06 August 2024

Der Streetworker von St. Pauli


Das auf dem Foto ist Herr H. Dass er so heißt, habe ich von einem Nachbarn erfahren. Anscheinend hat Herr H. zu Hause keinen Raum, den er als Arbeitsplatz nutzen kann. Deshalb macht er Streetoffice. Herr H. ergreift dazu Stuhl und Laptop, betritt den Kiez, setzt sich auf den Gehweg und arbeitet. Ganz gerne wüsste ich schon, an was. Aber bisher habe ich eine gewisse Scheu, Herrn H. danach zu fragen.

Manchmal errichtet Herr H. sein Streetoffice auch nicht auf dem Gehweg, sondern direkt auf der Straße. Dass dieser Anblick auf herannahende Autofahrer irritierend wirken könnte, kümmert Herrn H. keineswegs. Schließlich sind sämtliche Fahrzeuge mit Lenkrädern ausgestattet und somit in der Lage, mit wenig Aufwand einen Bogen um ihn herum zu fahren. Wenn sie das nicht in der Fahrschule gelernt haben, was dann.

Übrigens habe ich noch nie einen Autofahrer gesehen, der sich über Herrn H.s auf der Fahrbahn errichtetes Streetoffice echauffiert hätte. Man hört ja sonst so allerhand, wie es zugehen soll vor Ampeln und auf Autobahnen. Geschrei, Gepöbel, justiziable Eigenschaftszuschreibungen: All das scheint in Deutschland gar nicht selten vorzukommen. Doch nicht in Gegenwart von Herrn H. Man umkurvt ihn offenkundig verständnisvoll und deshalb kommentarlos. Was er als selbstverständlich hinnimmt.

Nein, Herr H. lässt sich bei dem, was immer er dort tut, nicht stören. Man kann sogar sagen, dass die resiliente Konzentration, mit der Herr H. sein Streetoffice-Pensum abarbeitet, bewundernswert ist. Nichts bringt ihn aus der Ruhe.

Herr H. richtet seinen Stuhl immer nach Westen aus. Zwar scheint ihm dann die Sonne mitten ins Gesicht, doch wenigstens nicht aufs Laptopdisplay. Das könnte schließlich bei der Arbeit stören, eventuell sogar die Qualität der Ergebnisse beeinträchtigen. Deshalb vermutlich nach Westen. Manchmal denke ich, dass Herrn H. eine Schirmmütze guttäte, aber wer bin ich, seine selbst geschaffenen Rahmenbedingungen infrage zu stellen.

Herr H. ist mir bisher ein Mysterium. Steht er vielleicht in der Tradition von Melvilles Schreiber Bartleby? Welche biografischen Wendungen und Winkelzüge führten zu seinem stoischen Dasein als Streetworker im wortwörtlichen Sinn?

Vielleicht überwinde ich demnächst meine Scheu und frage ihn einmal. Dann mehr an dieser Stelle.



16 Juli 2024

Die gemütlichsten Ecken Deutschlands (206)


Das Gewitter heute Abend über Travemünde sah aus, als hätte sich 
Caspar David Friedrich Tipps von Mark Rothko geholt.

Blick aus dem 19. Stock des Maritim-Gebäudes.

02 Juni 2024

Fundstücke (264)

Die Deutungsmöglichkeiten dieses wohl mit Absicht so gestalteten Nummernschilds sind komplex, verwirrend, schillernd und widersprüchlich. Die Entschlüsselung überlasse ich lieber Ihnen.

Entdeckt heute irgendwo in Hamburg.

30 Mai 2024

Fundstücke (263)

Besser kann man die Funktionsweise der Kneipenmeile Hamburger Berg nicht beschreiben. 

Entdeckt an der Fassade der Schankwirtschaft Bergbombe.


24 Mai 2024

Bleiben Sie bloß weg!

Nehmen wir mal an, ein in der Hölle ansässiger Impresario bekäme von seinem Chef – also Satan – den Auftrag, eine irdische Großveranstaltung auszuhecken, die für höchstmögliche Fegefeuerqualen bei all jenen sorgt, die das Schicksal dazu verdammt hat, sich in der Nähe aufhalten zu müssen, etwa qua Wohnsitz. Nach langem Brainstorming mit allen verfügbaren Dämonen käme unzweifelhaft nichts anderes dabei heraus als:

der Schlagermove.

Grundsätzlich wäre mir die Veranstaltung so was von unsagbar pimpe, fände Sie – sagen wir – in Castrop-Rauxel, Westerland oder Tschernobyl statt. Leider aber tut sie das überallebenda nicht, sondern stattdessen genau hier, auf St. Pauli. Und zwar am bevorstehenden Wochenende. Diesen Termin hat der Impresario des Teufels dieses Jahr anberaumt.

