Lou Reed … Warner-Chef Bernd Dopp genoss sichtlich meine sinnierende Bewunderung dieser geballten Galerie der Kreativität und erzählte nicht unstolz, er sei mit sämtlichen abgebildeten Künstlern persönlich bekannt, nur mit einem nicht: Frank Sinatra.

Dabei hatte er alles versucht und ihm einst, in den 80ern, die Bitte um ein Treffen mit einer in die Garderobe geschickten Flasche Schampus schmackhaft zu machen versucht. Der Assistent des Meisters beschied ihm allerdings nach sorgfältiger Prüfung Folgendes: „Mr. Sinatra zieht es vor, Sie nicht zu treffen. Doch er bedankt sich für den Champagner.“ Für The Voice war diese Lösung anscheinend das Musterbeispiel einer Win-win-Situation.

Dopp informierte mich des Weiteren darüber, dass Paul Simons Tage in der Galerie bald gezählt seien, denn die Rechte an seinem Lebenswerk seien just an Sony Music verkauft worden. „Ehe Sie das Bild wegwerfen, geben Sie es mir“, hörte ich mich spontan sagen – und zwar leider nicht eingedenk der hier im Blog unlängst geschilderten Strategie, zu Hause kulturelle Bestände im großen Stil abzubauen.

Sofort schritt Dopp zur Wand, nahm das Bild ab und überreichte es mir. „Wir hätten es wirklich weggeworfen“, sagte er. Verblüfft und dankbar nahm ich das Geschenk an und schaffte es später beim Rausgehen sogar, das Foto an den Sicherheitskräften vorbeizuschmuggeln, ohne des Diebstahls verdächtigt zu werden.

Ich war also losgezogen, um Jennifer Lopez auf den Hintern zu starren – und kehrte zurück mit dem gerahmten Porträt eines der größten Songpoeten der Popgeschichte (vgl. „Duncan“ oder „The Boxer“).

Eigentlich habe ich das also nicht verdient. Und Lopez’ Hintern ist keineswegs so spektakulär, wie immer alle sagen.

26 Oktober 2012

Pareidolie (50): Das taucht was

Die Hamburger Fotografin Gundel Deckert kann natürlich nichts dafür, aber ihre abstrakt wirkenden Wasserbilder bringen meine eigenartigen visuellen Sensoren ziemlich auf Touren.

Durch die Vernissage im Speditionshaus lief ich jedenfalls mit voll pareidolisiertem Tunnelblick – und wurde prompt an einigen Stellen fündig.

Oder zeigt das abgebildete Fotodetail einer mallorquinischen Mittelmeeroberfläche etwa keinen schlafenden spitznasigen Mann, der in eine Gustav-Klimt-artig gemusterte Decke gehüllt ist? Und hält er nicht eine flokatiummantelte Wärmflasche in der rechten Hand?

Sehen Sie: Jetzt sehen Sie es auch.

PS: Eine ganze Galerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.

23 Oktober 2012

Time to say goodbye


Der Beginn einer neuen Ära ist stets von Übergangsproblemen geprägt.

Seit mehreren Wochen versuchen wir unsere Bücher zu verschenken, weil wir auf E-Reader umgestiegen sind. Doch die jahrzehntelang gewachsene Wand scheint trotz mehrfacher Ortstermine mit vermeintlich guten Freunden kaum abzunehmen.

Dabei schlugen hier schon Leute mit Rollkoffern auf, sogar mehrfach. Dem ersten Kandidaten hatte ich für 50 Euro freie Auswahl versprochen – und null Euro, wenn er alles mitnähme, inklusive Brettern, Streben und Haken. Unter fadenscheinigen Vorwänden („Platzprobleme“) wählte er die Variante für 50 Euro. Die er uns übrigens immer noch schuldet.

Am vergangenen Sonntag nötigten wir daher ein halbes Dutzend Menschen aus dem innersten Zirkel, sich zwecks freier Bücherentnahme gefälligst in unserem Wohnzimmer einzufinden. Sogar der Heavy-Kindle-User German Psycho war dabei, allerdings – wie Sie völlig richtig vermuten – aus ganz anderen Gründen: Er sollte jeden, der sich am Ende der Veranstaltung ohne Bücher zu fliehen anschickte, höflich an seine Pflichten erinnern – mithilfe seiner Chromaxt.

