02 Oktober 2005

Die Warnung

Wenn ich sonntagsmorgens zum Brötchenholen durchs Viertel radle, schaue ich nicht in die Ferne, auf die nächste Kreuzung oder den entgegenkommenden Verkehr. Nein, mein Blick klebt am Asphalt.

Nach dem ortsüblichen Fieber der Samstagnacht nämlich sind die Straßen erschöpft und wie erschlagen, und obwohl die Besenwagen schon seit Sonnenaufgang durch St. Pauli kriechen, sind noch überall die Spuren der Ekstase und Ernüchterung zu sehen.


Vor allem die kunterbunte Vielfalt der Scherben zwingt Radfahrer zum starren Blick aufs Terrain unmittelbar vorm Vorderrad. Ich fahre Slalom die Seilerstraße hinunter, biege rechts ab in die Hein-Hoyer-Straße, überquere die Simon-von-Utrecht- und Clemens-Schulz-Straße, hole mir dank akrobatischer Fahrkünste KEINEN Platten und parke vor der Konditorei Rönnfeld.

Der kleine Familienladen trotzt wacker den Attacken von Ketten wie Kamps & Co. und ist sonntags erste Wahl. Dann nämlich steht die alte Frau Rönnfeld höchstselbst im Laden; sie geht auf die 80 zu, ist auf ansteckende Weise kreuzfidel, begrüßt einen mit Namen und hat die üblichen vier Sesambrötchen schon griffbereit zurückgelegt.

Heute lobt sie völlig zurecht das Wetter, das uns nachmittags in den Park Planten & Blomen treibt. Mit seinen Wasserspielen, Waldpfaden und vergnügten Enten macht er fast vergessen, dass wir mitten in einer Millionenstadt leben. Und seine Schilder warnen saisonal unabhängig vor Gefahren – zum Beispiel vor gefährlich dünnen Eisdecken (Foto).

Heute, an diesem glorios sonnigen Oktobertag, wollen wir von so was aber rein gar nichts wissen.

Der Leierkasten

Auf N3 lief gestern eine Doku über St. Pauli, und es ist immer wieder schön, den Kiez im Fernsehen thematisiert zu sehen - vor allem deshalb, weil ja alle Klischees, die so kursieren, auch wirklich mehr oder weniger wahr sind. Sogar, dass hinterm Amüsement die Tragödie hockt, im Halbdunkel.

Über einen fidel aussehenden Typen Marke Althippie, der mir manchmal beim Einkaufen über den Wegt rollt (er sitzt im Rollstuhl und nennt sich Murmel), erzählt mir N3, dass er im Sterbehospiz in der Nachbarstraße lebt und sich sehr darauf freut, bald im Himmel putzen zu können. Er hätte es da oben nämlich gern blitzeblank, wenn Chuck Berry eintrudelt; der Rock'n'Roller ist sein großer Held. Und auch für B. B. King würde er gern die Wolken wienern.

In diesem Film kommt auch die 87-jährige Friede vor, die jahrzehntelang im „Lockenpuff" gearbeitet hat. „Lockenpuff"? Damit meint sie ihren Frisiersalon. In St. Pauli hat eben fast alles mit Sex zu tun. Und der hat - bei aller Schmuddeligkeit - auch seine Ästhetik. Ein Bordell in der Nacht, dessen Leuchtreklame sich in den Dächern der Autos heimelig spiegelt: Das hat was.

Gilt auch für die Lasterhöhle Leierkasten in der Kastanienallee.


01 Oktober 2005

Die Frau auf dem Bürgersteig

Auf dem Weg ins Konzert. Vorm East-Hotel liegt eine junge Frau auf dem Trottoir, umringt von zwei Männern und einer weiteren Frau. Ich steige vom Rad und frage, ob ich helfen kann.

„Nein, alles klar“, sagt einer der Männer, „sie hat sich nur übergeben und ist dann umgefallen. Sie raucht schon wieder.“ Und in der Tat: Das tut sie. Sie liegt langgestreckt und bewegungslos auf den herbstkalten Platten des Bürgersteigs, sie trägt nabelfrei eine goldfarbene Discolackweste – und zieht an der Zigarette, die ihr fürsorglich in den Mund gesteckt wird.