Das einzig Gute (unglaublich, dass ich dieses Wort in Zusammenhang mit dem Schlagermove auch nur denke) an dieser olfaktorisch, sonisch, zivilisatorisch und ästhetisch völlig inakzeptablen, aber seit Jahren erwiesenermaßen höchst erfolgreichen Massenverblödungsmaßnahme ist nur eins: dass er in den vergangenen siebzehn (in Worten: SIEBZEHN!) Jahren immer wieder Stoff für die Rückseite der Reeperbahn abgeworfen hat, wie Sie dieser Sammlung widerlichster Einträge entnehmen können. 

Sollte Ihnen der Subtext der heutigen Ausführungen bisher entgangen sein, so möchte ich ihn an dieser Stelle zur Sicherheit noch einmal klar und deutlich hervorkehren. Es ist ein Appell. Er lautet:

Bleiben Sie bloß weg. Meiden Sie vor allem weiträumig das Gebiet auf der abgebildeten Karte.
Wenn Sie bereits auf dem Weg nach Hamburg sind, drehen Sie um.
Wo immer Sie wohnen: Dort ist es besser.
Ja, auch in Bitterfeld!

Wenn ich Sie bei meinen Kontrollgängen am Wochenende trotzdem hier anzutreffen das Pech habe, so muss ich leider Maßnahmen ergreifen, die der Impresario aus der Hölle sich auch nach langem Brainstorming mit allen verfügbaren Dämonen nicht besser hätte ausdenken können. Capiche?

Foto: schlagermove.de



20 Mai 2024

Frustfeier auf dem Kiez

Während es dem großen Hamburger Sportverein erneut mit müheloser Souveränität gelungen ist, die Klasse zu halten, scheiterte mein kleiner Stadtteilverein diesmal krachend an dieser jahrelang gemeisterten Aufgabe. Und nicht nur das: Feige hat er sich damit auch davor gedrückt, in der kommenden Spielzeit die unlängst verlorene Stadtmeisterschaft zurückzuerringen. Das alles ist natürlich eine schwer erträgliche Gesamtschmach. Und um sie halbwegs zu ertragen, beging man sie heute auf dem Kiez mit einer Art Gedenkfeier.

Die für Autos gesperrte Reeperbahn, morgens noch tristes Aufmarschfeld einer Armee von Dixiklos, verwandelte sich im Lauf des Tages zu einer menschensatten Meile, in der Abertausende mühsam versuchten, ihre Frustration über die auf absehbare Zeit nicht wieder eroberbare Stadtmeisterschaft mithilfe von Drogen, Bier und melancholischen Gesängen zu überspielen. So waren unter anderem rührend verzweifelte Sprechchöre wie „Die Nummer eins der Stadt sind wir“ zu hören, was HSV-Fans – sofern anwesend – natürlich nur spöttisch belächelt hätten.

Die Mannschaft des FC St. Pauli, hauptverantwortlich für das Desaster, machte notgedrungen gute Miene zum bösen Spiel und nahm auf dem Spielbudenplatz als Trostpreis eine zur „Meisterschale“ euphemisierte silbern schimmernde Radkappe entgegen. Blamabel das alles, zum Fremdschämen.

Ich hatte zum Kondolieren mein inzwischen 22 Jahre altes Weltpokalsiegerbesieger-T-Shirt aus dem Schrank geholt und kann immerhin erfreut bestätigen: Es passt mir noch. So ausstaffiert, schloss ich mich den vielen Tausend Trauernden an, um in der Masse Gleichgesinnter wenigstens ein wenig Trost zu finden.

Andere nutzten die Versammlung gar zu politischen Übersprungshandlungen. Manch Anwesender aber verdrückte die ein oder andere Träne, und zwischendurch weinte auch der Himmel.

Aber natürlich nur über dem Kiez, nicht über dem Volkspark.


 

24 April 2024

Der Fernsehsessel des Schreckens

Von: Matt Wagner
An: XXX-Möbelservice

Guten Tag, Herr M.,

meine Mutter (Kundennummer: 71844XX) hat mich gebeten, Ihnen diese Mail zu schreiben. Der Grund: Sie ist sehr unglücklich mit der Haltbarkeit des bei Ihnen erworbenen Fernsehsessels, und das möchte sie gerne kundtun.

Nachdem das Möbel bereits ein Jahr nach dem Kauf Zerfallserscheinungen zeigte, haben Sie es damals freundlicherweise und mit allen Anzeichen des Bedauerns ausgetauscht. Dafür war meine Mutter auch sehr dankbar. Allerdings zeigte auch das Ersatzteil bereits nach kurzer Zeit größere Schwächen, die sich mittlerweile zu derart ernsthaften Mängeln ausgewachsen haben, dass der Sessel nicht mehr benutzbar ist. Die beigefügten Beispielfotos, die ich beim letzten Besuch anfertigen konnte, sprechen eine erschütternd deutliche Sprache.