Gelockt hatten wir nicht nur mit der Aussicht auf kostenlosen Lesestoff, sondern auch mit Espresso und portugiesischen Natas, was schließlich sogar den Franken aus seiner Eimsbütteler Höhle auf den Kiez trieb. Dabei erstickt dieser heillose Büchermessi zu Hause bereits jetzt zwischen Zellulosestapeln, für deren Produktion halb Manaus abgeholzt werden musste.

Ihn dabeizuhaben erschwert die ganze Sache zudem auf der Diskussionsebene erheblich. „Wasss?“, blökte er beim empörten Fingern im Regal, „du verschenkst Eckhard Henscheids Trilogie des laufenden Schwachsinns?? Die hast du von MIR!“ Müde schaute ich vom Espresso hoch. „Kannst du das beweisen?“, fragte ich zurück, „ist etwa eine Widmung drin?“

Widmungen hält der Franke allerdings generell für uncool, weshalb sein Vorwurf ungefähr so gut belegt war wie die Existenz des Yeti. Muffelnd steckte er also die Schwachsinnstrilogie in eine Stofftasche, die ich ihm gutmütig hinhielt, während er kopfschüttelnd irgendwas von „Ist sogar die Erstauflage“ murmelte.

Bevor wir die Meute aufs Regal losließen, hatten wir natürlich alle echten Herzensbücher und signierten Preziosen diskret beiseite geschafft. Und manches Lieblingswerk, das es nicht als E-Book gibt, habe ich neulich nach Amerika verschickt, wo es gerade jetzt, in diesem Moment, wie ich soeben per Mail erfuhr, fachgerecht guillotiniert, eingescannt und mir demnächst im Kindle-Format wieder zugemailt wird. Ein E-Phönix aus der Asche!

Wir ernten übrigens sehr viel Kritik, seit wir unseren Abschied vom toten Holz eingeleitet haben. Wie könnt ihr nur!, heißt es häufig. Die Sinnlichkeit des Anfassens! Das Rascheln der Seiten! Der Duft! Ja, klar. Aber haben Sie schon mal die gebundene Ausgabe von David Foster Wallace’ „Unendlicher Spaß“ mit auf eine Urlaubsreise genommen? Ich schon.

Nein, ich blättere mit großem Vergnügen einhändig per Tastendruck, trage liebend gern eine virtuelle Bücherwand in der Jackentasche herum wie einen verborgenen Schatz. Und ich lese weitaus mehr, öfter und länger, seit der Kindle mein Leben bereichert.

Am Ende hatte übrigens auch German Psycho seine speziellen Pflichten vergessen und einen halben Meter sinnlich anzufassender, raschelnder, duftender Bücher aus dem Haus geschafft. Und trotz alledem ist die Wand erneut kaum geschrumpft.

Sogar der „Faust“ steht noch da. Banausen, echt.


20 Oktober 2012

Der Tag der seltsamen Satzfetzen

Beim Kiezbäcker stand heute Morgen ein bulliger Vollbartträger vor mir in der Schlange und sagte: „So, und jetzt noch was nur für die Augen.“

Noch ehe ich imaginieren konnte, was er damit wohl meinen könnte – vielleicht Schwarzwälder Kirsch mit Sahnehäubchen? – konkretisierte er seinen Wunsch: „Zwei Brötchenhälften mit Mett!“ Natürlich reagierte der Kiezbäcker wie üblich: mit fatalistischer Gelassenheit. 

 
Später auf dem Flohmarkt hörte ich im Vorübergehen einen weiteren sehr seltsamen Satzfetzen. Eine Frau sagte zur anderen: „… ich habe nämlich ein Problem mit toten Vögeln: Sie machen mir Angst.“

Wenn Sie also demnächst auf St. Pauli unterwegs sein sollten, passen Sie besser auf, was Sie sagen: Matt hört mit.

Und verbloggt es.