Ob ich nicht lieber einen Arzt rufen soll? Nein, nein, alles klar, alles im Griff.

So radle ich weiter, umfahre ein paar Meter weiter mit letzter Not den strahlenförmig ausgebreiteten Inhalt ihres Magens und erreiche wenig später das Knust, einen zum Kuscheln netten Club im Schanzenviertel, der den großen Vorteil hat, zur Hälfte aus Konzertsaal und zur anderen Hälfte aus Tresen zu bestehen. So lässt es sich leben.

Es spielt Ex-Pulp-Gitarrist Richard Hawley (Foto, mit Heiligenschein) vor lachhaft wenigen Zuschauern (wovon rund ein Drittel der gleichen Spezies wie ich angehören, nämlich jener der Musikjournalisten), doch er schwelgt selbstvergessen im eigenen Oeuvre; es ist, als windsurften wir auf einem Meer aus Paradiescreme. Auf dem Rückweg komme ich wieder am East-Hotel vorbei. Das Quartett ist längst weitergezogen, sogar die Kotze ist schon trocken.

Das Wochenende auf dem Kiez: Es kann losgehen.


30 September 2005

Das Fitnessstudio

Nur drei U-Bahn-Stationen von St. Pauli entfernt: unser Fitnessstudio. Zwei- bis dreimal die Woche wird hier geschwitzt, unter Dauerbeschallung.

Mittags gibt es schon mal Indierock, aber abends wird's oft gruselig. Eurodisco, Blümchentechno, abgedroschenster R’n’B - und zwar so laut, dass du dir die iPod-Ohrstöpsel derart tief in die Muscheln drücken musst, dass sie sich in der Mitte treffen.

Trotzdem herrscht in deinem Kopf die blanke Kakophonie aus Britney Spears und Tim Buckley. Immerhin fördert das die Aggression, was an manchen Geräten von Nutzen ist
.

Am schönsten ist es in der Umkleidekabine. Sie ist groß, die Bänke und Schränke sind aus Holz, es dominieren Erd- und Rottöne. Und es herrscht weitgehend Stille. Ein Refugium. An der Wand neben der Tür zu den Duschen steht eine altertümliche Waage, die man manuell ausbalancieren muss.

Wie sie so träumt vor der weinrot getünchten Wand, strahlt sie etwas Unvergängliches aus. Ein Relikt aus einer anderen Zeit, ein Solitär. Und sie verkörpert in ihrem ewigen duldsamen Dastehen für mich die Stille mitten in der Stadt.

Die Koberer

Das Völkchen der Koberer auf der Reeperbahn ist ein ganz besonderes. Wenn das Stichwort „Altherrenwitz“ fällt, denkt man an diese Typen.

Es handelt sich meist um deutlich aus den Fugen gegangene Männer jenseits der 55, die aussehen, als wären sie in einem früheren Leben Heizungsmonteur oder Kneipenwirt gewesen. Jetzt, nach Insolvenz, Scheidung o. ä. fristen sie ihr Leben damit, Passanten mit derben Sprüchen in die Amüsierbars zu locken, wo die Opfer mindestens 12 Euro bezahlen müssen für einen Kurzen plus Bier – vor allem aber für die Verheißung nackten Fleisches.


Auch bei den Koberern gibt es Genies und Dilettanten. Einer in der Davidstraße kam uns mal mit der grandios überzeugenden Lockprognose: „Hier könnt ihr gar nicht so schnell wichsen, wie die sich ausziehen!“ Gestern Abend aber, als ich auf dem Heimweg von der Verlagsparty vorüberschlurfe (übrigens exakt auf der Reeperbahn nachts um halb eins ...), sind die Koberer wie ausgelaugt.

Einer versucht es mit einem müden „Kommste mit, hastes hinter dir“, und gleich zwei sind bereits jeder verbalen Artikulationsfähigkeit beraubt. Sie stellen sich mir plump in den Weg, diese schmerbäuchigen schnurrbärtigen Vierschröter, und zeigen schlicht rhythmisch per Daumen auf den Eingang ihrer Stripteasebar.