Meine Mutter stört sich vor allem an der kurzen Lebensdauer des Fernsehsessels, die nur mit erheblichen Mängeln bei der Verarbeitungsqualität zu erklären sind. Mein Eindruck, das sage ich ganz unverhohlen, ist derselbe. Überall bröckelt und fasert es, Risse tun sich auf, Spalten klaffen, Schrauben fallen unmotiviert aus dem Möbel, und zu allem Überfluss haben dessen Rollen auch noch den Linoleumbelag im Wohnzimmer großflächig zerstört. Auch das dokumentiert eines der Fotos.

Ein derartiger Totalschaden ist mir nach nur gut dreijährigem Gebrauch wirklich noch nicht untergekommen – und meine Mutter, eine Dame von über 80, ist ehrlich gesagt nicht gerade eine Vandalin, die Fernsehsesselweitwurf als Freitzeitbeschäftigung betreibt.

Nein, dieses Möbelstück verkraftet selbst die ganz normale Benutzung durch eine hochbetagte Rentnerin nur für eine bedrückend kurze Zeitspanne. Man sollte doch wirklich einen fast 500 Euro teuren Fernsehsessel nicht alle drei Jahre austauschen müssen, selbst wenn er nur mit Kunstleder bezogen ist, es sich also wahrscheinlich nicht um Ihr Super-duper-Spitzenmodell handelt, oder?

Natürlich weiß meine Mutter, dass all Ihre Garantie- und Gewährleistungsfristen sich längst verflüchtigt haben. Aber es ist ihr wichtig, Sie an ihrem Unmut teilhaben zu lassen. Und ich kann ihr da nur beipflichten: Ein Möbelstück aus Ihrem Laden sollte sich nicht binnen kurzer 36 Monate unter einem gleichsam auflösen, obwohl man einfach nur jeden Tag darauf sitzt und „Wer weiß denn so was?“ guckt.

Mit freundlichen Grüßen
i. A. Matt Wagner

Von: XXX-Möbelservice
An: Matt Wagner

Sehr geehrte Kundin, sehr geehrter Kunde,

vielen Dank für Ihre E-Mail, die wir Ihnen hiermit zunächst einmal automatisch bestätigen möchten.

In Kürze erhalten Sie eine persönliche Antwort auf Ihre Anfrage. Bis dahin bitten wir Sie um etwas Geduld und danken Ihnen schon im Voraus für Ihr Verständnis.

Sofern Sie einen Vertrag widerrufen haben, bestätigen wir mit dieser E-Mail den Eingang des Widerrufs.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr
XXX-Möbelservice

Von: Matt Wagner
An: XXX-Möbelservice

Guten Tag,

meine Mutter hat sich erkundigt, wie Sie auf ihre traurigen Erfahrungen mit dem Fernsehsessel reagiert haben, und ich musste ihr leider mitteilen: bisher nur mit einer automatischen Eingangsbestätigung.

Das ist nun bereits mehr als zwei Wochen her, aber ich bin sicher, dass Sie noch reagieren werden. Mit dieser optimistischen Prognose habe ich auch meine Mutter vertröstet.

Vielen Dank vorab für Ihre Mühe.

Mit freundlichen Grüßen
Matt Wagner

Von: XXX-Möbelservice
An: Matt Wagner

Sehr geehrter Herr Wagner,

bitte entschuldigen Sie zunächst unsere pandemiebedingte späte Reaktion.

Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Gewährleistungsanspruch von 24 Monaten bereits verstrichen ist und wir die Reklamation nicht anerkennen können.

Gerne können wir einen Sachverständigen mit der Begutachtung und eventuellen Reparatur der Ware beauftragen. Wir bitten aber um Verständnis dafür, dass wir Ihnen die Kosten von Euro 150,00 in Rechnung stellen.

Bitte geben Sie uns schriftlich Bescheid, ob Sie mit dem Besuch des Außendienstmitarbeiters unter den genannten Bedingungen einverstanden sind. Einen anderen Vorschlag können wir leider nicht unterbreiten.

Für Ihr Verständnis danke ich und wünsche einen schönen Tag.

Abonnieren Sie jetzt den kostenlosen Newsletter, damit Sie kein Angebot mehr verpassen.

Viele Grüße
Ch. H.
- Möbelkundenservice –

Von: Matt Wagner
An: XXX-Möbelservice

Sehr geehrte Frau H.,

vielen Dank für Ihre Mail, über die ich mich gefreut habe. Zwar weniger über den Inhalt als über die Tatsache, dass Sie doch noch geantwortet haben. Die Umstände sind aber auch besondere, das ist nachvollziehbar.

