29 Juni 2022

Alles rollt (oder brennt)



Heute ein paar verstörende Geschichten mit Fortbewegungsmitteln im Fokus. Los geht es mit einer für langjährige Blogleser und -leserinnen längst sterbenslangweiligen Meldung: Mir wurde erneut ein Fahrrad gestohlen. Es war Nummer neun; oben ein Fahndungsfoto. Wenn Sie es irgendwo herumstehen sehen bla, bla, bla. Wer immer es war, er knackte dabei ein Abus-Faltschloss der höchsten Sicherheitsstufe, ohne irgendwelche Spuren oder Trümmer zu hinterlassen. Respekt.

Zum Glück war mein Rad versichert, zum Glück hat die Hausratversicherung nicht gezickt, sondern sofort bezahlt. Ich könnte nun also in den üblichen Modus verfallen und mir das nächste – zehnte – Rad kaufen und hoffen, es würde mir dereinst NICHT geklaut. Oder nicht so bald. Allerdings ist – laut Einstein – die Definition von Wahnsinn die, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten. Das fiel mir gerade noch rechtzeitig ein. Will sagen: Ich habe jetzt ein Abonnementrad von Swapfiets.

Dass ich erst neun Fahrräder später auf diese Idee gekommen bin, erfüllt im Grunde Einsteins Wahnsinnsdefinition vollauf, doch zur Ehrenrettung meiner geistigen Gesundheit kann ich sagen: Bis mir das achte Rad geklaut wurde, gab es so ein Angebot noch nicht. (Und kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit dem Anbieter Stadtrad – die Stationen sind zu weit weg, die meisten Räder dort kaputt, und mir bricht immer wieder der Angstschweiß aus, weil sich das vermaledeite Rad aus irgendwelchen Gründen nicht zurückgeben lässt und die Uhr tickt, tickt und tickt … Ein Gefühl ähnlich der Taxometerpanik, die mich regelmäßig bei Taxifahrten befällt.).

Als Backup zum Swapfiets-Dauerleihrad geruhte ich mir zudem einen Tretroller anzuschaffen (Lidl, 39,95 Euro). Er ist gut für den kurzen Weg zum Bäcker – und dafür, unvermittelt den Asphalt zu küssen (Protipp: Vermeiden Sie den Vortrieb, wenn Sie sich gerade in die Kurve legen). Die Ganzarmprellung links war aber bereits nach wenigen Tagen wieder weg.

Nicht nur ich befülle die Seilerstraße indes mit Fortbewegungsmitteln aller Art, das tat neulich auch der Besitzer des abgebildeten goldenen Benz. Wahrscheinlich ist sein Herrchen ein emeritierter Lude der ganz alten Schule, der die prolligen Lamborghinis seiner halbstarken Nachfolger einfach nur degoutant findet. Ähnlich muss auch jemand gegenüber dem nur wenige Dutzend Meter weiter abgestellten weißen Transporter empfunden haben, jedenfalls ging der unlängst unrettbar in Flammen auf. Wenn Sie also irgendwas gesehen haben bla, bla, bla.

Im Brauquartier stand neulich übrigens ein Fortbewegungsmittel namens Foodtruck, dessen Betreiber Pizzasuppe verkaufte. Auch das war sehr verstörend.





20 Mai 2022

Die gemütlichsten Ecken Deutschlands (176)


Ein Strand voller Körbe statt Menschen – was kann es Schön’res geben? 
Entdeckt heute Nachmittag in Travemünde.


16 Mai 2022

Pareidolien (141–142)


Beim letzten Eintrag in dieser traditionsreichen Rubrik – der erste stammt von 2011 und zeigt das Antlitz eines Reiskochers – musste ich verschämt und zähneknirschend eingestehen, bereits seit vollen drei Jahren nicht mehr pareidolisch tätig gewesen zu sein. Das war im Mai vergangenen Jahres. Insofern hat sich die Frequenz heute ruckartig verdreifacht, und dafür erwarte ich euphorischen Beifall.

Das erste der beiden heutigen Bilder zeigt einen Deckenausschnitt aus der Wohnung einer aufmerksamen Zuträgerin, die mir freundlicherweise dessen Veröffentlichung gestattet hat. Wer also weiterhin glaubt, holzgetäfelte Decken gingen innenausstatterisch gar nicht oder allenfalls auf der Hochalm, der muss auch damit leben, dass ebenda keinerlei Pareidoliemöglichkeiten mehr umgesetzt werden könnten. Und das kann nun wirklich niemand wollen. Wie es sich allerdings anfühlt, im trauten Heim permanent von der eigenen Decke entsetzt angestarrt zu werden, das habe ich die Zuträgerin zu fragen vergessen. Aber wozu gibt es die Kommentarspalte.

Die ebenfalls ins Rennen geschickte Mehrfachsteckdose aus meinem eigenen Bestand frönt hier seit Jahren einer unauffälligen Existenz, bis mir dieser Tage zufällig das eine, mit archaisch-analogen Antennenanschlüssen versehene Ende ihrer Längsseite in den Blick geriet. Und sofort ist diese recht panisch dreinschauende Mehrfachsteckdose nun unsterblich geworden. Sie hätte natürlich gerne auch früher schon mal auf sich aufmerksam machen können, aber niemand hat mehr Verständnis für Öffentlichkeitsscheu als ich.