So nicht, meine Herren! Ergo schlurfe ich vorüber.

29 September 2005

Das Fahrrad

Hier steht es noch friedlich am Laternenmast vorm Haus, mein Fahrrad. Eben fotografiert, vor einer Viertelstunde.

Ich habe dieses Rad schon seit über einem Jahr, und das ist eine gute Zeitspanne in Hamburg. Die letzten zwei Räder wurden mir nämlich früher geklaut. Nicht, dass ich keine Sicherungsvorkehrungen treffen würde. Bügelschloss oder plastikummantelte Kette sind Pflicht. Zumindest in den Augen der Versicherung, Diebe schütteln wahrscheinlich beleidigt den Kopf, wenn sie die Dinger sehen.

Was eine Fahrradversicherung angeht, so habe ich aber eh keine: zu teuer. Seit zwei Rädern verfolge ich dafür die Flohmarkttaktik. Auf irgendeinem der wöchentlich rund 20 Märkte kriegt man immer eins, das noch halbwegs was hermacht und unter 100 Euro kostet. Wenn man’s schafft, es sich zwei Jahre lang nicht klauen zu lasssen, hat man auf jeden Fall die Versicherung gespart. Mir fehlen nur noch ein paar Monate.

Neulich hatte ich übrigens die Schnapsidee, mir eine batteriebetriebene Vorderlampe zu montieren. Sie war genau zwei Tage am Rad, dann fand sie jemand zum Abmontieren süß.

Aber sie ist ja nicht weg, sie hat nur ein anderer.

Die Weltbühne

Schalke spielt gegen Mailand, Krasniqi will Schmelings Nachfolger werden, und was mache ich? Gehe ins Konzert. Ort: die Weltbühne, ein trotz des Namens winziger Club an der Reeperbahn Ecke Holstenstraße.

Er ist untergebracht in einem alten Kaufhaus, das bald abgerissen werden soll. Jeder Besuch dort hat deshalb etwas Morbides. Um in den ersten Stock zu kommen, muss man eine stillgelegte Rolltreppe hochgehen (Foto), was komischerweise anstrengender zu sein scheint als bei einer normalen Treppe.

Es spielt Laura Veirs aus Seattle, wo Kurt Cobain und Jimi Hendrix begraben liegen und es noch mehr regnen soll als in Hamburg; wegen ihr verzichte ich auf Schalke und Krasniqi, und das liegt an ihren wunderbaren Songs, die mit einer Schicht karamelisierter Melancholie überzogen sind. Im Konzert ist alles flotter, optimistischer, sie hat eine Rose direkt auf dem linken Bizeps tätowiert, und wenn sie auf der Akustikgitarre länger soliert, stellt sie ihre rechte Fußspitze auf den linken Spann, und das mit Birkenstocksandalen.

Das weiß ich alles, weil ich in der ersten Reihe stehe, was ich meistens nicht anstrebe, aber bei manchen Künstlern schon. Das Bier in der Weltbühne kostet übrigens nur zwei Euro; ein Ausverkaufspreis - das Ende des Clubs ist nah, vielleicht liegt es daran.

27 September 2005

Die Liebe

Mein Freund Andreas ist nicht nur ebenfalls zugezogener St. Paulianer, sondern auch FC-St.Pauli-Dauerkartenbesitzer und der profundeste Beatles-Fachmann, den ich kenne.

Wenn man mit ihm durchs Viertel läuft, wird er irgendwann auf ein Hotel zeigen und erzählen, dass John, Paul, George und Ringo bei ihrem dritten Hamburg-Engagement dort untergekommen waren (beim ersten hatte es nicht für ein Hotel gereicht; sie pennten in der Garderobe des Kaiserkellers oder bei Astrid Kirchherr, die mit ihren Beatles-Fotos weltberühmt wurde).

Überhaupt ist Andreas ein außergewöhnlich glühender Verehrer guter Musik, und seine Plattensammlung ist dazu geeignet, einem Tränen der Begeisterung in die Augen zu treiben. Alles Vinyl natürlich.

