06 August 2013

High five, Hieronymus

Heute las ich auf Spiegel online die Geschichte eines US-amerikanischen Touristen, der in einem Museum in Florenz einer mittelalterlichen Statue den Finger abgerissen hat. Eventuell wollte er ihr ein high five geben.

Der (US-amerikanische!) Direktor des Museums, Timothy Verdon, beklagte laut Spon bitterlich die verrohten Sitten im Hier und Jetzt: „In einer globalisierten Welt wie der unseren“, schüttelte der Mann fassungslos den Kopf, „scheint man eine der grundlegenden Regeln für den Besuch von Museen vergessen zu haben: nämlich dass man die Werke nicht anfassen darf.“

Nun, ich kann ihn beruhigen: Das gilt nicht nur für eine globalisierte Welt wie die unsere, sondern auch für die unglobalisierte von gestern. Mir ist nämlich ein ähnlicher Fall aus den 80er Jahren bekannt. Er spielte in der Alten Pinakothek in München, und der für die verrohten Sitten zuständige Vollhorst war – ich.

Damals war ich ganz vernarrt in Deep Purples titelloses, doch nach seinem zentralen Stück als „April“ bekanntes Album, welches ein Gemälde des niederländischen Meisters Hieronymus Bosch (1450–1516) als Covermotiv zeigt. Das Bild ist Teil des Triptychons „Der Garten der Lüste“ und bekannt als „Die musikalische Hölle“ (s. Ausschnitt oben).

Darauf wird munter gemetzelt und gemeuchelt, und zwar gerne auch mal mit Musikinstrumenten; dass Deep Purple mit dieser Coverwahl also sich selbst und die Rezeptionsgeschichte des Hardrock ein wenig auf die Schippe nehmen, ging mir erst viele Jahre später auf, genauer gesagt: gerade eben.

In seiner Lust an Folterszenen jedenfalls zeigt der Maler höchst eindrucksvoll, welch verheerende Wirkung die Lektüre der Bibel auf die Synapsen selbst eines Jahrhundertgenies haben kann. Mit seiner psychedelischen Apokalyptik lieferte Bosch quasi die „Saw“-Serie des Mittelalters und wirkte damit auf das noch nicht völlig ausgeformte Hirn des jungen Matt durchaus faszinierend, zumal in Verbindung mit der Musik von Deep Purple.

Boschs Bilder boten schaurigschöne Trips in die Hölle und zurück, echt wahr, und mit diesem Vorwissen ging ich auf Klassenfahrt nach München und landete in der Alten Pinakothek. Und siehe da: Dort hing zu meinem wohligen Erschaudern ein echtes Gemälde von Herrn Bosch! Er höchstselbst hatte den Pinsel geführt, seine Hände die Leinwand gespannt.

Selbstverständlich handelte es sich wieder mal um eine fieberheiße Höllenfantasie abgründigster Natur. Es war aber nicht „Der Garten der Lüste“, das weiß ich noch. Welches Werk aber dann? Leider nicht mehr festzustellen, denn heutzutage hängt kein Bosch mehr in der Alten Pinakothek, wie eine kurze Recherche ergab – und ich hoffe nicht, dass diese Tatsache irgendetwas mit mir zu tun hat.

Ich stellte mich jedenfalls fasziniert vor Boschs Bild, welches einfach so an der Wand hing, ungeschützt, weder in einer Vitrine noch hinter einer Scheibe; wenn ich mich recht erinnere, hielt nicht mal eine Anstandskordel unsereins auf Abstand. Nein, der 500-jährige Firnis der Leinwand wurde unmittelbar umfächelt von der Atemluft der Moderne, falls man so großmütig sein möchte, die trüben 80er dieser Ära zuzurechnen.

Neben mir hielten sich verwirrte Mitschüler auf, die ich mit meinem Deep-Purple-generierten Bosch-Fachwissen zutextete. Während der Exegese wies ich mit dem Finger mal hier-, mal dorthin, kam der Leinwand in meinem Eifer plötzlich unbemerkt sehr nah – und dann geschah es:
 

Ich berührte sie.

Mein Finger auf der Farbe, die Hieronymus Bosch einst aufgetragen hatte. Mal eben ein halbes Jahrtausend überbrückt mit einer unbedachten Bewegung. Hier Hieronymus, der Kunstolympier, da ein Deep-Purple-Fan in einem schlecht sitzenden 80er-Jahre-Cordsakko, und beide teilten jetzt und für immer eine Erfahrung: die gleiche Stelle auf einem unsterblichen Gemälde berührt zu haben.

In meiner Erinnerung dauerte es keine zwei Sekunden vom erschreckten Zurückzucken meiner Hand bis zum Losheulen einer Sirene. Ich eilte geduckt weg vom Tatort, meine Mitschüler hinterher. In der Alten Pinakothek herrschte Aufregung, Ordnungskräfte eilten herbei, die Besucher schauten erschrocken, wildes Stimmengewirr.

Ich eilte durch die Menge zum Ausgang – adrenalinüberflutet, weil ich mir intuitiv sicher war, der Grund für den Alarm zu sein. Und ich entkam.

Was mich heute vor allem wundert, ist die widersprüchliche Strategie des Museums. Einerseits konnte jeder, der sich der damals noch unglobalisierten Welt zum Trotz bereits präventiv verrohte Sitten antrainiert hatte, ein Gemälde betatschen, weil es ungeschützt dahing; andererseits löste anscheinend schon ein Moskito, der sich im Garten der Lüste eine Verschnaufpause gönnen wollte, einen Großalarm in halb Bayern aus.