Wer bereits diesen beiden Entdeckungen der komplexesten Gesichtserkennungssoftware der Welt – dem menschlichen Gehirn – etwas abgewinnen kann, dem werden die Augen übergehen, wenn er erst einmal bei der geschätzten Pareidolie-Tante in Wien vorbeischaut. Und das sollten Sie jetzt sofort tun.




27 April 2022

Mein erstes und letztes Interview mit Klaus Schulze

Von der Blogserie mit oben genanntem Titel hoffe ich ja immer, es möge niemals weitere Anlässe geben, sie fortzuführen. Aber heute ist es traurigerweise wieder einmal so weit. Denn Klaus Schulze, der Synthiepionier und unbestrittene CEO der Berliner Elektronikschule, ist gestern 74-jährig gestorben. Ein Anlass, der mich an mein Interview mit ihm im Jahr 2000 zurückdenken lässt. 

Ich hatte all meine Schulze-Alben dabei, über ein Dutzend, und schlug ihm ein kleines Quiz vor: Er solle mir bitte zu jeder Platte das Veröffentlichungsjahr nennen. Angesichts seines Outputs im Laufe von damals schon mehr als einem Vierteljahrhundert – sein Werk belief sich auf eine dreistellige Zahl von Alben – schien mir das eine nicht zu bewältigende Gedächtnisleistung. Doch weit gefehlt: Schulze machte keinen einzigen Fehler. Danach signierte er mir bereitwillig alle mitgebrachten Alben. Um so etwas habe ich im Laufe von 25 Musikjournalistenjahren nur zwei Künstler je gebeten: ihn und Townes Van Zandt

Hier nun mein erstes und letztes Interview mit Klaus Schulze, erschienen im November 2000. Aufs Duzen hatte übrigens er bestanden – nachdem ich ihn selbstverständlich respektvoll mit „Herr Schulze“ angesprochen hatte.

Man sollte meinen, der von der Technogeneration hochverehrte Elektronikguru Klaus Schulze, 52, residierte in wolkigen Höhen, wo er monumentale Werke wie die aktuelle Zehn-CD-Box „KS Contemporary Music“ (Rainhorse) zusammenstöpselt. Weit gefehlt: Der Berliner ist eine urige Type, der röhrende Motoren manchmal lieber mag als zirpende Synthies.
 
mw: Klaus, wie man hört, bist du Formel-1-Fan.
Schulze: Aber hallo! Jeder, der mich kennt, weiß, dass er mich alle 14 Tage von Donnerstagabend bis Sonntagabend nicht anrufen kann. 
mw: Häkkinen und Schumacher haben geweint. Dabei wurde die Formel 1 doch hochstilisiert zur Spielwiese der Alphamännchen …
Schulze: Ja, aber in Wahrheit steckt Romantik in jedem Rennen – wie einst bei den Rittern, wo es darum ging, wer als Erster mit der Lanze trifft. Und zu dem ganzen Romantikkram gehört auch dazu, dass man mal heulen kann.
mw: Verwunderlich, welchen Ausstoß an Alben du trotz deiner Rennleidenschaft produzierst …
Schulze: Ist doch nur alle 14 Tage, so ein Rennen. Und ich verbringe jeden Tag zehn Stunden im Studio; da kommen ein paar Platten bei heraus.
mw: Wie viele sind es denn inzwischen?
Schulze: Na, über 100 auf jeden Fall. Aber in 30 Jahren. Rechne det ma runter: Sind nur drei im Jahr. 
mw: Du hast dir immer viel Zeit gelassen, um Stimmungen, Atmosphären und Spannungen aufzubauen, während das Tempo unserer Kultur immer mehr zunahm.
Schulze: Ja, das ist das Problem mit der Kommerzialität, das die Firmen immer mit mir haben.
mw: Hast du diesen Widerspruch gespürt?
Schulze: Ich habe so angefangen und bin dabei geblieben. Ich kann’s nicht anders. Du könntest auch Fellini nicht zum Werbespot überreden.
mw: Flächen und Beats sind die wichtigsten Elemente deiner Musik. Um 1980 hat die Bedeutung der Beats allerdings zugenommen. Hing das mit der just erfundenen digitalen Technik zusammen?
Schulze: Beim Rhythmus nicht, aber bei der Aufnahmetechnik. Mein Album „Dig it“ war auch, glaube ich, das erste digitale überhaupt.
mw: Nein: Das war Ry Cooders „Bop til you drop“ …
Schulze: Ach, nee? Siehste, dann hat Stereoplay sich geirrt. Meine war von 1980 …
mw: … und Cooders von 1979.
Schulze: Ach ja.
mw: Im Lauf der Zeit hat Elektronik den Pop infiziert, Synthesizer übernahmen von der Gitarre die Führungsrolle – Musterbeispiel: das neue Madonna-Album „Music“. Fühlst du dich als Pionier dieser Entwicklung?
Schulze: Pionier würde ich mich nicht nennen, denn ich habe die 220 Volt nicht erfunden. Trotzdem ist es eine tolle Befriedigung für mich. 
mw: Auf dem „Mirage“-Cover beschreibst du den Synthesizer als „universale Musikmaschine, deren Möglichkeiten weit über das menschliche Hirn hinausgehen“. Da scheint eine fast religiöse Verehrung mitzuschwingen … 
Schulze: Religiös nicht, Verehrung schon. Denn ohne diese Geräte gäbe es mich nicht. Ganz einfache Sache. 
mw: … zumindest nicht als Musiker und Künstler.
Schulze: Du, ohne wäre ich wirklich eingegangen. 
mw: Der amerikanische Wissenschaftler Ray Kurzweil prophezeit ja über kurz oder lang den Cyborg, also die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Ist das für dich ein Traum oder Alptraum?
Schulze: Alptraum. Ich möchte schon ein organischer, mit allen Fehlern und Vorteilen behafteter Mensch sein. Nur möchte ich auch die Möglichkeiten des Cyborgs nutzen können. Meine Traumvorstellung war ja immer: vom Midistecker direkt in den Kopp. 
mw: Warum hast eigentlich ausgerechnet du eine solche Credibiliy bei der Technogeneration – und deine alten Kumpels von Tangerine Dream nicht?
Schulze: Die waren seit Ende der 80er nur amerikaorientiert, machten kurze Stücke mit Pausen dazwischen, damit die Leute ihr Popcorn kaufen konnten. Wir haben uns den Markt aufgeteilt: Ihr macht Amerika, ich mache Europa … Kennst du eigentlich den Unterschied zwischen Amerika und Joghurt?
mw: Na? 
Schulze: Joghurt hat Kultur.