18 Oktober 2012

Die Generation 50 plus unter sich

Matt: Bringst du mir morgen mal die neue „Pastewka“-Box mit?
Franke: Klar. Schickst du mir eine Mail zur Erinnerung?
Matt: Gern, wenn du mich an die Erinnerungsmail erinnerst.
Franke: Das habe ich bis heute Abend wieder vergessen.
Matt: Ich auch. Aber ich versuche, dran zu denken.
Franke: Ebenfalls.


Zum Glück läuft die Serie freitags auch im Fernsehen.

15 Oktober 2012

Um elf Cent reicher

Das Fahrrad immer draußen vor unserem Haus anzuschließen, führt nicht nur dazu, dass es regelmäßig – der Schnitt beträgt etwa drei Jahre – gestohlen wird. Erheblich öfter dient es als Ablagefläche, wobei Sattel und Gepäckträger ungefähr gleich oft die Leidtragenden sind.

Meist sind es Getränkebehälter, die halb oder ganz ausgetrunken auf meinem Fahrrad abgestellt werden. Neben Bierbüchsen fand ich auch schon mehrfach Plastikbecher mit gelblichen Flüssigkeiten vor, bei denen ich stets hoffte, es möge sich doch bitte um Limonade handeln. Überprüft habe ich es freilich nie, auch olfaktorisch nicht.

In Western oder Krimis der 70er hätte der breitkrempig behütete Held in einem solchen Fall die Augen zu Schlitzen verengt, einen Finger in den Becher getunkt, dann dran geleckt und gesagt: „Urin. Es ist Urin.“

Aber das hier ist das 21. Jahrhundert, wir sind auf St. Pauli, solche Sachen müssen unbedingt ungeklärt bleiben.

Halbaufgegessenes Fastfood ist ebenfalls eine beliebte Hinterlassenschaft, die mein Fahrrad geduldig aufbewahrt, bis Herrchen es morgens losschließt. Neulich lagen sogar mal zwei Münzen auf dem Sattel, ein 10- und ein 1-Cent-Stück. Herzlichen Dank.

Das neuste Geschenk vom Universum war ein grauer Wollschal von gar nicht mal unbescheidener Provenienz, der achtlos um den Lenker geschlungen war. Er schien mir ob seiner Qualität nicht geeignet für den nur wenige Meter entfernten Mülleimer, in den ich sonst alles entsorge, was ich auf dem Rad vorfinde (bis auf die elf Cent).

Deshalb fasste ich ihn mit spitzen Fingern an und drapierte ihn auf dem Lenker des Nachbarfahrrads. Dafür möchte ich mich hiermit unaufrichtig entschuldigen.


13 Oktober 2012

Bye, Nils

Mitte oder Ende der 90er, als ich noch mit J. befreundet war, erzählte er mir, er würde häufig mit dem Sänger Nils Koppruch verwechselt.

In der Tat sahen die beiden sich ähnlich, doch es gab einen Unterschied: Immer, wenn man Koppruch auf den Straßen oder in den Kneipen von St. Pauli begegnete, sah er – im Gegensatz zu J. – übernächtigt aus.

Er schien wenig zu schlafen und viel zu arbeiten, als Musiker und als Maler. Schon früh hatte er tiefe Falten im Gesicht, er war praktisch immer unrasiert, und wenn man seinem Blick begegnete, fielen einem die dunklen Augen auf.

Am Mittwoch ist Nils Koppruch plötzlich gestorben, mit 46.
Meine Generation.

Seinen tiefen Stirnfalten wird man auf St. Pauli nie mehr begegnen. Und bald werden auch die Kerzen und Blumen vor seinem Atelier in der Wohlwillstraße wieder verschwunden sein.



10 Oktober 2012

Der ununterdrückbare Reflex

Auf der Reeperbahn und drumherum ist es unvermeidlich, unablässig angebettelt zu werden. Am scheißfreundlichsten tun es die zahlreich auf dem Gehweg lagernden Punks.

Wenn du dich näherst, unterbrechen Sie kurz das Tätscheln ihrer Hunde, tänzeln geschmeidig herbei, machen ironische Verbeugungen, während sie mit Plastikbechern rasseln, und verabschieden dich übertrieben höflich; schließlich weiß man nie, ob man sich nicht noch mal sieht im Leben. Oder später am Tag.