Wie ich bereits in meinen vorangegangenen Mails geschildert habe, handelt es sich bei dem Fernsehsessel um einen Totalschaden. Das ist auch ohne einen Besuch Ihres Außendienstmitarbeiters unzweifelhaft. Deshalb wären die 150 Euro leider rausgeschmissenes Geld. Es braucht also zwecks Inaugenscheinnahme oder gar Reparatur niemand von Ihnen zu kommen, wirklich nicht.

Aber: Wenn Sie den Sessel kostenlos abholen und entsorgen könnten, wäre das etwas, gegen das sich meine Mutter keinesfalls wehren würde. Denn das wuchtige Möbel beansprucht natürlich trotz seiner völligen Funktionslosigkeit viel Raum, der so nicht anderweitig nutzbar ist. Ihren hauseigenen Qualitätskontrolleuren hingegen würde die Sesselruine mit Sicherheit wertvolle Erkenntnisse über die zahlreichen Schwachstellen der Konstruktion liefern, wovon künftige Fernsehsesselgenerationen enorm profitieren könnten.

Wäre das nicht der versöhnliche Abschluss einer doch recht unerfreulichen Geschichte, die meiner Mutter viele Fernsehabende verdorben hat? Für Terminvorschläge, die ich dann mit ihr abstimmen würde, bin ich jederzeit offen.

Ich bin guter Dinge, dass Sie diesem – wie ich finde – salomonischen Vorschlag zustimmen, und grüße Sie hiermit herzlich.

Ihr
Matt Wagner

Von: XXX-Möbelservice
An: Matt Wagner

Sehr geehrter Herr Wagner,

gut, dass Sie sich melden.

Bei Bestellung von Polstermöbeln, welche durch ein Speditionsunternehmen ausgeliefert werden, kann die Abholung und Entsorgung von Alt-Polstermöbeln beauftragt werden. Die Kosten hierfür betragen 75,00 EUR pro Abholungsstück.

Bitte beachten Sie, dass eine Entsorgung von dem alten Sessel ohne Neubestellung nicht möglich ist.

Für weitere Fragen bin ich gerne für Sie da! Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.

Viele Grüße aus P.

Ihre
Ch. H.
- Möbelkundenservice –

Von: Matt Wagner
An: XXX-Möbelservice

Sehr geehrte Frau H.,

nach unserer bestürzend fruchtlosen Konversation in den vergangenen Monaten habe ich meiner Mutter nun geraten, beim Ersatz für ihren ruinierten Fernsehsessel auf das möglicherweise verlässlichere Produkt einer beliebigen anderen Lieferfirma zu setzen. Hauptsache, nicht von Ihnen.

Ich hoffe und nehme stark an, Sie können das nachvollziehen.

Freundliche Grüße
Matt Wagner


(Seitdem Funkstille)

PS: Diese Korrespondenz liegt schon etwas zurück, deshalb die Bemerkungen zur Pandemie. Meine Mutter hat längst einen neuen Fernsehsessel. Und er zerfällt nicht!


20 April 2024

Serviceoase St. Pauli

Neulich in der Schanzenbäckerei, Hopfenstraße. Dort gibt es schmackhafte Dinkelvollkornbrötchen. Wir mögen sie sehr – und das obwohl man sie dort mit doppeltem Deppenleerzeichen schreibt: „Dinkel Vollkorn Brötchen“. Egal; ausnahmsweise. 

Da wir Übernachtungsgäste haben, sollen es ein paar mehr sein. Die Schanzenbäckerei offeriert fünf gemischte dunkle Brötchen mit Rabatt, allerdings maximal drei von einer Sorte. Deshalb bestelle ich als notorischer Sparfuchs zweimal dieses Fünferset mit der hintersinnigen Bemerkung: „Bitte mit möglichst vielen Dinkelvollkornbrötchen“ – in der Hoffnung, ich käme durch glückliche Umstände doch auf eine höhere Quote als drei zu fünf. 

Die junge Frau hinterm Tresen beginnt die Tüten zu füllen, allerdings eher regel- als wunschkonform, wie mir scheint. Da mischt sich unversehens der Chef ein. Er hatte mich bereits mit „Guten Morgen, mein Lieber!“ begrüßt, da ich dank der zuletzt auffällig häufigen Besuche wohl allmählich in den Status eines Stammgastes hineinwachse.

„Warum nehmen Sie nicht einfach zehn Dinkelvollkornbrötchen?“, fragt er. Die junge Frau unterbricht irritiert ihren Service und wartet erst mal ab. 
Ich, verdutzt: „Aber ich dachte, es dürften pro Sorte nur maximal …“
„Mein Dienst, meine Regeln“, unterbricht er mich. Und nickt der Kollegin zu, die gehorsam zwei Tüten mit insgesamt zehn Dinkelvollkornbrötchen füllt. Mit Worten der Rührung und des Dankes verabschiede ich mich.