 

Weitere Nachrufe, darunter Interviews mit:



04 April 2022

Fundstücke (257)

Zu den Dienstleistungen des Analservice Sperling gehören erwartungsgemäß Rohrreinigung und -sanierung sowie die besonders erwünschte Dichtheitsprüfung, und das alles natürlich rund um die Uhr. Schließlich weiß man nie, wann es einen trifft.

Aber was bedeutet bloß das große K auf seinem Werbeschild?

Entdeckt im hessischen Dillenburg.

03 März 2022

Die gemütlichsten Ecken St. Paulis (174)



 
Graffiti mitten auf Fensterscheiben geklatscht – was ist nur los mit den Menschen?

Entdeckt am Panoramaweg, St. Pauli.

17 Februar 2022

Mein unsterblicher Taschenrechner

Es muss Anfang der Achtzigerjahre gewesen sein, als ich den hier abgebildeten Sharp-Taschenrechner kaufte. Es handelt sich um das Modell EL-230. Im Lauf der Zeit tat der EL-230 mir hervorragende Dienste, half mir durchs Abi und im Alltag. 

Nach einigen Jahren – möglicherweise Anfang der Neunziger – begann ich mich zu wundern, dass dem arbeitsamen Gesellen nie der Strom ausging. Nein, der Taschenrechner kalkulierte, dividierte, zog Wurzeln, ohne je zu klagen oder aus Strommangel das Display abzuschalten.

Nichtsdestoalledem wanderte der EL-230 irgendwann in irgendeine Schublade in irgendeinem Büromöbel. Denn inzwischen war der Personalcomputer der neuste heiße Scheiß, und ich Hipster schaffte mir die erste Windows-Mühle an, einen Victor Vicki, und später einen Macintosh-Performa; Beginn einer langen und glücklichen Apple-Geschichte.

Mit diesen Vielfachkönnern waren natürlich auch einfache Berechnungen locker zu wuppen, und die große Zeit der Taschenrechner neigte sich ihrem Ende zu. Ich klackerte hinfort munter auf Tastaturen herum und vergaß die tapfere alte Sharp-Mähre. Bis gestern: Da räumte Ms. Columbo im Büro auf und aus, und was fiel ihr in die Hände? Der EL-230.

Was damit sei, fragte sie, ob er weg könne. Mit einem nostalgischen Lächeln nahm ich den Taschenrechner in die Hand. Flashbacks aus Abizeiten blitzten vor meinem inneren Auge auf. Dann drückte ich aus Jux und Dollerei einfach mal die On-Taste.

Es erschien eine Null. Der EL-230 meldete sich zurück zum Dienst. Er wartete auf eine Rechenaufgabe.

Ich war baffer als baff. Wie kann das sein bei einem Gerät aus den Achtzigern, bei dem nie, nie, nie die Batterien erneuert wurden? Solarzellen schieden als Erklärung aus, so was war damals noch Science-Fiction, und selbst wenn nicht, so hatte der EL-230 doch den Großteil seines geruhsamen Lebens im seligen Winter-, Sommer-, Herbst- und Frühlingsschlaf in sonnenfernen Schubladen verbracht. 

Hatte Sharp im EL-230 vielleicht einen Fusionsreaktor verbaut? Ist er atombetrieben? Oder handelt es sich dabei gar um das erste funktionierende Perpetuum Mobile der Wissenschaftsgeschichte?