Paradoxerweise unterliege ich dem ununterdrückbaren Reflex, das tagtägliche Ansinnen der Punks stets mit einem gemurmelten „Nein, danke“ zu beantworten – ganz so, als böten sie mir etwas an, statt etwas von mir zu wollen. Im Nachhinein schüttle ich immer den Kopf über mich, doch wenn mich das nächste Mal ein Punk anbettelt, das weiß ich schon jetzt, rutscht mir garantiert wieder dieses ununterdrückbare „Nein, danke“ raus.

Die Reeperbahnpunks müssen sich schwer wundern über mich. Aber was soll ich tun? Das ist wohl eine Typenfrage. Oder genetisch bedingt. Denn wenn mich jemand anrempelt, sage ich auch automatisch „Entschuldigung“ statt „HEY! AUFPASSEN, DIGGA!!“

Als ich neulich mal wieder über die Reeperbahn lief, geriet ein Mann, der mir entgegenkam, gerade ins Schleppnetz eines becherschüttelnden Punks. Er schaute den devot grinsenden Burschen düster an und sagte dann einen Satz, den ich mir merken muss. Dringend.

Der Mann sagte: „Lass ma gut sein.“

Genial. Warum kommen immer nur andere Leute auf so was? Und warum rutscht mir morgen stattdessen garantiert wieder ein ununterdrückbares „Nein, danke“ raus?

Vielleicht bin ich doch nicht kieztauglich. Nach 16 Jahren auf der Reeperbahn und drumherum wäre das allerdings eine derart betrübliche Erkenntnis, dass ich sie hiermit innerlich empört von mir weise.


08 Oktober 2012

So haben wir nicht gewettet!


Von: Matt Wagner
An:  Reinhold Beckmann
Date: Mon, 8 Oct 2012 23:20:26 +0200
Subject: So haben wir nicht gewettet!


Lieber Reinhold Beckmann,

heute wende ich mich in einer etwas delikaten Angelegenheit an Sie, aber wat mutt, dat mutt, wie wir hier in Hamburg sagen. Aber das wissen Sie ja, Sie wohnen ja auch hier.

Ich muss ein klein wenig ausholen. Im Dezember vergangenen Jahres waren ich und weitere Hamburger Journalistenkollegen zum Weihnachtsessen der Kölner Agentur Position ins Kiezrestaurant Abendmahl eingeladen. Ein hochgeschätzter Traditionstermin, bei dem es alljährlich so kulinarisch wie feuchtfröhlich zugeht. Medienleute, Sie wissen ja …

Die promillebefeuerte Stimmung an jenem Abend mag auch mit ein Grund für eine kleine Wette gewesen sein. Zufällig nämlich saß ich neben Frau Paul aus Ihrer Redaktion, und wir diskutierten angeregt bei ein, zwei (oder drei) Gläsern Wein über die damals noch hochbrisante Frage, wer wohl Nachfolger von Thomas Gottschalk bei „Wetten, dass …“ werden würde.

Für Frau Paul war sonnenklar: Johannes B. Kerner würde es werden und niemand sonst. Ich bestritt das vehement, es ging hin und her, ich brachte aller vertraglichen Verpflichtungen zum Trotz sogar Sie ins Spiel. Auf dem Höhepunkt der Diskussion schlug Frau Paul mir eine Wette vor. Sollte Kerner es werden, so lautete der Deal, hätte ich ihr eine Flasche Wein zu spendieren, wenn nicht, dann umgekehrt. Wenn Sie mögen, können Sie diesen Vorgang sogar im Internet nachlesen, denn ich habe ihn damals unter dem Titel „Kerner und der Weltuntergang“ verbloggt.

Nach Abschluss dieser Wette herrschte eine für mich, wie ich fand, außergewöhnlich komfortable Situation. Denn sobald irgendeiner der sieben Milliarden Erdbewohner mit Ausnahme von Johannes B. Kerner den Job bekommen würde, wäre ich um eine Flasche Wein reicher. Ich will jetzt nicht sagen, dass meine Gewinnchance 7.000.000.000:1 war. Aber sie war größer als die von Frau Paul, so viel war sicher.