Ausgerechnet für Andreas ging letztes Jahr ein Traum in Erfüllung, den viele glühende Verehrer guter Musik träumen, darunter auch mein Kollege Karsten, wie der mir unlängst gestand. Nach einem Konzert der amerikanischen Singer/Songwriterin
Tish Hinojosa nämlich kam er mit der Künstlerin ins Gespräch, ins Trinken, ins Fachsimpeln - und heute sind die beiden ein Paar. So etwas gibt es wirklich!

Jetzt pendelt Tish (hier zu sehen, wie sie auf Andreas' Geburtstagsparty ein Ständchen für uns alle spielt) zwischen Austin und St. Pauli hin und her - und ihre Kiezaufenthalte werden immer länger ...

Ihre Platten kann man übrigens bei Amazon kaufen. Und das solltet ihr auch tun, damit Tish sich die Hin- und Rückflüge leichter leisten kann, okay ...?

Die Huren

Eine Gegend wie diese erfordert besondere soziale Strategien. Wenn man abends nach 20 Uhr ohne Frauenbegleitung die Reeperbahn am Hamburger Berg in südliche Richtung überquert, begegnet man einer beeindruckenden Phalanx Prostituierter, die alle bestens in Schuss sind. Nicht so wie die elenden Junkies vom Steindamm.

Hier an der Davidstraße, nur eine Straßenbreite entfernt von den Kiezpolizisten der Davidwache (Foto), stehen lauter Million Dollar Babies.

Es ist nicht leicht, ihnen zu entkommen. Höfliche Kiezdebütanten, die keinerlei Interesse haben, lassen sich meist unvorsichtigerweise auf Diskussionen ein, suchen Begründungen, wehren die Avancen verbal ab. Sie wissen halt nicht, dass eine hartgesottene Kiezhure jede Ausflucht schon mal gehört hat - und sie hat immer das letzte Wort.

Ein typischer Dialog, leicht komprimiert. Frau: „Kommste mal mit?“ Mann: „Geht nicht, ich bin verheiratet!“. Frau: „Das kriegt die doch nicht mit.“ Mann: „Ich habe außerdem gar kein Geld dabei.“ Frau: „Na und? Ich begleite dich zum Geldautomaten, da drüben an der Ecke.“ Mann: „Ehrlich gesagt, ich bin gar nicht verheiratet, ich bin schwul.“ Antwort: „Macht nichts, ich dreh dich um!“ Und so weiter. Auf jedes Argumenttöpfchen haben diese Profis ein Deckelchen, geschmiedet in tausend harten Nächten auf der Straße.

Deshalb hier ein Tipp für Novizen, die von Bordsteinschwalben attackiert werden: einfach elegant und unbeirrbar ausweichen (sie stellen sich dir nämlich in den Weg, halten dich fest, kommen dir sehr nah; deshalb brauchst du einen klaren Kurs), respektvoll stumm und schmerzlich lächeln (denn sie tun tapfer einen grässlichen Job und haben einst ganz andere Ziele gehabt im Leben, aber es hätte noch übler kommen können – siehe Steindamm); und weitergehen, immer weitergehen.

Die einfachste Lösung ist allerdings die: Sorg für eine Begleiterin am Arm. Damit bist du für die Huren schlicht nicht mehr existent. Ein Freund dagegen verdoppelt das Problem nicht er vervierfacht es.



Update: Hier eine Fortsetzung – inklusive der finalen Lösung für das Problem!



26 September 2005

Das Auto (1)

Wenn man in der Stadt lebt und arbeitet, ist ein Auto Quatsch. Verschärft gilt das für St. Pauli. Es gibt wenig Parkplätze. Und wenn einer frei ist, gibt es bestimmt eine Einschränkung, die man garantiert übersieht, was einem ein Knöllchen einbringt. In der Seilerstraße existieren sogenannte Anwohnerparkplätze, auf denen wir - legitimiert durch einen speziellen Ausweis - zwischen 18 Uhr abends und 6 Uhr morgens stehen dürften.