Wie Sie sehen, hatte ich Fragen. Und das Internet natürlich Antworten. Rasch stieß ich auf den Brief eines Tschechen an Sharp, der begeistert schildert, wie er den EL-230 seit geschlagenen dreißig Jahren betreibt, ohne je die Batterie gewechselt zu haben. Pah, denke ich, nur dreißig? Meiner hat fast vierzig aufm Buckel! Laut Sharp beträgt die Lebensdauer der beiden verbauten 1,5-Volt-Batterien jedenfalls sagenhafte 10.000 Betriebsstunden, und da der clevere EL-230 sich automatisch abschaltet, wird auch kein Betriebsminütchen mit Nichtstun verschwendet.

Das erklärt natürlich alles: Mein EL-230 ist – trotz Abi und all der Fron in den Jahrzehnten danach – insgesamt halt noch keine 10.000 Stunden in Action gewesen. 

Und jetzt bauen wir eine solche Batterie einfach ins iPhone ein und schmeißen alle Ladekabel weg.




16 Januar 2022

Der reihernde Hund im Bus 112

Ein früherer Freund von mir war ein ausgewiesener Feind des öffentlichen Nahverkehrs. Aufgrund rarer, aber nachdrücklicher Erfahrungen beklagte er in Bussen und Bahnen olfaktorische Belästigungen, zu wenig körperliche Distanz zum Pöbel und eine generell unzulängliche Bekleidungsästhetik. Immer wenn ich ihn überreden konnte, einmal mit mir ein ÖPNV-Fahrzeug zu betreten, geschah prompt irgendetwas, was ihn in seinem Vorurteil bestätigte, und ich stand belämmert da.

Heute wäre mal wieder so ein „Siehst du, ich hab’s dir ja gesagt“-Tag für ihn gewesen. Tatort war ein Bus der Linie 112, den wir bestiegen, um nach Blankenese zu gelangen. Es begann schon damit, dass der Fahrer einen Gast am Einsteigen zu hindern suchte, weil dieser nur eine OP- und keine FFP2-Maske trug, wie es seit gestern in Hamburg vorgeschrieben ist. Der Fahrgast ignorierte diese Forderung geflissentlich und betrat den Bus, was der Fahrer widerspruchslos hinnahm.

Schlimmer aber war das bei unserer Ankunft bereits anwesende mittelalte Herrentrio im hinteren Teil des Busses. Alle drei waren wohl ebenfalls trotz des Fahrerprotestes ins Innere gelangt, denn auch sie trugen nur OP-Masken, und das nicht einmal mit jener Akkuratesse, die wenigstens die Basisfunktionen dieses Modells abgerufen hätte. Zudem krakeelten sie zugunsten einer optimalen Aerosolverteilung lautstark herum.

Wir hofften, all diese Kantonisten würden alsbald das Fahrzeug wieder verlassen, doch Pustekuchen. Stattdessen stieg eine Frau mit einem dreibeinigen Hund zu, der alsbald in den Gang reiherte, fest und flüssig. Die Versuche von Frauchen, die sich rasch über drei Längenmeter ausbreitende Bescherung zu beseitigen, gelang nur unzulänglich. Obwohl der Hund nach Kräften half, indem er einen Teil aufleckte.

Wir öttelten weiter Richtung Blankenese. Am Nienstedtener Marktplatz begehrte ein Rentner Einlass, der ebenfalls nur eine OP-Maske trug, und zwar konsequenterweise gleich unterhalb der Nase; war ja eh wurscht. Erneuter Versuch des Busfahrers: „Seit gestern Zustieg nur noch mit FFP2-Maske.“ Was aber hatte der Rentner leider nicht dabei? Eine ebensolche. Eine Frau unter den Fahrgästen half ihm glücklicherweise aus, sodass er eingelassen wurde. Die Maske setzte er dann verkehrt herum auf, mit der Nasenklammer unterm Kinn. Und wenn er seiner Bekannten, zu der er sich gesellte, etwas Wichtiges mitteilen wollte, zog er die Maske der besseren Verständlichkeit wegen runter.

In Blankenese verließen wir diesen Bus des multiplen Unbills eilends. Die Argumente des ehemaligen Freundes sehe ich plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Und dabei hatte er wahrscheinlich noch nicht mal einen Hund in den Gang kotzen sehen.





04 Januar 2022

Fundstücke (255)

Es wäre zu schön gewesen, hätte sich das neue asiatische Restaurant Red Bowl auf der Reeperbahn einfach gedacht: Lassen wir bei der „Nudel Box“ doch mal das l weg, und schon sind wir im Rotlichtviertel angekommen. Aber leider hat wohl nur irgendein Spaßvogel an der Tafel rumgewischt. Ich war’s nicht, ich schwör.

02 Januar 2022

Fundstücke (254)


Auf St. Pauli ist eben alles heiß, sogar die Kaltgetränke.

Entdeckt im Schaufenster des Pyjama an der Reeperbahn.

31 Dezember 2021

Der 17. offene Brief zu Silvester

Liebe diesjährige Bewerber um den Darwin-Award,

wie bereits im vergangenen Jahr, so kooperiere ich auch heuer bei meinem annualen Appell, von der silvesterüblichen Selbstverstümmelung abzusehen, mit der Bundesregierung. 