Doch kein Glück ohne Schatten. Denn trotz dieses seltenen Beispiels einer funktionierenden Serviceoase St. Pauli keimt in mir die Befürchtung, dass ich mich beim nächsten Besuch noch nicht auf ein mattwagnersches Gewohnheitsrecht berufen kann. Einen Versuch ist es aber wert, auch bei einem anderen Diensthabenden.

Wenn Sie es nun selbst einmal ausprobieren möchten, zwei Fünferpacks derselben Sorte befüllen zu lassen – ich empfehle dringend Dinkelvollkornbrötchen –, dann drucken Sie doch diesen Blogeintrag aus und präsentieren ihn bei Bedarf als Argumentationshilfe. 

Erfahrungsbericht dann hier als Kommentar, bitte. Danke. 

  



07 März 2024

Fundstücke (262)

Der Moment, wenn du erkennst, dass deine Terrorgruppe endgültig gescheitert ist. 

Entdeckt auf dem St.-Pauli-Nachtmarkt.


29 Februar 2024

Fundstücke (261)

Keine Ahnung, ob die Firma Vytal ihre Werbeflächen auch anderswo mit diesem Motiv plakatiert oder ob der mit diesem Slogan verzierte James-Transporter auch in anderen Staddteilen tätig ist

Zum Kiez passen sie jedenfalls beide – wie die Ludenfaust aufs Auge des Freiers, der die Sexzeche prellen will. 

Entdeckt auf St. Pauli.


05 Februar 2024

Mein erstes und letztes Interview mit Lucy Diakovska, Dschungelkönigin

Heute in aller Früh gewann Lucy Diakovska (47) die TV-Realityshow „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ und gilt in einschlägigen Kreisen nun ein Jahr lang als „Dschungelkönigin“. Willkommener Anlass für mich, auf meine Begegnung mit der fünfköpfigen Band No Angels zurückzublicken, mit der Lucy 2001 europaweit berühmt wurde. Triggerwarnung: Damals nannte man selbst 24-jährige Frauen noch „Mädchen“, und ja: Auch ich tat das. Dass die fünf „Mädchen“ Teil eines Konstrukts waren, das gesellschaftlich akzeptiert als „Girlgroup“ galt, mag als Erklärung dienen. Wie auch immer: Damals gemeinsam mit Lucy und den restlichen No Angels an einer kreischenden Teeniemasse vorbeizulaufen, gehört zu den prägenden Erlebnissen meines Journalistenlebens. Der folgende Text erschien im Juni 2001 in der kurzlebigen Zeitschrift _ulysses.

Manche haben studiert, manche nicht. Manche arbeiten tags, manche nachts; manche kommen und gehen, wann sie wollen: Menschen mit Traumjobs. Wie die Girlband No Angels. Beruf: Popstars.

Wir müssen über den Gang, drei Meter bis zum Fahrstuhl. Draußen, an der Glasscheibe des Rundfunkgebäudes, quetschen sich Hamburger Teenies die Nasen platt. Als wir hinübergehen, kreischen sie, als wären wir die Beatles. Wir sind aber nur die Girlband No Angels mit einem Journalisten, der sich für zwei Sekunden im Mitläuferruhm sonnen darf. Ein seltsames Gefühl, auch für die fünf Mädchen, die vor einem Jahr noch selbst an irgendwelchen Scheiben gekreischt hätten, wenn Britney oder Blümchen drei Meter weit zum Aufzug gelaufen wären.
Jetzt ist plötzlich alles anders. Jetzt sind sie sogar dem Spiegel einen Artikel wert, auch wenn der sie als „Retortenband“ abqualifiziert. Die taz warnt vor der „singenden Geldmaschine“, und die Rheinische Post quält sich ein neues Genre ab: „braver, Clearasil-entkeimter Bonbonpop“. Das finden Sandy (19), Jessica (24), Vanessa (21), Lucy (24) und Nadja (18) ziemlich lustig.
„Na und?“, gibt Jessica sich souverän. „Finde ich überhaupt nicht schlimm. Wir sind ja zusammengecastet worden – wie viele andere auch. Mich macht es stolz, dass wir so viel Geld verdienen. Die Spice Girls haben auch Millionen gescheffelt.“

