Zu Hause nämlich war dieses so vielseitig verwendbare Lebensmittel aufs Höchste verpönt und wurde mit allen Anzeichen des Ekels sogar verbal weitgehend tabuisiert. Käse hatte kalt zu sein, basta. So die Direktive meines Vaters. Gegen diese offenbar naturgegebene Tatsache wurde auch mütterlicherseits niemals verstoßen, so dass mein erster Pizzeriabesuch mich zugleich mit der verführerisch verbotenen Welt des erhitzten Milchproduktes konfrontierte, obgleich mein anerzogener Ekel nur peu a peu weichen wollte.
Bald aber bestellte ich meine Pizza mit doppelt Käse, und heute scheint es mir, als sei diese Ungeheuerlichkeit die erste allegorische Andeutung der sich nur wenig später anbahnenden offenen Rebellion gegen meinen Vater gewesen. Was mit warmem Käse begann, erfasste bald auch die Sphäre des politischen Diskurses („Solange du die Füße unter meinen Tisch streckst …!“) und endete in Kriegsdienstverweigerung, Anti-Strauß-Buttons, Kirchenaustritt und konfrontativ gemeintem Politikstudium in Marburg, wo ich Ms. Columbo kennenlernte – der Rest ist Geschichte.
Und alles nur wegen doppelt Käse auf der Pizza.
Eigentlich wollte ich aber eine ganz andere Rialto-Geschichte erzählen, nämlich die von der Tabascowette. Auf die Doppelschicht Käse kippten wir uns stets einen Hauch Tabasco, jenes teuflische Höllengebräu, das schon bei der geringsten Überdosierung mit deiner Mundschleimhaut etwas anstellt, für das „Halloween“-Killer Michael Myers noch ein Fleischermesser benötigte. Manche in der Clique gingen dennoch deutlich weiter und färbten die Pizzaoberfläche streifig rot.
Der Wagemutigste von uns war W., ein grobschlächtiger Sympath, der später ebenso vergnügt wie erfolgreich eine Metzgerlaufbahn einschlug. Irgendwer regte angesichts W.s beeindruckender Tabascodosis eine Wette an, die wir alle rasch und gerne unterstützten. Wenn er, W., in der Lage sei, so die durchaus sadistisch grundierte Offerte, ein randvolles Schnapsglas Tabasco zu trinken, dann werde ihn der Pizzaabend im Rialto keinen müden Pfennig kosten; die Zeche übernähmen wir.
W. war ein Mensch der Tat, was er noch oft in seinem Leben beweisen sollte, ob im Schlachtraum oder bei mancher Schulhofschlägerei. Allerdings geriet er nun ins Grübeln, was die Dimension der Herausforderung unterstrich. Doch dann ließ er sich entschlossen ein Schnapsglas bringen, und einer von uns übernahm das Befüllen desselben.
Angesichts der wohlweislichen Konstruktion einer Tabascoflasche – stets verlässt trotz heftigen Schüttelns nur ein kleiner definierter Strahl den Flaschenmund – geriet dies zu einer recht langwierigen Aufgabe. Doch irgendwann war es geschafft, das Glas war voll, und sein Anblick erfüllte uns mit Demut und Respekt. Ein Schauder durchfloss uns, doch wir überspielten den Ernst der Lage mit derben Scherzen auf W.s Kosten.
Der Proband indes zögerte nicht lange; er wusste instinktiv: Ein Ende mit Schrecken war weiterem Hadern und Zaudern unbedingt vorzuziehen. Er verfuhr nach einer bewährten Hamburger Methode, welche ich allerdings erst viele Jahre später so pointiert kennenlernen sollte: Nich lang schnacken, Kopp in’n Nacken.
Ich erinnere mich an unser atemloses Schweigen. Und daran, wie wir W. mit riesigen Augen anstarrten. Er sagte nichts. Er saß einfach da, vor sich das leere Glas, und keuchte unterdrückt. Wir starrten und sahen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Aber er sagte nichts. Dann kroch es ihm rot ins Gesicht, glitzernder Schweiß rann ihm von der Stirn und tropfte auf die Tischdecke, direkt neben das leere Glas.
Sein Kopf begann auszusehen wie eine mutierte Gentomate. W. sagte noch immer nichts. Wahrscheinlich waren seine Stimmbänder gelähmt. Doch tief unter dieser rotglühenden, immer keuchender atmenden, schweißnassen, um Struktur und Halt kämpfenden Oberfläche, die wir mit offenen Mündern anglotzten, gloste schon sein Triumph, und wir spürten ihn alle.
W. hatte vorsorglich Wasser geordert, was er nun in sich hineinzuschütten begann (es hätte unbedingt etwas Milchiges sein müssen, doch das weiß ich erst heute), er bestellte flaschenweise nach und litt triumphierend eine ganze Weile, viel länger, als es nötig gewesen wäre.
So wurde W. an einem einzigen Abend zum Helden – ach was: zur Legende. Er war der Junge, der ein Glas Tabasco auf ex kippte und alles durchlitt und ertrug, was unweigerlich folgte. Er war der Junge, der ein Glas Tabasco auf ex kippte und schwieg. Einige Jahre später erwischte ihn eine Hirnhautentzündung, er schwebte tagelang zwischen Leben und Tod, doch er überstand auch das.
Keiner von uns folgte ihm je ins Tabascoland des Feuers und des Schmerzes, dessen Geheimnisse er allein geschaut hatte. Für mich war er eine Art Livingstone oder Amerigo Vespucci: einer, der tollkühn ins Unbekannte aufgebrochen war, um gereifter, weiser zurückzukehren in die Welt der Verzagten. In die Welt der Tabascotröpfler.
Und alles wegen einer Pizza mit doppelt Käse, für lau.
Ex cathedra: Die Top 3 der feurigsten Songs
1. „She's hot“ von The Rolling Stones
2. „Texas chili“ von Country Gentlemen
3. alles von den Red Hot Chili Peppers