Die Ampelkoalition zeigte sich in den vergangenen Wochen erfreulich offen für meinen Vorschlag, einfach den Verkauf von Böllern zu verbieten, statt auf etwas zu setzen, was bereits in den vergangenen sechzehn Jahren jeweils durch erschütternde Abwesenheit glänzte: Ihr gesunder Menschenverstand.

Doch was müssen wir, die Bundesregierung und ich, aus den Nachrichten hören? Sie fahren einfach trotzig nach Belgien und Holland, um sich dann halt eben dort mit suizidalen Materialien sonder Zahl einzudecken. Denn Ihre verdammte verfassungsgarantierte Freiheit, sich mit Böllern, Raketen und Chinakrachern die Hör- und Sehkraft, Finger, Zehen und Eier zu atomisieren, ist Ihnen nun mal heilig.

Okay, das habe ich verstanden. Gleichwohl möchte ich Sie – wie immer seit 2005 – natürlich auch in diesem Jahr pflichtgemäß bitten, von Ihrem Vorhaben abzusehen. Wäre es nicht einmal – nur einmal! – eine ernsthafte Überlegung wert, Ihrer zugegebenermaßen schwergängigen IQ-Maschine ein Tröpfchen Schmieröl zu spendieren und so zu dem simplen Entschluss zu gelangen: Diesmal reserviere ich mir aber mal keinen Platz auf der Intensivstation?

Ich weiß, dieser Gedankengang erstaunt Sie bass. Darauf sind Sie noch gar nicht gekommen. Das hätte man Ihnen auch einfach mal sagen können. Aber jetzt wissen Sie es ja. Morgen in den Nachrichten werden Sie deshalb dank der Lektüre dieses Textes gar nicht vorkommen. Und das Beste: Sie nehmen keinem Ungeimpften das Intensivbett weg! 

Dafür schon jetzt herzlichen Dank. Kontrollieren werde ich das natürlich trotzdem. Morgen in den Nachrichten. 

PS: Alle Silvesterappelle gibt es unter dem Etikett „Silvester“ oder hier.

Foto: Gruppe anschlaege.de



Die gemütlichsten Ecken Deutschlands (172)


Gestern am Südstrand von Großenbrode, Ostsee.


27 Dezember 2021

Kalauer (16–18)



Still und heimlich mausert sich das nur scheinbar provinzielle hessische Herborn zur Kalauerhauptstadt Deutschlands. Hier drei Beweise, die mir heute unterkamen, ohne dass ich danach gesucht hätte.

Diese Zufallsfunde sprechen für weitere Vorkommen, die es alsbald zu entdecken gilt. Wir bleiben dran.

30 November 2021

Warum?

An der Fußgängerampel Mitte der Reeperbahn ist uns Fußgängern neuerdings das Überqueren der Straße qua Verbotsschild untersagt, auch bei Grün. 

Und wir, die wir die Reeperbahn nur allzu gerne weiterhin passieren würden und zu diesem Behufe mithilfe der tadellos funktionierenden Bettelampel auch den gesamten Verkehr auf einer der wichtigsten vierspurigen Straßen dieser Stadt einfach so stoppen können, dann aber doch nicht losgehen dürfen, wir fragen uns: 

Warum?

Thesen, Theorien und absurde Gedanken gern in den Kommentaren.

28 November 2021

Die böse Fee


„Wenn du drei Wünsche frei hättest“, sagte die gute Fee (zu dem Zeitpunkt dachte ich noch, es sei eine gute), „welche wären das?“

Ich musste nicht lange nachdenken.

„Gesundheit, Reichtum, Schönheit, in dieser Reihenfolge. Haben wir einen Deal?“
„Haben wir“, sagte die gute Fee. „Aber zu meinen Bedingungen.“
„Lass mich raten: Obergrenze beim Reichtum?“, scherzte ich.
„Nein. Aber ich behalte mir offen, ob ich dir alle drei Wünsche erfülle – oder doch nur zwei davon. Den dritten würde ich dann einfach in sein Gegenteil verkehren.“

66,66 Prozent Wunscherfüllung: Das klang doch immer noch höchst passabel. Bis ich das Ganze etwas tiefer durchdachte. Denn es könnte ja sein, dass ich a) zwar kerngesund und reich wie Bezos über die Erde schritte, dies aber als Mix aus Quasimodo und Elefantenmensch, bei dessen Anblick sogar Davidstraßenhuren schreiend davonliefen, selbst wenn ich mit 10.000-Euro-Scheinen wedelte.

Oder ich begänne mein neues Leben b) als Fantastilliardär mit dem Look des jungen Robert Redford, aber mit Lepra. Bliebe schließlich noch Variante c): ein vor Vitalität strotzendes Supermodel, das leider unter Brücken schlafen muss.

Hm.

„Dürfte ich denn denn eventuell“, fragte ich die gute Fee, „die Option ,vor Vitalität strotzendes Supermodel, das leider unter Brücken schlafen muss’ anklicken?“ Wenn ja, dachte ich insgeheim, dann wäre es mir angesichts meiner dann gegebenen physischen Vorzüge gewiss ein Leichtes, der finanziell prekären Situation zu entfliehen, und sei es nur übergangsweise als reich entlohnter Gespiele einer Blankeneser Witwe.