Zumindest in der Theorie. Denn diese Plätze sind in der Regel von Touristen- und Besucherautos illegal belegt. Wer es aus Buxtehude oder Pinneberg ins Amüsierviertel geschafft hat, dem ist es nicht sooo wichtig, ob ein St. Paulianer noch irgendwo parken kann. Außerdem findet auch ein Pinneberger in der Regel keinen Anwohnerparkplatz mehr frei vor, weil ein Buxtehuder ihn schon Stunden vorher okkupiert hat. Also parkt er im Halteverbot oder gleich auf dem Gehweg und wartet gottergeben aufs unvermeidliche Knöllchen.

Kurz: Für uns war der Betrieb eines Autos schlicht Nervkram. Der Wagen (ein Fiat Uno) hatte keinen besonderen Nutzen, aber Nachteile ohne Ende. Irgendwie waren wir fast erleichtert, als er uns eines Tages geklaut wurde. Er hatte direkt unter unserem Balkon gestanden, natürlich vollgetankt. Drei Wochen später tauchte er in Norderstedt wieder auf. Die Typen, die ihn geknackt hatten, schienen ihn nicht gerade geliebt zu haben, denn er taugte nur noch zum Verschrotten.

Schon in den Jahren zuvor hatte er einiges erdulden müssen: plattgestochene Reifen, zertrümmerte Seitenscheiben, zerkratzter Lack. Einmal schlug irgendwer das Fenster ein und packte den Inhalt des Handschuhfachs auf den Beifahrersitz, ohne was zu klauen. Schien so eine Art Warnung zu sein. Offenbar waren die Gäste der „Bar“ im Erdgeschoss (vgl. den gleichnamigen Eintrag) der Meinung, wir würden zu oft auf Parkplätzen stehen, die sie viel sinnvoller nutzen könnten. Doch wir blieben begriffsstutzig, auch noch viele kaputte Scheiben, Reifen und Lacksegmente später. Die liebevolle Behandlung unseres armen Uno hörte erst auf, als die „Bar“ der Großrazzia zum Opfer fiel.

Doch wenig später wurde der Wagen dann geklaut. Heute gehen wir mit dem Hackenporsche einkaufen und verfolgen die Entwicklung der Benzinpreise mit herzlichem Desinteresse.

25 September 2005

Die junge Stadt

Der HSV schlägt Bayern, aber wir sind auf Familienbesuch in Wolfsburg (wo der VfL parallel die Frankfurter Eintracht schlägt).

Wolfsburg ist ungefähr das Gegenteil von Venedig, nämlich unglaublich jung. Und friedlich: Die geduldeten Legionen von Kaninchen, die traulich über jede Wiese hoppeln, haben in ihrer Genen keine vererbbare Erinnerung mehr daran gespeichert, dass ihre Vorfahren einst abgeschossen und zu schmackhaften Braten verarbeitet wurden.

Anders als im kulturellen und medialen Leben gilt bei Städten Jugendlichkeit als Manko. Wolfsburg ist, dank VW (Foto: die Türme des Werks), aber unglaublich reich und deshalb eine einzige Spielwiese für Stadtplaner und Architekten, die der Stadt eine substanzielle und wie gewachsene Ästhetik zu verleihen versuchen.

Wolfsburg versucht mit Großzügigkeit und Grünflächen zu charmieren, ist blitzsauber und hochadrett. Doch alles Blitzeblanke und alle Adrettheit, jeder künstliche See, jeder Park und sogar die neue Wasserskianlage verweisen unfreiwillig auf die fehlende Tradition der Stadt, auf ihre vermaledeite Jugendlichkeit.

Zurück in Hamburg fallen einem die Vorzüge Wolfsburgs besonders ins Auge. Nein, in die Nase: In keiner Unterführung, an keiner Hauswand riecht es dort nach Pissoir.

Kein Zweifel, der Kiez hat uns wieder.

24 September 2005

Die „Bar“

Im Erdgeschoss unserers Hauses gab es jahrelang eine Art Bar, die aber nichts dafür tat, Gäste anzulocken. Man sah einen Tresen und darüber eine Leuchtreklame, doch am Haus selbst deutete nichts auf eine Schankwirtschaft hin.