„Ich bin Lucy – und werde 25“: Den Satz indes hätte ein Spice Girl nie gesagt. Den sagt ein bis auf die Knochen gebrieftes Popsternchen nicht, wo die Bravo doch für jeden Monat, den ein Titelstar jünger ist, tausend Hefte mehr verkauft. Nein, Lucy ist noch nicht so gewieft, wie es ihr Management gerne hätte. Immerhin: Sie hat vorher schon Branchenluft geschnuppert, beim Musical „Buddy“. Die anderen tanzten höchstens ein bisschen oder sangen in der Badewanne. Aber dort fangen Träume ja immer an.
In ihrem neuen Leben bleibt nur noch Zeit für die Dusche zwischendurch. „Die Mädels“, wie der Polydor-Plattenmanager Rainer Moslener sie nennt, verbringen die Tage jetzt mit Videodrehs, Interviews und Radioauftritten, ehe sie an kreischenden Teenies vorbei zum Aufzug laufen müssen.
Das schlaucht, denn vor Kurzem noch standen sie in beschaulichen Provinzboutiquen an der Kasse, verkauften Pauschalreisen oder schaufelten sich – wie Vanessa – in Unibibliotheken Wissen rein, das irgendwann einmal für einen anständigen Beruf reichen sollte. Und weil sie gut singen konnten, träumten sie alle vom Glamour des Pop.

Vanessa war damals gerade einkaufen, als sie über das Casting zur „Popstar“-Serie auf RTL II stolperte. Sie sang, geriet unter die letzten 30, flog nach Mallorca, wo der Darwinismus der Girlgroup-Findung in die entscheidende Phase ging – und plötzlich war sie ein No Angel. Wie die anderen vier: Mädchen, die sich plötzlich in ihrem eigenen Traum wiederfinden. Und feststellen, dass sie nicht aufwachen, wenn sie sich kneifen, und dass der Traum Arbeit bedeutet und Liegestützen und Muskelkater.
„Viele“, sagt Jessica, „stellen sich vor, dass man nur noch ei-de-dei über die Straße geht.“ Falsch! Doch der Traumberuf Popstar ist nun mal genau das, was die Fünf immer wollten. Auch wenn sie das Wort Privatleben vorerst nicht mehr buchstabieren können. Lucy, mit ihren feuerroten Haaren der Kobold der Band, zuckt die Schultern und lächelt fatalistisch. „Wir haben uns ja dafür entschieden“, sagt sie. „Und wenn es weiter so gut läuft wie bisher, können wir uns eines Tages ein schönes Leben leisten – und zwar eins mit Privatleben.“

Eine Marketingkombi aus Dokusoap und Singlehit war der Pusch, weitergehen muss es jetzt ohne Fernsehschub. „Die Serie war eine tolle Plattform“, sagt Sandy, die quicke Quotenblonde der Band. „Aber die letzte Folge ist gelaufen, und jetzt gibt es nur noch die No Angels. Wir müssen jetzt da durch, wir müssen uns beweisen.“ Die Träume vom Traumjob, die sich so unfassbar schnell erfüllten, sie gehen jedenfalls weiter. Jessica hat leuchtende Augen: „Wir können eine eigenständige Gruppe werden, die alles beeinflussen kann: die Musik, die Texte. Genial!“
„Ja“, pflichtet Lucy bei, „das ist sogar erwünscht!“ Sie wird bald 25, sie ist Mitglied einer Retortenband und glaubt, ihre Kreativität sei erwünscht. Und der alte Branchenhase Rainer Moslener sitzt am Tisch und sagt dazu lieber nichts. Er mag die „Mädels“, wirklich. Nach und nach wird er ihnen alles beibringen über die Haifischbranche Popbiz. Und zwar so schonend wie möglich.

Fotos: Polydor (2001), Stefan Menne, RTL (2024)


 

01 Februar 2024

Die gemütlichsten Ecken St. Paulis (203)

Was hat dich nur so ruiniert, o Dixiklo?

Sachdienliche Hinweise und wilde Spekulationen bitte in den Kommentaren.


26 Januar 2024

Aida, diesmal nicht in Mülltüten

Vor knapp acht Jahren ging unser erster Versuch, Verdis Oper „Aida“ zu genießen, schrecklich schief: Wir flohen zur Halbzeit – „gekleidet“ in mülltütenartige Plastikregencapes – vorm Weltuntergang, der die Open-Air-Aufführung in Schwerin mit Donner, Sturm und Wassermassen zu behelligen geruhte. Wenigstens hatten wir den (echten!) Elefanten noch gesehen. Weitere Details zu diesem in mehrerlei Hinsicht unvergesslichen Ausflug nach Schwerin finden Sie hier

Nun aber gibt es unverhofft doch noch die Chance zu erfahren, wie es weitergeht, nachdem der Elefant von der Bühne gestapft ist. Denn „AIDA – Das Arena Opern Spektakel 2024“ (sic!) feiert am 2. Februar in Hamburg Premiere, und wir sind eingeladen.

Man avisiert uns Multimediales, ja, Immersives; ausstaffiert sei das Ganze mit Omnisurroundlautsprechern, Projektoren, LED-Wänden, Kameras und Scheinwerfern sonder Zahl, wahrscheinlich alles originalgetreu nach Verdis Regieanweisungen angefertigt. Der Elefant soll allerdings statt aus Elefant aus neun Frauen bestehen. Tierschutz!