„Nun“, lächelte die mittelgute Fee, „eine Wahlmöglichkeit des Wünschers sehen die Vertragsbedingungen leider nicht vor. Du musst es schon meiner Lust und Laune überlassen, für welche Kombination ich mich schließlich entscheide. Aber“, fügte sie listig hinzu, „es kann ja auch sein, dass ich dir einfach alle drei Wünsche erfülle, und Schluss. Selbst getestet! Und viel Lob geerntet!“

Die böse Fee lachte glockenhell, was freilich das Alarmglockenbimmeln in meinem Hirn nicht zu übertönen vermochte. Und deshalb tat ich, was getan werden musste: das einzig Richtige.

Verdammt.

PS: Da die Fee sich nicht knipsen lassen wollte, muss ich mit einem nur leidlich passenden Symbolbild arbeiten. Entdeckt auf einer Elbfähre.



27 Oktober 2021

Unter Corona (15): Beim IQ-Test durchgefallen

O Blog, welch eine Brache! Aber es ist ja auch nix los auf St. Pauli. Abgesehen vom inzwischen längst wieder verhallten Lärm der schwarz gekleideten Rostocker Fußballfans vom vergangenen Wochenende.

Deren Intelligenzquotient war nicht nur ablesbar an der rhetorisch feinziselierten und choral vorgetragenen Kritik, die sie an ihrem Zweitligagegner übten („Scheiß-St.-Pauli!“), sondern auch an der Tatsache, dass sie ohne Eintrittskarten angereist waren. Ihr Verein nämlich, der FC Hansa Rostock, hatte das komplette Gästekartenkontingent zurückgegeben, und zwar aus Protest gegen die Unzumutbarkeit der 2-G-Regel, die der FC St. Pauli als Einlassvoraussetzung erlassen hatte.

Ich meine: Da fährst du los in Rostock in dem vollen Bewusstsein, dass du 150 Kilometer weiter in Hamburg mit Ansage gewaltigen Frust schieben wirst, weil du nicht ins Stadion darfst. Das weißt du vorher, und du weißt auch, dass dir dann nichts anderes übrig bleiben wird, als polizeieskortiert durch die Kiezstraßen zu ziehen und hilflos „Scheiß-St.-Pauli!“ zu brüllen.

Was treibt solche Leute an? Wie muss man sich ihre Prioritätensetzung im Leben vorstellen? Wen konnten sie mit ihrem überschaubaren Liebreiz zu einer romantischen Beziehung überreden? Wer nennt sie Schatz oder Papa?

Nein, das Universum hat es wirklich nicht leicht mit uns Menschen. Das gilt auch im Hinblick auf Corona. Diese Pandemie kommt mir immer mehr vor wie ein groß angelegter Intelligenztest. Und leider bestehen ihn manche nicht. Sie fallen sogar krachend durch, manchmal sogar mit letalen Folgen.

Ob diesbezüglich die Rostocker Fußballfans vom Wochenende beim Pandemie-IQ-Test im oberen Drittel abschneiden, wage ich zu bezweifeln. Masken habe ich jedenfalls keine gesehen in diesem dicht gepackten Block von ungefähr 200 Chorsängern. Aber wenn ihr eigener Verein gleichsam offiziell gegen eine Maßnahme zur Pandemieeindämmung protestiert, kann man es ihnen vielleicht nicht mal übelnehmen.

Jetzt sind sie jedenfalls wieder weg, zurück in Rostock. Dank der Fahrtkosten etwas ärmer, aber um keinerlei Erlebnis reicher. Mit Ansage.

O IQ, welch eine Brache!



28 September 2021

Die gemütlichsten Ecken Hamburgs (169)





Ambitionierte Quellwolken über der Elbe vor Blankenese.
Fotografiert heute Nachmittag an Bord der Fähre 62 Richtung Finkenwerder.


26 September 2021

Kant und Gammelfleisch

Was ich heute Morgen in meinem Fahrradkorb vorfand (und vor Ärger und Abscheu leider vergaß zu fotografieren), war folgendes Ensemble an Dingen, die vorher, beim Abstellen, noch nicht dort waren und dort auch keinesfalls hingehören:

 

– eine Edeka-Broschüre

– eine Burgerverpackung aus Styropor (zum Glück leer)

– eine zusammengeknüllte graubraune Papierserviette (stark gebraucht)

– ein mit Reis beflocktes handtellergroßes Stück Gammelfleisch, nasen- und augenscheinlich Lamm, sowie

– ein abgelutschter Eis-am-Stiel-Stiel mit halb eingetrockneten Vanilleeisspuren.

 

Ganz abgesehen davon, dass diese Kollektion keineswegs auf einen kulinarisch verfeinerten Geschmack ihres Schöpfers und Spenders hindeutet: Allem Anschein nach vermochte er auch im entscheidenden Moment nicht mehr den kategorischen Imperativ Immanuel Kants zu memorieren, der ihm anderenfalls in den Arm gefallen wäre mit der Erwägung, etwas am besten keinesfalls zu tun, sofern es – wenn es alle Erdbewohner täten – diese Welt nicht zu einem besseren Ort machen würde.