Nur wenige Tage nach diesem Essen im Abendmahl schienen meine Chancen allerdings zu schwinden, denn die Agenturen meldeten die Rückkehr Kerners zum ZDF. Oha, dachte ich, wird hier etwa das Feld bereitet für die Übernahme von „Wetten, dass …“? Eine Mail an Frau Paul, in der ich ihr konzedierte, auf dem richtigen Weg zu sein, blieb leider unbeantwortet.

Zum Glück wurde es Kerner aber dann doch nicht. Wie wir alle inzwischen wissen und ich damals schon felsenfest ahnte, kam schließlich doch ein anderer der sieben Milliarden Erdbewohner zum Zug, nämlich Markus Lanz. Am 11. März stand die Personalie fest, und augenblicklich schrieb ich eine zwar tröstende, allerdings auch die Einlösung unserer Wette ansprechende Mail an Frau Paul, in der ich um Abstimmung der Übergabemodalitäten bat.

Doch wieder keine Antwort.
Kein guter Stil.
Und bis heute: kein Wein.

Deshalb wende ich mich in meiner Ratlosigkeit nun an Sie, ihren Chef. Vielleicht können Sie in dieser – wie gesagt: delikaten – Angelegenheit vermitteln. Es muss auch kein teurer Wein sein, da bin ich gesprächsbereit. Aber es sollte ein Wein sein. Schließlich haben wir gewettet.

Zeugin war übrigens ironischerweise eine Kollegin aus der Redaktion von Markus Lanz, aber das nur am Rande.

In der Hoffnung auf eine baldige und positive Antwort verbleibt Ihr ergebener Medienkonsument

Matt Wagner

PS: Eine trockene Spätlese vom Moselweingut Kallfelz würde ich nicht von der Bettkante stoßen.

PPS: Frau Paul ist natürlich auf CC.


05 Oktober 2012

Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde

Hm, wenn ich die Sachlage historisch richtig rekonstruiere, dann waren jene Uhren, die durchs bloße Mitsichherumtragen in Gang gehalten wurden, einst deswegen das große Ding, weil sie weder händisch aufgezogen noch mit Batterien betrieben werden mussten.

Diese Uhren vereinten auf verblüffend sinnige Weise das damalige Bedürfnis nach allumfassender körperlicher Entlastung (kein nerviges Aufziehen mehr) mit dem aufkeimendem Ökotrend (weniger umweltschädliche Batterien).

In diesem historischen Kontext ist für mich Naivchen der strombetriebene Automatikuhrenbeweger, den ich diese Woche (und wahrscheinlich wieder mal erst mit jahrelanger Verspätung) bei Tchibo entdeckte, eine recht überraschende Entdeckung. Bei Amazon kann man für so was übrigens auch gerne mehr als 39 Euro ausgeben, zum Beispiel 180.

Dafür kriegt man dann aber auch einen Megaautomatikuhrenbeweger aus neuseeländischem Gehäuseholz mit verchromten Scharnieren und Hochglanzklavierlack in Makassaroptik (was immer das ist). Und alles nur, damit die Uhr niemals nicht wackelt.

Ja, es ist eine fremde und seltsame Welt. Vor allem für einen, der nur eine Uhr hat: die da rechts oben auf dem Monitor meines Macbooks.

Habe ich eigentlich schon den Deppenbindestrich erwähnt, den Tchibo in die Produktbezeichnung eingebaut hat? Nicht?



02 Oktober 2012

Meine Begegnung mit dem Hulk

Nach mehr als einem Jahr des Trainierens haben sich an der Beinpresse im Fitnessstudio 170 Pfund als mein persönliches Optimum herauskristallisiert.

Die erste Übungsausführung hat es zwar jedes Mal ganz schön in sich, weil der Anfangswiderstand überwunden werden muss. Ist das aber erst einmal geschafft, ringe ich mir in der Folge rund 70 Wiederholungen ab, plus 100 kurze.

Gut, die Latte an der Beinpresse lag auch schon mal eine Zeitlang auf 190 Pfund, doch da ächzten und knirschten meine Knie derart, dass ich ihrem Gnadengesuch stattgab. Schließlich tu ich das alles nur für sie: Muskelaufbau zwecks Entlastung der verschlissenen Gelenke. Dazu sag ich an dieser Stelle nicht mehr, sonst wird es schnell unappetitlich, und Ms. Columbo liest diesen Eintrag nicht zu Ende.