Doch egal wie’s weitergeht, nachdem die neun Damen von der Bühne gestapft sind: Diesmal werden wir keine Mülltüten tragen müssen, denn das alles findet in der Barclay’s Arena in Stellingen statt. Und es gibt noch Karten, soweit ich weiß.

Foto: Christoph Eisenmenger


04 Januar 2024

Die gemütlichsten Ecken Deutschlands (202)


Entdeckt am Rande des Westerwaldes in meinem Kindheitsdorf Medenbach, Lahn-Dill-Kreis. 
Der Kaugummiautomat nimmt übrigens schon Cent.


31 Dezember 2023

Der 19. offene Brief zu Silvester

Liebe Krüppel vom Neujahrsmorgen,

seit mehr als anderthalb Jahrzehnten appelliere ich an dieser Stelle an euch. Stets vergebens. Warum ich mir also jedes Jahr wieder die Mühe mache, verstehe ich inzwischen noch weniger als euch.

Deshalb, habe ich mir gedacht, veröffentliche ich die Serie ab jetzt chronologisch neu. Denn etwas genützt hat ja keiner der Appelle, schlechter als bei der Erstauflage kann es also auch nicht laufen. Los geht’s also mit dem Debüttext, der immer noch in damaliger Frische erstrahlt, und das ganz ohne Konservierungsstoffe:

Schaut bitte jetzt noch mal an euch herab. Arme, Hände, Beine, Füße: Alles ist noch dran. Das ist gut. Noch. Denn heute Nacht werdet ihr euch etwas wegsprengen. Ja, genau. Wahrscheinlich ein, zwei Finger, vielleicht auch eine Hand. Oder beide. Manche von euch wird es noch schlimmer erwischen. Im Gesicht nämlich. Ihr werdet die Nase verlieren, den Unterkiefer, die Augen. Und einige von euch auch den Rest: euer Leben.

Alles ist momentan noch dran, wenn ihr an euch herabschaut. Das ist gut. Doch in den Zeitungen vom 2. Januar werdet ihr auftauchen: als Beispiele für Dumm-, Blöd- und Bescheuertheit. Diesmal wart ihr zu blöd, einen Böller ordnungsgemäß abzufackeln.

Euer ganzes Leben – wenn ihr es denn behaltet – wird danach ein völlig anderes sein. Wahrscheinlich verliert ihr eure Mobilität. Vielleicht könnt ihr euch danach nie mehr alleine die Zähne putzen. Vielleicht verliert ihr euren Job. Oder euren Partner. Vielleicht beides.

Und alles aus Blödheit.

Aber noch ist nicht Mitternacht. Noch könnt ihr es vermeiden, am 2. Januar in den Zeitungen als Beispiele für lebensgefährliche Blödheit aufzutauchen. Wie wär’s? Ist eigentlich ganz leicht. Aber ich habe wenig Hoffnung. Denn genau das definiert ja Blödheit: sogar das eigentlich Leichte noch zu leicht zu nehmen.

Schaut bitte noch mal an euch herab. Arme, Hände, Beine, Füße: Alles ist noch dran. Und jetzt sagt zu all dem bitte leise servus.

Melancholische Grüße

Matt


 

29 Dezember 2023

Wieder mal die Bahn

Geplant ist, in Gießen in den ICE ein- und in Hamburg wieder auszusteigen, und gut is. Jedoch:

1. Der ICE ab Gießen fällt aus. Gerümpel auf der Oberleitung oder so. Alternative: Regionalzug nach Kassel, dort in einen ICE nach Hamburg. Und gut is.

2. Der ankommende Regionalzug ist ein geteilter. Die zur Weiterfahrt nach Kassel vorgesehenen Wagen fehlen allerdings, wie wir uns nach eiligem Auf- und Ablaufen ernüchtert eingestehen müssen. Die Bahn ist ratlos und weiß auch nicht, wo die Wagen sind. Ihr Rat: den Regionalzug nach Treysa nehmen, dort in einen Zug nach Kassel umsteigen, dann weiter nach Hamburg. Klingt praktikabel.

3. Der ankommende Regionalzug ist ein geteilter. Die zur Weiterfahrt nach Treysa vorgesehenen Wagen fehlen allerdings, wie wir uns nach eiligem Auf- und Ablaufen ernüchtert eingestehen müssen. Die Bahn ist ratlos und weiß auch nicht, wo die sind. Problem: Der nächste reguläre Zug von Gießen nach Kassel entfällt sowieso. Rat: Regionalzug nach Frankfurt nehmen, dort den ICE nach Hamburg entern. Der, so räumt man ein, sei jedoch so voll, dass unsere Reservierung nicht umgebucht werden könne. Wir holen uns deshalb die Gebühr direkt bar am Schalter zurück. Die neun Euro sechzig oder so kann uns keiner mehr nehmen – und das ist bisher das Beste, was uns heute passiert ist. Aber noch nicht das Allerbeste!