Abends fuhren oftmals große Limousinen vor, Männer in maßgeschneiderten Anzügen stiegen aus und betraten die „Bar“. Eines Tages nahm die Polizei das Ganze hoch - es war, wie sich herausstellte, eine Art Dealertreffpunkt gewesen.

Vor einigen Monaten zogen nun ein paar nette Jungs ein, die unseren Bürgersteig im Sommer sehr mediterran auffassen: mit herausgestellten Sesseln, einem Grill, Kaltgetränken und vielen Freunden.

Die Wohnlage hat gewonnen, deutlich.

23 September 2005

Die zwei Kugeln

Ich gebe zu, dass dieser spezielle Blick auf zwei Luftballons vor der Eisdiele am östlichen Ende der Reeperbahn durchaus vom Flair des Viertels geprägt ist.

Vergleiche in diesem Zusammenhang auch das Foto zum Posting „Der Start“.
Honni soit qui mal y pense ...

22 September 2005

Der vertauschte Mantel

War heute Abend eingeladen zu einer sogenannten „CD-Release-Party“ für Journalisten. Das ist eine seltsame Veranstaltung in einem möglichst angesagten Club der Stadt, bei der ein hohes Tier einer Plattenfirma irgendwann zum Mikrofon greift und mit großer Ergriffen- und Fassungslosigkeit von einem neuen Album schwärmt, das er als „Meisterwerk“ überbewertet, was der anwesende Künstler mit stolzgeschwellter Bescheidenheit aufsaugt wie Kate Moss eine Kokslinie. Uns werden dazu Schnittchen und Alkoholika in beliebigen Mengen aufgedrängt, damit wir nicht merken, welch Riesenlücke klafft zwischen der megamiesen Qualität der Musik und dem, was der Typ am Mikro gerade erzählt hat. Genauso war es heute.

Aus Scham verschweige ich lieber die Band, deren flache, seichte, himmelschreiend prätentiöse Platte uns vorgespielt wurde, sondern lobe lieber den vergleichsweise passablen Weißwein - und meine Kollegin Susanne, die mir die hübsche Geschichte erzählte, wie sie einmal im Berliner Luxushotel Four Seasons einen Mantel verlor, der - wie sie hoffte - im Hilton, wo sie wohnte, wieder auftauchen würde, weil ein Parkschein dieses Hotels in ihrer Manteltasche steckte.
Die Spur führte allerdings in ein weiteres Berliner Luxushotel, das Ritz Carlton, weil dort nämlich jene Person nächtigte, die damals im Four Seasons offenbar volltrunken, jedenfalls ohne es zu bemerken, Susannes Mantel ausgehändigt bekam, und die dann schließlich mithilfe besagten Parkscheins Kontakt mit der tapfer im Hilton ausharrenden Susanne aufnehmen konnte.

Im Endeffekt war es so, dass Susanne mehrere Tage im Berliner Winter mantellos fror, aber vom Four Seasons, wo ihr Mantel ja dumpfbackig an die falsche Person ausgegeben worden war, zum Trost eine Flasche Dom Perignon übereignet bekam, die sie heute noch besitzt und die laut Ebay inzwischen einen Wert von 135 Euro hat. Jetzt wartet sie auf die richtige Gelegenheit, sie zu köpfen, wobei eine momentan noch näher zu definierende Person männlichen Geschlechts eine assistierende Rolle spielen sollte. Übrigens habe ich Susanne erzählt, dass alles, was sie sagt, zwar nicht gegen sie verwandt werden kann, aber zumindest in Gefahr schwebt, in diesem Blog veröffentlicht zu werden, was sie aber nicht abschreckte. Ist ja auch nicht schlimm. Zumindest nicht so schlimm wie die Musik, die uns heute Abend als Meisterwerk verkauft wurde. Die Enttarnung dieser richtig schlimmen Platte erfolgt nach Veröffentlichung, also ungefähr Ende Oktober.