Während ich am Samstag mein Programm an der Beinpresse durchzog, schnürte ein Hulk Marke Deathmetalroadie durchs Studio. Seine Wallelocken fielen ihm bis auf die Schultern, mit denen Samson den Einsturz selbst des Burj al Arab mühelos verhindert hätte.

Der Hulk trug Grungebart und Holzfällerhemd, jede seiner Waden waren praller als Claudia Roths Oberschenkel zusammen. Insgesamt gab der nicht eben hochgewachsene Mann dadurch eine erstaunlich quadratische Figur ab. Das Verhältnis Länge zu Breite war allenfalls 1,2:1, wenn überhaupt.

Er schlenderte durch den Raum, schaute sich interessiert die Geräte an, setzte sich mal hier-, mal dorthin, probierte, zog und drückte. Irgendwann saß er auch an der oben erwähnten Beinpresse.

Einen Fuß hatte er auf die Platte gestellt, den anderen auf den Boden. Und jetzt drückte er mit ungefähr jener Anstrengung, mit der eine Geisha den Fächer führt, um dir Luft zuzufächeln, die Platte vor und zurück. Hätte nur noch gefehlt, dass er sich dabei eine Büchse Bier aufmacht und in der neuen Ausgabe des Metal Hammer blättert.

Einen Blick aufs eingestellte Gewicht konnte ich leider nicht erhaschen. Dabei hätte ich schon brennend gern gewusst, was er sich da so aufgelegt hatte und warum er das Ganze ein- und nicht zweibeinig drückte.

Ich absolvierte weiter mein Programm und behielt den Trumm unauffällig im Auge. Irgendwann griff er nach seinem Handtuch und verließ das Gerät. Ich wartete kurz, damit meine Neugier nicht auffiel, und näherte mich dann wie zufällig der Beinpresse.

Zunächst fand ich den Stift gar nicht, der das Gewicht einstellt. Mein Blick wanderte nach unten, immer tiefer und tiefer, und dann sah ich es.

Hulk hatte 490 Pfund gedrückt, das Höchstgewicht. Mit einem Bein.

Ich fühlte mich ein wenig betäubt. Hochgerechnet auf beide Beine heißt das: Der Mann wäre in der Lage, an der Beinpresse, wo ich die Überwindung des Anfangswiderstands von 170 Pfund routinemäßig mit einem erbärmlichen Ächzen zwangskommentiere, ungefähr eine halbe Tonne zu drücken.

Was macht so einer beruflich – hebt er den Bandbus von Motörhead in Parklücken, die zum Rangieren zu eng sind? Übt er Speerwerfen mit Baumstämmen? Jongliert er zum Aufwärmen nicht mit Kegeln, sondern mit Otti Fischer?

170 ist eine ziemlich fade Zahl, ehrlich gesagt.


30 September 2012

Volksverdummung auf dem Kiez

Hier in St. Pauli stößt man zurzeit öfter auf das oben abgebildete Plakat; es wendet sich gegen die Gentrifizierung unseres Viertels. Inhaltlich kann man das ja durchaus gutheißen – doch ästhetisch ganz und gar nicht.

Wir beide, Ms. Columbo und ich, fühlten uns jedenfalls unisono an antijüdische Hetzplakate der Nazis erinnert: Ein ins Groteske übersteigertes Menschenmonster – Goebbels hätte von „Volksschädling“ gesprochen – macht sich über etwas her, das eigentlich uns allen gehört. Die Grundidee des Plakats steht verblüffend unverblümt in dieser Propagandatradition; die volksverdummende Plumpheit der Darstellung ebenso.

Hier zum Vergleich zwei historische antisemitische Beispiele (Quellen: links, rechts), von deren Überzeugungskraft sich die hiesigen Antigentrifizierer anscheinend inspirieren ließen:  

 


Man könnte fast zum Fan der Gentrifizierung werden.