4. Der Regionalzug nach Frankfurt ist voll wie Harald Juhnke an Silvester. Sein Innenleben (also das des RE, nicht Juhnkes) erinnert an selige 9-Euro-Ticket-Zeiten. Aber hey, er bringt uns in Hessens heimliche Hauptstadt!

5. An Gleis 13 des Frankfurter Hauptbahnhofs fährt laut Anzeige erst noch ein anderer ICE ab; er steht schon parat. Wir kriegen nur durch Zufall mit, dass der wartende Zug bereits unserer ist und nicht etwa der an der Anzeigetafel. Beinahe hätten wir ihn unwissentlich ziehen lassen, was uns zwei tickende Zeitbomben wahrscheinlich hätte hochgehen lassen wie Harald Juhnke an Silvester, wenn sich herausstellt, dass Peter Frankenfeld den Schampus einzukaufen vergessen hat. Wir steigen ein, der Zug, er fährt los! Nach Hamburg!

6. Aber leider nicht zum Hauptbahnhof; er wird ihn nach einem Halt in Harburg links liegen lassen. Wir könnten allerdings in Kassel, Göttingen oder Hannover in einen Alternativ-ICE umsteigen, der jeweils auf dem Nachbargleis bereitstehen wird. Das ist die bisher drittbeste Nachricht des Tages (zweitbeste folgt unten, danach die allerbeste).

7. Wir beschließen, zunächst in unserem ICE sitzen zu bleiben und eventuell erst in Hannover direkt in den Speisewagen des Alternativzugs zu wechsen; schließlich haben wir hier trotz fehlender Reservierung zwei Abteilsitzplätze ergattert (= zweitbeste N. des Tages), und so was wäre bei einem früheren Umstieg gewiss nicht wiederholbar, denn DIE GANZE REPUBLIK STÜRMT GERADE DIE ZÜGE! Wir wollen ja unser Glück, das uns heute so hold war (vgl. die dritt- und zweitbesten Nachrichten des Tages), nicht überstrapazieren.

8. Nachdem also unterwegs drei Züge ausfielen und wir unversehens Mainhattan ein herzliches „Ei gude wie!“ entbieten konnten, kamen wir um siebzehn Uhr sechsunddreißig mit lediglich eindreiviertel Stunden Verspätung in Hamburg an. Das generiert die allerbeste Nachricht des Tages, nämlich eine fünfundzwanzigprozentige Rückerstattung des Ticketpreises. Hätte dieser blöde Zug bloß eine Viertelstunde Verspätung draufgepackt, wären es sogar fünfzig Prozent gewesen. Doch wir wollen uns nicht beklagen: Wir sind angekommen und damit Gebenedeite unter den DB-Kunden.

9. Nächsten Donnerstag trete ich die gleiche Reise erneut an. Bitte schließen Sie mich in Ihre Gebete ein.


 

25 Dezember 2023

Gelbe Weihnachten

Heute Nachmittag in der Davidstraße mit Blick nach Süden.

Schnee wird überschätzt.


19 Dezember 2023

Auf den Straßen von St. Pauli

Manches, was hier in der Seilerstraße so herumliegt, wirkt kieztypisch, etwa der damenlose Büstenhalter. Er wirkt ein wenig wie wütend entsorgt. Die Geschichte dazu würde mich interessieren, und ich ersuche Sie dringend, diese in erforderlicher Ausführlichkeit in den Kommentaren zu schildern.



Anderes mutet eher überraschend an – wie etwa die handliche Bibelausgabe im Fahrradkorb. Fahrradkörbe werden hier auf dem Kiez übrigens recht oft für Mülleimer gehalten. Ich weiß nicht, wie man diesem Irrtum aufsitzen kann; normalerweise lernt man die Unterschiede schon recht früh im Leben.


Die Stolpersteine in unserer Straße wurden nach dem bestialischen Massaker der Hamas in Israel von einem kleinen Schutzwall aus Grablichten umgeben. Inzwischen trotzen sie wieder unumsäumt Wind, Wetter und Antisemitismus.



Die tote Kieztaube hat ihr Dahinscheiden wohl der einen Zigarette zu viel zu verdanken. Alle Indizien sprechen dafür.



Es ist gewiss nur Zufall, dass das „Zu verschenken“-Schild neben einem völlig intakten und scheckheftgepflegten Mittelklassewagen herumliegt. Sonst wären seine Türen doch bestimmt – ähem – nicht verschlossen gewesen.