Jedenfalls habe ich noch nie einer florentinischen Statue einen Finger abgebrochen, und das plane ich dereinst, wenn Hieronymus Bosch mich zur Rede stellen wird, zu meiner Verteidigung anzuführen. 


Und dann werden wir uns ein high five geben.


20 Kommentare:

  1. Ach... Sie waren das !! hmmm....

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  2. Ja, jetzt ist es raus. Habe letzte Nacht auch schon viel besser geschlafen.

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  3. Sehen Sie und seitdem hat Sie die Muse geküsst: good old Hieronymus hat seine schöpferischen Kräfte direkt auf Sie übertragen und lässt Sie so schöne Geschichten schreiben.
    Von mir aus auch: Hiernonymus. Oder Hieronmyus.
    Warum heißt der Kerl nicht einfach Fritz?

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  4. Ihnen bleibt auch nichts verborgen. Bzw. blieb.

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  5. "Mit seiner psychedelischen Apokalyptik lieferte Bosch quasi die „Saw“-Serie des Mittelalters ..."
    Des Mittelalters? Bosch war Künstler der Renaissance und damit der Neuzeit, wenn auch an ihrem Beginn. Mit einer solchen zeitlichen Fehleinordnung verursachen Sie vielen Menschen in diesem Land ähnliche Schmerzen, wie ein falsch gesetztes Apostroph wohl Ihnen.
    Daher wünschen ich Ihnen mit großem Vergnügen noch einen schönen Abend und beste's Wetter in Hamburg!

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  6. Gut, exakt war meine Angabe nicht. Aber auch nicht so weit daneben, wie Sie tun. Als Mittelalter gilt die Zeit zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert, und das lappte immerhin noch in die Lebenszeit des Malers. Aber stimmt schon: Renaissance trifft es besser. Ein falscher Apostroph ist trotzdem ein schlimmeres Verbrechen, so!

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  7. Nachdem er der Welt die Düsternis seines Zeitalters karikierte erteilte er, auf seinem Sterbebett liegend, seinen Nachkommen den Auftrag nachkommende Ären zu erhellen. Mit Scheinwerfern.

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  8. (ist Sterbebett eigentlich stellvertretend zum Möbel an sich oder eher zur Kombination Möbel + Momentum des Einzelnen?) (Das bringt mich zu der Frage: Kann man auf dem Sterbebett eines anderen liegen?) Ich schweife ab wie Halleys Komet nach dem Erlöschen.

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    1. Ich denke schon, dass man im Sterbebett eines anderen liegen kann. Und ehrlich gesagt ist das auch die weit bessere Alternative.

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    2. Dem zweiten Satz stimme ich natürlich zu. Nur ein Narr würde es nicht tun. Doch stelle ich mir obere Frage weiterhin und zweifel, mit Verlaub, Ihren ersten Satz an.Unsicher, da ich keine Antwort auf meine Frage fand bisher. Nun gut, die Frage ist nun auch nur wenige Momente her. Antworten benötigen oftmals etwas länger. Ähnlich dem Abkassiertwerden an der gewählten Kasse im Vergleich derer welch man vorher hätte ausgewählt.

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    3. Sagen wir es so: Jedes, absolut jedes Liegemöbel kann unter unglücklichen Umständen zum Sterbebett werden. Dieses Potenzial wohnt also jedem Vertreter dieser Spezies inne. Der Impuls muss allerdings von außen kommen; insofern steckt in Ihrer Frage auch schon die Antwort.

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    4. Sie meinen bestimmt den Nichtpuls.

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    5. Mit diesem abschliessenden Wort wünsche ich Ihnen eine wohlwollende, nicht zu heisse Nacht und mir noch viele weitere interessant geschriebene und dankanstoss anstössige Blogbeiträge aus der Seilerstrasse. Hut ab vor dem Schreiberling. Welch Wort ich positiv besetz. Schlafen Sie wohl. Ich empfehle mich.

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  9. In der Alten Pinakothek hängt durchaus noch mindestens ein Bosch; ich erinnere mich an das „Fragment aus dem Jüngsten Gericht“. Das scheint Ihren Besuch gut überstanden zu haben.

    http://www.pinakothek.de/alte-pinakothek/die-sammlung/rundgang/obergeschoss-saal-iia

    http://img.posterlounge.de/images/wbig/hieronymus-bosch-fragment-einer-darstellung-des-juengsten-gerichts-223413.jpg

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  10. Ah, danke! Beim „Fragment …“ handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um genau jenes Gemälde, das meinen Fingerabdruck trägt.

    Die Suchfunktion auf der Webseite lieferte keinen Bosch, deshalb mein Irrtum.

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  11. Deep-Purple-Fan? In den 80ern, also mit mindestens 20 Jahren? Mit Verlaub, das kann und möchte ich mir bei Ihnen nicht vorstellen.

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    1. Tja, jeder hat halt seinen Blackmore im Keller …

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  12. Ja natürlich, aber der sollte da dann eigentlich schon in den 70ern eingelagert worden sein, jedenfalls in Häusern späterer Musikpäpste.

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    1. Ach, sollte, hätte, müsste … Das ist mir zu dogmatisch. Ich höre „Catch the Rainbow“ immer noch gern, so.

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