27 September 2012

Pareidolie (49): Die Lösung des Roswell-Rätsels

Wenn wirklich 1947 in Roswell Aliens abgestürzt sind, dann weiß ich jetzt auch, wo und wie sie von der US-Regierung schließlich um die Ecke gebracht wurden:

im Hörnumer Hafen auf Sylt, erstickt mit einem armdicken Tau.

PS: Eine ganze Galerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.


26 September 2012

Öffentliche Selbstkritik

Ich muss ja eine hämische Genugtuung eingestehen, wenn Leute, die oberschlau dem denglischen Zeitgeist nach dem Mund reden wollen, orthografisch – und in der Folge auch semantisch – voll gegen die Wand fahren.

Dafür findet man natürlich überall Beispiele („Back Shop“ etc.), aber selten so schöne wie heute in Westerland auf Sylt. Der gute Jan Schwarze, der möglicherweise gar nicht mal schlecht darin ist, Sanitäreinrichtungen zu entwerfen, hat nämlich mit seinem „Bad Design“ ein wunderbares Eigentor geschossen.

Jeder Kunde aus dem englischen Sprachraum wird über so viel öffentlich demonstrierte Selbstkritik erstaunt sein und sich lieber einen Baddesigner suchen, der sein Handwerk auch versteht.

Und wer der deutschen Rechtschreibung halbwegs mächtig ist, wird dem guten Herrn Schwarze raten, sich künftig (nein: am besten gestern) vor Deppenleerzeichen tunlichst zu hüten.

Wie hiermit geschehen.


25 September 2012

Sylt unter

Hey, Ms. Columbo, sagte ich irgendwann im Juli sinngemäß zu Ms. Columbo, lass uns Ende September ein paar Tage auf Sylt verbringen. Spätsommer am Meer, verstehst du, mit Strand, Sonnenöl und Waffeleis, das wird ein Fest!

„Morgen“, sagt Ms. Columbo gerade in der Westerländer Ferienwohnung zu mir, wo wir tolle Filme auf DVD gucken, „soll laut Wetterbericht nur die Hälfte an Regen runterkommen.“

Das wird ein Fest!


24 September 2012

Sooo Billstedt

Am dritten Tag des Reeperbahnfestivals machten sich allmählich Verschleiß-, wenn nicht gar Zerfallserscheinungen bemerkbar. So vergaß ich sowohl den Zettel mit meinem Tagesprogramm als auch meinen Fotopass.

Verstört irrte ich über den Kiez, wo zum Glück jeder zweite Laden reeperbahnfestivaltechnisch bespielt wurde. In einige kam man allerdings nicht mehr rein. Und vor anderen war die Schlange lächerlich lang.

Wegen des Rappers Cro, der die schrullige Angewohnheit hat, nur mit einer Pandamaske aufzutreten, reichte sie vom Docks bis fast zur Davidwache. Ohne mich! Stattdessen holte ich mir mein persönlich längstes Konzert des Festivals ab, nämlich eine volle Stunde Okta Logue im Angie’s.

Für das kürzeste sorgte hingegen die britische Rapperin Speech Debelle (Einschub: Mein saublödes Rechtschreibprogramm verbesserte ihren Namen gerade eigenmächtig in „Debile“). Ich erwischte sie just in dem Moment, als sie den letzten Vers ihres Auftritts ins Auditorium schmetterte und dann ging.

Was nach diesen handgestoppten 34 Sekunden blieb, war der rein optische Eindruck einer stämmigen Frau in Jogginghose. Der lustigste Moment des Festivals passierte aber im Café Five an der Reeperbahn und hatte mit Musik nichts zu tun.

Zwei junge Frauen stritten sich auf dem Damenklo, wie mir aus glaubwürdiger Quelle zugetragen wurde, bis der einen der Kragen platzte. „Halt die Klappe!“, rief sie ihrer Kontrahentin zu, „du klingst sooo Billstedt!

Bei Billstedt, das für Nichthanseaten, handelt es sich um einen sogenannten Problemstadtteil, der gewiss zu den Hauptentsendungsgebieten der hier am Wochenende regelmäßig einfallenden Prollmassen gehören dürfte. Ja, es liegen mir sogar intuitive Indizien dafür vor, dass eventuell jemand aus Billstedt den abgebildeten Mümmelmann auf der Wandtapete der Hasenschaukel verschönert hat.