Der Auftrieb

Heute Abend plötzlich Riesenbohei an der Kreuzung Seiler-/Detlef-Brehmer-Straße, zwischen der Theaterkneipe Fundus (Foto) und einer Schmuddelspelunke mit dem entwaffnend hoffnungslosen Namen „Tippel II“.

Blaulicht, Polizei, zwei Feuerwehrlaster, ein Krankenwagen. Was ist passiert? Passanten starren nach oben, von oben starrt ein Bewohner gelassen herab. Er scheint auch nichts zu wissen – und erst recht nicht die Ursache des Auftriebs zu sein.

Ich starre auch mal nach oben. Nichts. Polizisten unterhalten sich flüsternd, eine junge Frau wird befragt, die Fahrer der Feuerwehrwagen sind schemenhaft hinter den Windschutzscheiben zu erkennen. Sie scheinen nicht gerade am Rande der Panik entlangzubalancieren.

Hm, was nun? Straßenkino kommt oft vor im Viertel, aber dieser Reality-Streifen wirkt etwas handlungsarm. Ich trolle mich. Ein späterer Blick vom Balkon aus zeigt eine geräumte Szenerie. Kein schweres Gerät mehr da. Vorm Tippel II sitzen die üblichen Gestalten auf weißen Plastikstühlen, vielleicht zum letzten Mal, bevor es Herbst wird.

Die Nächte sind schon sehr kühl.

20 September 2005

Dylan (1)

Sam Shepard über Bob Dylan:
„Ich mache zum ersten Mal gründlich Bekanntschaft mit seiner Gabe, zu schweigen. Dem fehlenden Bedürfnis, Pausen zu füllen.“
(Rolling Thunder - Unterwegs mit Bob Dylan, S.Fischer, 2005)

Die Drogen

Als wir heute Abend aus dem Kino kamen – genauer gesagt: aus der irgendwie und trotz alledem doch schönen, heilen Welt der kenianischen Massai -, stolperten wir beinah über eine dunkle Gestalt, die vorm Nachbarhaus kauerte.

Neben ihr ein Rucksack plus Schäferhund, in ihrer rechten Hand eine Spritze. Wahrscheinlich war es eine Frau, das war so genau nicht zu erkennen.

Bisher bin ich spritzenden Junkies nur am Hauptbahnhof begegnet, nie in der Seilerstraße (die koksenden Teens vom Schlagermove aus dem Startposting zähle ich nicht mit). Und immer erschüttert mich die Ungerührtheit, mit der sie sich den Schuss setzen, dieses kalte Mir-doch-egal-dass-du-mich-jetzt-siehst.

Sie sind jenseits jeder Scham in dieser Sekunde, und vielleicht vermittelt diese Abwesenheit jedes sozialen Rechtfertigungsdrucks einem Nichtjunkie den Anflug eines Schimmers einer Ahnung davon, was die Sucht mit einem macht. Ihr innerster Kern aber bleibt vollkommen unvorstellbar.



19 September 2005

Der Wahlabend (2)

Hm, vielleicht hat Stoiber damals nur versehentlich im Plural gesprochen, als er uns klarmachte, wem man die Zukunft Deutschlands nicht überlassen dürfe.

In Wahrheit meinte er nämlich "die Frustrierte aus dem Osten". Insofern hat er sein Wahlziel erreicht.


17 September 2005

Die Nachbarn (1)

Unter uns wohnt ein Typ, der die Musik oft so laut aufdreht, dass ich sicher schon mal bei ihm geklingelt und sehr genervt geguckt hätte, aber das Problem ist: Er hat einen verdammt guten Geschmack. Alten Soul, Indiepop, Adam Green: solche Sachen.

Einmal klingelt es bei uns, ich mache auf, und die Nachbarin von oben steht da und guckt sehr genervt. Ob wir BITTE mal die Musik leiser machen könnten.

Ging nicht. Denn es war der Typ unter uns. Er hatte es wirklich geschafft, zwei Stockwerke zu übertönen. Ich glaube, mit den White Stripes.

(Im Bild: unser Treppenhaus.)

Der Wahlabend (1)

Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten.“
(aus dem Nick-Cave-Forum)