 

Also hieß es heute Morgen vorm obligaten Brötchenholen erst einmal spitzfingrig sauber machen. Was jetzt noch auf dem Drahtgittergeflecht des Fahrradkorbs verblieben ist, sind schwer zu entfernende Reisreste. Diesbezüglich hoffe ich auf unsere verlässlichsten Kumpel, die Mikroorganismen, welche in den nächsten Wochen (wahrscheinlich eher Monaten) doch bitte segensreich wirken mögen, danke schön vorab.

 

Ich befürchte allerdings, auch im kommenden Frühjahr dort im Korb noch Spuren mumifizierter Reiskörner vorzufinden. Und alles nur, weil irgendein Absolvent des gerade zu Ende gegangenen Reeperbahnfestivals im entscheidenden Moment ausnahmsweise mal nicht an einen unserer größten Philosophen gedacht hat.

 

Aber beim nächsten Mal wieder, da bin ich mir doch sehr, sehr sicher.


PS: Das Foto zeigt den Eingang der S-Bahnstation Reeperbahn, und zwar deshalb, weil ich, wie gesagt, den kontaminierten Fahrradkorb aus Ärger und Abscheu zu fotografieren vergaß.



24 September 2021

Die langweilige Katastrophe






Die App Katwarn hat sich für uns Kiezbewohner schon mehrfach als äußerst nützlich erwiesen. Zum Beispiel, wenn auf St. Pauli mal wieder eine scharfe Weltkriegsbombe entdeckt wurde, die sich nach einer missmutig ertragenen rund achtzigjährigen Zwangspause danach verzehrt, endlich doch noch ihrem Sinn und Zweck nachkommen und unser Viertel endlich nachhaltig verwüsten zu dürfen.

Allerdings ist die Lage nicht immer so ernst, wenn es Ping macht und Katwarn aufgeregt den Finger hebt. Gestern zum Beispiel warnte uns die App wieder einmal vor einer Sturmflut, und das klingt nach den Erfahrungen von anno neunzehnhundertzweiundsechzig (die Geburtsstunde des Mythos Helmut Schmidt) erst einmal nicht unbedrohlich. Die heutige Sturmflut sollte mit drei Meter neunzig über Normalhöhe Hamburg heimsuchen, doch anders als dereinst ist das Einzige, was eine solche Meldung bei eingesessenen Hafenanrainern hervorruft, das gelangweilte Heben einer bis anderthalb Augenbrauen. Und mehr ist die Meldung auch nicht wert.

Zugezogene wie ich lassen sich allenfalls dazu herab, den Termin des Scheitelpunkts der Welle zu ermitteln (gestern war er für 19:09 Uhr angekündigt), seufzend das Smartphone einzustecken, gemütlich zum Fischmarkt zu radeln und dort pflichtgemäß zu dokumentieren, wie Elbwasser träg über die Waterkant schwappt, Vorschulkinder in rosa Overalls durch Pfützen hüpfen, Abendstimmung sich über der wassersatten Elbe breitmacht – und wie diverse andere Fotografen und -innnen, die ebenfalls gemütlich zum Fischmarkt gepilgert sind, all das ebenfalls dokumentieren.

Kurzum: Eine Sturmflut ist hier am Hafen – trotz des aufgeregten Pings der Katwarn-App – längst keine Katastrophe mehr, sondern allenfalls Anlass eines Verdauungsspaziergangs nach dem Dinner.

Quod erat demonstrandum in der der heutigen kleinen Bilderstrecke.







18 September 2021

Bloggeburtstag Nr. 16


Wie im vergangenen Jahr bin ich auch diesmal erschütternd säumig, was meine Selbstgratulation zum Bloggeburtstag angeht. Na ja, das sechzehnte Wiegenfest ist nun einmal kein rundes, da darf man eher schon mal patzen.

Die oben zu sehende Statistik zu den Besucherzahlen reicht nur eine Dekade zurück, zeigt aber mit beschämender Konsequenz einen seit zwei Jahren anhaltenden Absturz. Wer als Blogger allerdings auch nur noch zwei oder drei Texte pro Monat veröffentlicht, darf sich keinesfalls wundern, wenn selbst ein dir noch so wohlgesinntes Webvolk sich kopfschüttelnd abwendet – oder zwischen zwei Beiträgen einfach vergisst, dass dieses Blog überhaupt existiert.

Jedoch scheint auch Google die Messmethode verändert zu haben, denn von einem Tag auf den anderen halbierten sich die Werte, und kein Mensch weiß, warum, ich am allerwenigsten. Vielleicht verübelt Google es mir auch, dass es hier vergebens nach einer Suchmaschinenoptimierung oder Werbeplätzen gesucht hat.

Einstweilen verabschiede ich mich gleichwohl mit der Aussicht auf Bloggeburtstag Nummer siebzehn, und bis dahin wird hier auch noch der ein oder andere Artikel zu lesen sein.

Ich schwör.

