Heute in aller Früh gewann Lucy Diakovska (47) die TV-Realityshow „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ und gilt in einschlägigen Kreisen nun ein Jahr lang als „Dschungelkönigin“. Willkommener Anlass für mich, auf meine Begegnung mit der fünfköpfigen Band No Angels zurückzublicken, mit der Lucy 2001 europaweit berühmt wurde. Triggerwarnung: Damals nannte man selbst 24-jährige Frauen noch „Mädchen“, und ja: Auch ich tat das. Dass die fünf „Mädchen“ Teil eines Konstrukts waren, das gesellschaftlich akzeptiert als „Girlgroup“ galt, mag als Erklärung dienen. Wie auch immer: Damals gemeinsam mit Lucy und den restlichen No Angels an einer kreischenden Teeniemasse vorbeizulaufen, gehört zu den prägenden Erlebnissen meines Journalistenlebens. Der folgende Text erschien im Juni 2001 in der kurzlebigen Zeitschrift _ulysses.
Manche haben studiert, manche nicht. Manche arbeiten tags, manche nachts; manche kommen und gehen, wann sie wollen: Menschen mit Traumjobs. Wie die Girlband No Angels. Beruf: Popstars.
Wir müssen über den Gang, drei Meter bis zum Fahrstuhl. Draußen, an der Glasscheibe des Rundfunkgebäudes, quetschen sich Hamburger Teenies die Nasen platt. Als wir hinübergehen, kreischen sie, als wären wir die Beatles. Wir sind aber nur die Girlband No Angels mit einem Journalisten, der sich für zwei Sekunden im Mitläuferruhm sonnen darf. Ein seltsames Gefühl, auch für die fünf Mädchen, die vor einem Jahr noch selbst an irgendwelchen Scheiben gekreischt hätten, wenn Britney oder Blümchen drei Meter weit zum Aufzug gelaufen wären.
Jetzt ist plötzlich alles anders. Jetzt sind sie sogar dem Spiegel einen Artikel wert, auch wenn der sie als „Retortenband“ abqualifiziert. Die taz warnt vor der „singenden Geldmaschine“, und die Rheinische Post quält sich ein neues Genre ab: „braver, Clearasil-entkeimter Bonbonpop“. Das finden Sandy (19), Jessica (24), Vanessa (21), Lucy (24) und Nadja (18) ziemlich lustig.
„Na und?“, gibt Jessica sich souverän. „Finde ich überhaupt nicht schlimm. Wir sind ja zusammengecastet worden – wie viele andere auch. Mich macht es stolz, dass wir so viel Geld verdienen. Die Spice Girls haben auch Millionen gescheffelt.“
„Ich bin Lucy – und werde 25“: Den Satz indes hätte ein Spice Girl nie gesagt. Den sagt ein bis auf die Knochen gebrieftes Popsternchen nicht, wo die Bravo doch für jeden Monat, den ein Titelstar jünger ist, tausend Hefte mehr verkauft. Nein, Lucy ist noch nicht so gewieft, wie es ihr Management gerne hätte. Immerhin: Sie hat vorher schon Branchenluft geschnuppert, beim Musical „Buddy“. Die anderen tanzten höchstens ein bisschen oder sangen in der Badewanne. Aber dort fangen Träume ja immer an.
In ihrem neuen Leben bleibt nur noch Zeit für die Dusche zwischendurch. „Die Mädels“, wie der Polydor-Plattenmanager Rainer Moslener sie nennt, verbringen die Tage jetzt mit Videodrehs, Interviews und Radioauftritten, ehe sie an kreischenden Teenies vorbei zum Aufzug laufen müssen.
Das schlaucht, denn vor Kurzem noch standen sie in beschaulichen Provinzboutiquen an der Kasse, verkauften Pauschalreisen oder schaufelten sich – wie Vanessa – in Unibibliotheken Wissen rein, das irgendwann einmal für einen anständigen Beruf reichen sollte. Und weil sie gut singen konnten, träumten sie alle vom Glamour des Pop.
Vanessa war damals gerade einkaufen, als sie über das Casting zur „Popstar“-Serie auf RTL II stolperte. Sie sang, geriet unter die letzten 30, flog nach Mallorca, wo der Darwinismus der Girlgroup-Findung in die entscheidende Phase ging – und plötzlich war sie ein No Angel. Wie die anderen vier: Mädchen, die sich plötzlich in ihrem eigenen Traum wiederfinden. Und feststellen, dass sie nicht aufwachen, wenn sie sich kneifen, und dass der Traum Arbeit bedeutet und Liegestützen und Muskelkater.
„Viele“, sagt Jessica, „stellen sich vor, dass man nur noch ei-de-dei über die Straße geht.“ Falsch! Doch der Traumberuf Popstar ist nun mal genau das, was die Fünf immer wollten. Auch wenn sie das Wort Privatleben vorerst nicht mehr buchstabieren können. Lucy, mit ihren feuerroten Haaren der Kobold der Band, zuckt die Schultern und lächelt fatalistisch. „Wir haben uns ja dafür entschieden“, sagt sie. „Und wenn es weiter so gut läuft wie bisher, können wir uns eines Tages ein schönes Leben leisten – und zwar eins mit Privatleben.“
Eine Marketingkombi aus Dokusoap und Singlehit war der Pusch, weitergehen muss es jetzt ohne Fernsehschub. „Die Serie war eine tolle Plattform“, sagt Sandy, die quicke Quotenblonde der Band. „Aber die letzte Folge ist gelaufen, und jetzt gibt es nur noch die No Angels. Wir müssen jetzt da durch, wir müssen uns beweisen.“ Die Träume vom Traumjob, die sich so unfassbar schnell erfüllten, sie gehen jedenfalls weiter. Jessica hat leuchtende Augen: „Wir können eine eigenständige Gruppe werden, die alles beeinflussen kann: die Musik, die Texte. Genial!“
„Ja“, pflichtet Lucy bei, „das ist sogar erwünscht!“ Sie wird bald 25, sie ist Mitglied einer Retortenband und glaubt, ihre Kreativität sei erwünscht. Und der alte Branchenhase Rainer Moslener sitzt am Tisch und sagt dazu lieber nichts. Er mag die „Mädels“, wirklich. Nach und nach wird er ihnen alles beibringen über die Haifischbranche Popbiz. Und zwar so schonend wie möglich.
Fotos: Polydor (2001), Stefan Menne, RTL (2024)