Reeperbahnfestival! Jedes Jahr der höchste Höhepunkt in einem an Höhepunkten wahrlich nicht armen Viertel. Reeperbahnfestival heißt: sich über den Kiez treiben lassen, der von unzähligen Indieacts- und -bands zum Wackeln gebracht wird, mal in diesem Club vorbeischauen, mal in jenem (gilt natürlich auch für den Astra-Stand), und irgendwann ist es plötzlich nach Mitternacht und man freut sich auf morgen.
Bei dem Londoner Soulfunker Joel Culpepper in Angie’s Nightclub überzeugt vor allem das Outfit und sein Prince-Falsett, doch als er fragt, ob es cool sei, wenn er das Publikum ein wenig einbeziehe, muss ich mich leider absentieren. Ich gehöre zu jenem misanthropischen Publikumsteil, der auf keinen Fall einbezogen werden möchte, weder zum Mitklatschen noch -singen und erst recht nicht zum Auf-die-Bühne-geholt-Werden. Also tschüs, Joel – und hallo Frum!
Die blonde färöische Sängerin führt eine Art Nachthemd aus und dazu etwas klobig Sneakerartiges, worauf man sich vor allem deswegen gut konzentrieren kann, weil ihre Stimme zu leise abgemischt ist. Im Publikum: die legendäre, ebenso winzige wie einen grotesk hoch aufragenden Hut tragende Sängerin, Komponistin und Produzentin Linda Perry.
Ach, ich weiß noch, welch ein Wahnsinns-Wow anno 1992 ihr 4-Non-Blondes-Song „What’s up” beim allerersten Ohrkontakt auslöste – und wie unerträglich das Stück beim tausendsten Mal geworden war. Dieses Schicksal – es tausendmal hören zu müssen – blieb in der ganzen westlichen Hemisphäre damals wohl keinem erspart. Ein Supersuperhit. Und jetzt steht Frau Perry hier im Nochtspeicher, starrt auf das Nachthemd einer Färöerin, deren Stimme zu leise abgemischt ist, und denkt wahrscheinlich: kein Supersuperhit, nirgends.
Auf dem Weg die Davidstraße runter stelle ich fest, dass der an einem Band um meinen Hals baumelnde Presseausweis des Reeperbahnfestivals die Huren so zuverlässig fernhält wie eine Knoblauchknolle Dracula. Bis jemand von links ein „Matthias, kommst du mal her?“ flötet. Da hat eine ziemlich gute Augen und meinen Namen auf dem Ausweis identifiziert. Er ist also doch keine Knoblauchknolle.
Vorm Sankt-Pauli-Museum, wo später zu Elektrobeats und Landschaftsfilmen eine verzaubernde Frauenstimme zu hören sein wird, die überraschenderweise einem muskulösen kahlköpfigen Franzosen namens Temperance gehört, treffe ich das Kiezurgestein schlechthin: Günter Zint.
Wenn einer sowohl ein Chronist St. Paulis als auch der linken Protestbewegung der alten Bundesrepublik ist, dann der 77-Jährige mit seiner halben Brille, über deren Rand er dich mit gesenktem Kopf mustert. Irgendjemand müsste Günter mal über die immense Nützlichkeit von Gleitsichtbrillen informieren, aber dann wäre auch sein Markenzeichen flöten. Also lieber doch nicht. Der Mann war einst an allen Brennpunkten, Startbahn West, Gorleben, er war mit Wallraff undercover, und ich wundere mich ein bisschen, wieso er augenblicks nicht durch den Hambacher Forst kraxelt.
Weil er sich um sein Museum kümmert, vor dem ein Verkehrsschild steht, an dem er gerade wackelt. „Ich geb dir 200 Euro“, raunt er mir zu, „wenn du dieses Schild hier mit der Flex abschneidest.“ Das Schild informiert darüber, dass die Einfahrt in die Friedrichstraße zwischen 20 Uhr abends und 5 Uhr morgens verboten ist. Aber es steht halt auch direkt vorm Eingang von Zints Museum. „Dieses Schild“, sagt er und rüttelt wieder dran, „ist auf jedem Scheißtouristenfoto des Museums zu sehen!“
Eine junge Frau, die sich als eine Groninger Booking-Assistentin namens Myrte entpuppt, hört amüsiert mit, und Zint sagt: „Ich gebe dir 300 Euro …“ (was hier, in der Davidstraße, ein noch missverständlicheres Angebot sein dürfte als in irgendeiner anderen Straße Europas) „… wenn du das Schild hier mit einer Flex umlegst!“ Für mich 200, für sie 300. Schon verstanden.
Das Schild steht heute morgen übrigens immer noch da, das Reeperbahnfestival geht in seinen zweiten Tag, und plötzlich wird es Mitternacht sein, und man freut sich auf morgen.
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