PS: Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass der neu angeschaffte Fahrradständer genau zwei Tage am Rad verblieb, ehe auch der mir wieder abgeschnitten wurde? Dann wissen Sie es jetzt.



07 August 2021

Die gemütlichsten Ecken St. Paulis (167)


Immer wenn ich durch den Alten Elbtunnel laufe, 
bin ich mir der 24 Meter hohen Wassersäule über meinem Kopf bewusst. 

Manchmal ein wenig zu sehr.


06 August 2021

Der Charaktertest

Im letzten Beitrag mit dem Titel „Und wieder ist ein Ständer weg“ informierte ich Sie und die staunende Welt über den erneuten Verlust meines Fahrradständers, den wohl jemand mit seit Jahren nicht stillbaren Kastrationsfantasien zu verantworten hat – gerade auf St. Pauli eine sehr kontraproduktive Störung.

Statt mir nun einen neuen Ständer zu besorgen, der alsbald wieder abgesägt würde, wie ein Blick in meine unbestechliche Glaskugel verriet, entschied ich mich zu einer Bastelstunde. Im Mittelpunkt: ein alter hölzerner Kochlöffel und eine Rolle Isolierband. Eine halbe Stunde später sah die Lage so aus wie auf dem Foto.

Allerdings spielte die Physik nicht mit. Zum einen war der Löffel etwas kurz, zum andern war er mit dem Bordmittel Isolierband nicht derart fixierbar, dass er davon abgehalten werden konnte, immer wieder zeitlupenhaft wegzuknicken. Meine Konstruktion war also nicht mal annähernd in der Lage, die selbstverständliche, mühelose Funktionalität des abgesägten Ständers auch nur vage zu imitieren. Immerhin kann ich mich seither wenigstens in der Gewissheit sonnen, weltweit der wohl einzige Radbesitzer von ganz St. Pauli zu sein, dessen Gefährt über einen ausklappbaren Kochlöffel verfügt.

Das Ganze bleibt also zunächst einmal unbehoben, deshalb widmen wir uns lieber Ms. Columbos Fahrrad, dessen Benutzung sie schon seit Langem aus Gründen, die hier nicht weiter von Belang sind, verschmäht. Seit Jahren fristet es in Ermangelung eines wettersicheren Unterstandes ein tristes Dasein auf unserem Balkon, mit allen Nachteilen, die Ero- und Korrosion so mit sich bringen.

Schon vorher war das Rad in einem Zustand, der mit „renovierungsbedürftig“ nur beschönigend beschrieben wäre. Eine der beiden Handbremsen ließ sich überhaupt nicht mehr zu einer Bewegung überreden, die andere zwar schon, indes zeigte sie keinerlei Wirkung. Die Lampen gingen weder vorn noch hinten, den Reifen gebrach es an Luft, das ganze Ding war ein einziges großes Elend. Und dann kamen auch noch die langen, einsamen Jahre auf dem Balkon hinzu, die Unbill wechselnder Jahreszeiten mit Regen, Frost und Hitzebrut, die den stetig herabrieselnden Großstadtdreck in gemeinschaftlicher Anstrengung zu einer bockelharten Schicht verbuken, deren Entfernung man nur noch einem Sandstrahler zutraute.

Die Frage war also: Was tun mit dieser Radruine? Sie weiter auf dem Balkon Platz beanspruchen zu lassen, während sie sehr, sehr langsam den Gang alles Irdischen ging, schien nicht mehr tragbar. Doch um sie zum Beispiel in den Stand eines Ersatzrades für mich zu versetzen, hätte ich gewiss 200 Euro – und damit weit mehr als den Restwert – in die Hand nehmen und sie zu einem die Hände über dem Kopf zusammenschlagenden Fachmann schleppen müssen – nur um das Rad nach Instandsetzung erneut auf dem Balkon den fatalen Folgen von Ero- und Korrosion auszusetzen. Und für 200 Euro habe ich ehrlich gesagt auf dem Flohmarkt schon Gebrauchträder gekauft, die sich drei Jahre lang weitgehend beschwerdefrei fahren ließen (ehe sie mir wieder geklaut wurden).

Nein, eine Rundumreparatur schied aus. In Absprache mit der Eigentümerin entschloss ich mich stattdessen zu einem Charaktertest der Nachbarschaft: Ich stellte das Fahrrad unten auf den Gehweg zu all den anderen dort versammelten Artgenossen – allerdings ohne es am Geländer festzuketten.

Was würde geschehen? Wie lange bliebe es wohl ungeklaut dort stehen in all seiner Verletzlichkeit? Würde jemand bei diesem Haufen Schrott überhaupt noch zugreifen? Und wenn ja, wie viel Zeit würde vergehen, bis sich ein GEWISSENLOSES RIESENARSCHLOCH OHNE WÜRDE, ERZIEHUNG UND RESTMORAL seiner bemächtigte?

Nun, es waren knapp 24 Stunden.

Ich finde, damit hat der Kiez den Charaktertest klar bestanden. 
Denn es hätten ja auch nur zwei Stunden sein können.

PS: Mein Kochlöffel ist übrigens immer noch dran. Weiß auch nicht, was da los ist.