Wie auch immer: In ihrem von einem innigen Abgrenzungswunsch motivierten Ausruf „Du klingst sooo Billstedt!“ schien die junge Frau eine Herkunft aus einem kultivierteren Hamburger Stadtteil nahelegen zu wollen.

Mein Eindruck vom Kiezpublikum während der drei Festivaltage war ähnlich: Hier dominierten endlich mal nicht die krakeelenden Wer-ist-schneller-hackedicht-Heinis, sondern Indiefans aller Altersgruppen. Die Sauf-, Gröl- und Pöbelfraktion ging gleichsam in der Masse der Musikinteressierten unter, sie wurde komplett absorbiert.

Das Wochenende auf den Straßen St. Paulis war demzufolge geradezu eins zum Wohlfühlen, und diesen Satz habe ich noch nie in dieser Deutlichkeit ausgesprochen.

Daher mein Appell an die Verantwortlichen: Wiederholt bitte das Reeperbahnfestival jede Woche. Egal, wer dann noch sooo Billstedt klänge: Seine Stimme wäre nur noch ein Hintergrundrauschen.

Ich finde diesen Vorschlag übrigens ziemlich großartig.

23 September 2012

21 September 2012

Das Leben kann so einfach sein

Ich war ja sooo dumm.

Seit anderthalb Jahrzehnten suche ich nach einem Bannspruch, der mich schlagartig vom Kobern der Huren befreit. Anderthalb Jahrzehnte habe ich wirkungslose Konter gesetzt wie „Nein danke, ich bin verheiratet“ (Antwort: „Das kriegt die doch nicht mit.“) oder „Ich bin schwul“ (Antwort: „Ich dreh dich um.“).

Und gestern fliegt mir der Bannspruch wie zufällig zu, eine spontane Eingebung, die so naheliegend ist, dass ich mich frage, wieso ich nicht schon von anderthalb Jahrzehnten darauf gekommen bin.

„Kommste ma mit?“, fragt die Hure in der Davidstraße. „Nö“, sage ich. „Warum nicht?“ Und dann rutscht es mir raus, knapp, klar und schnörkellos:

„Kein Geld.“

Blam! Die Hure prallt zurück wie das Elbhochwassser vor der Flutschutzwand, dreht wortlos eine Pirouette und ist weg. Kein Geld: Das Leben kann so einfach sein.

Dieser beglückende Vorfall war ein später Höhepunkt des ersten Tags des Reeperbahnfestivals, dessen Spektrum von einer Smashing-Pumpkins-artigen Band aus Singapur namens Monster Cat bis zum mitternächtlichen Gig des ESC-Sternchens Lena im Schmidts Tivoli reichte.

Kein Geld. Hoffentlich vergesse ich den Spruch nicht wieder.

PS: Lorna Thomas von der großartigen irischen Folkpunkband Skinny Lister beugte sich übrigens nur rein zufällig in dem Moment vor, als ich auf den Auslöser drückte. Dieses Dekolleté ist also reiner Zufall, ich schwör!


18 September 2012

Fundstücke (164)

 

1. Das Cinemaxx-Kino glaubte eine todsichere Methode ersonnen zu haben, um mich zu seinem willenlosen Dauergast zu machen: Man überzog sämtliche Sitze mit Ritter-Sport-Werbung. Anscheinend liest man dieses Blog – aber nicht genau genug: Denn viele, viele Schokosorten waren vertreten, indes nicht die von mir über alle Maßen begehrte und verehrte „Dunkle Voll-Nuss“. Na gut, es gibt ja auch noch das UCI.


2. Warum ich immer mal wieder ganz gerne Produktrezensionen auf Amazon.de lese.


3. Ein vergötternswerter Mensch aus Rendsburg hat drei Stunden auf meiner Seite verbracht und dabei 200 Einträge aufgesaugt. Das ist übrigens auch ungefähr mein Lesetempo im Internet.




4. Ein Satz, der so vieles auf den Punkt bringt. Vielleicht alles. Entdeckt in der Ufafabrik in Berlin.