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04 Mai 2008

Schnauze!



Ms. Columbo und ich überqueren dort, wo die Reeperbahn in die Königstraße übergeht, schwatzend den Fußgängerüberweg. Uns kommt ein heillos verdreckter Graubartzausel entgegen.

Als wir uns begegnen, sagt er zu mir: „Halt die Schnauze!“


Eine ungebührliche und zudem vollkommen grundlose Frechheit, die zwar möglicherweise einem prekären Schicksal geschuldet ist, der aber ein Mann von Welt gleichwohl mit schneidender Eloquenz entgegenzutreten verpflichtet ist.

Mehr noch: Gefragt ist nun die überlegene Kraft des rhetorischen Floretts, eine abgeklärte Kühle, die den ungehobelten Widerpart seinen Fauxpas nicht nur bitterlich bereuen, sondern eine Wiederholung desselben ein für alle Mal verunmöglichen wird.

Und noch während mir all diese Handlungsoptionen durch den Kopf gehen sollten, höre ich mich schreien: „HALT DU DOCH DIE SCHNAUZE!“

Soviel zum Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

27 April 2008

Sie hat ja kein Handy

Unter der Plakatwand an der Simon-von-Utrecht-Straße lagert regelmäßig eine Gruppe heimatloser Russen. Einer von ihnen liegt langgestreckt auf dem Gehweg in seinem Blut und rührt sich nicht. Eine Passantin mit Zahnlücke und unvorteilhafter gelber Jacke steht dabei. Ich halte an und frage: „Hat schon jemand Hilfe gerufen?“

Sofort umringen mich zwei Russen und bedeuten mir, dies sei noch nicht geschehen. Ich zücke mein Handy. Die Passantin sagt: „Ich finde es gut, dass Sie anrufen. Ich habe ja kein Handy.” Ich wähle 110. Was falsch ist. 112 wäre richtig: die Feuerwehr. Das für alle, die dies lesen und in eine ähnliche Situation geraten. Die Polizei stellt mich durch zur 112. Ich schildere die Lage.

„Atmet der Mann?”, fragt mich eine männliche Stimme.
„Kann ich nicht sagen.”
„Versuchen Sie es festzustellen.”
Ich beuge mich über den reglosen Mann, der mit dem Gesicht in seinem Blut liegt, und stupse ihn leicht an. An der Schulter. Ein flatterndes Blinzeln ist die Folge. Nicht tot: Das ist gut.

„Er blinzelt”, sage ich.
„Atmet er?”
„Hören Sie, wenn er blinzelt, atmet er ja wohl auch.”
„Atmet er normal?”
„Das weiß ich nicht! Warum kommen Sie nicht einfach?”
„Weil ich hier ein Abfrageprotokoll habe, das ich ausfüllen muss.”
Klar, muss er wohl, aber ich zittere vor Aufregung und allmählich auch vor Ärger.

Das Stupsen zeigt Wirkung. Ächzend setzt der Verletzte sich auf. Eine Schliere aus Blut und Schleim hängt ihm zentimeterlang aus der Nase, reißt ab und suppt lautlos auf den Gehweg, wo sie die Lache vergrößert. Sein Kopf sieht aus, als spielte er in „Hostel“ mit, als Opfer. Die Russen um uns herum schimpfen und zetern. Sie brüllen auf ihn ein. Auf Russisch.

„Er hat sich hingesetzt”, informiere ich die 112-Stimme, „das heißt ja wohl, er atmet normal.”
„Bleiben Sie dort und versorgen Sie ihn. Wir kommen.”
„Gut, ich bleibe hier.”

Die Versorgung garantiere ich lieber nicht, doch es ist vielleicht der falsche Zeitpunkt, das zu thematisieren. Ich klappe das Handy zu. „Ich finde es gut, dass Sie angerufen habe“, sagt die Passantin ihren Text auf, „ich habe ja kein Handy. Kommen die?” Ich nicke.

Dann erzählt sie von ihrem epileptischen Nachbarn und davon, dass die Notrufhotline auch mit ihr jedesmal neu das Abfrageprotokoll durchgeht, ehe sie Ärzte losschickt, selbst beim zwölften Anfall. „Ich finde es gut, dass Sie angerufen haben. Ich habe ja kein Handy.”

Zehn Meter weiter ist eine Drogerie, dort hätte sie ja mal Bescheid sagen können, denke ich. Aber ich will hier keine neue Front aufmachen. Dann kommen die Notärzte.

Sie ziehen sich Gummihandschuhe über und nehmen den Mann mit ins Krankenhaus, während sein Blut in der Sonne zu trocknen beginnt.

PS: Das Foto stammt vom Spielbudenplatz, erinnert aber sehr an die geschilderte Szenerie.


10 November 2007

Nur keine Hemmungen



Tagtäglich verschlägt es mich berufsbedingt in die Zeisehallen, und ebenso oft streift mein Blick ein Gitterkonstrukt, welches hier als schwarzes Brett fungiert.

Die an dünnen Metallstreben befestigten Aushänge flattern und fleddern schon nach kurzer Zeit zerzaust vor sich hin. Es sei denn, sie sind ganz frisch, wie der abgebildete. Ein wirklich erstaunlicher Aushang. Sowohl sein Zielpublikum als auch die dahinter sich verbergende Lehre sind mir zwar völlig schleierhaft. Dennoch begann ich innerlich zu juchzen und zu jauchzen, und alles nur wegen des Textes zum Tryptichon.

Kein einziger Deppenbindestrich, trotz der prachtvoll entwickelten Komposita! Wo findet man das heutzutage noch? Ich erwog, meine Begeisterung in eine spontane Schüttelanwendung münden zu lassen, merkte aber, dass dies mit Hilfe einer Enthemmungsmusikrassel erheblich einfacher zu bewerkstelligen wäre. Doch ich hatte zufällig keine zur Hand.

Und der Obdachlose mit dem hygienisch bedenklichen Dreijahresbart, der immer hinterm Gitterzaun sitzt und mich täglich fragt, ob er mich malen dürfe, hatte nicht einmal ein geeignetes Ansprechpartnergesicht zu bieten. Im Gegenteil.

Noch Stunden danach beschäftigte mich der Zettel. Welche speziellen Hemmungen soll die Enthemmungsmusikrassel nach dem Willen des Zettelaufhängers überhaupt lösen? Eine Frage, die mich einfach nicht mehr loslässt.

19 Mai 2007

Das Beste draus machen

Als Obdachloser wäre ich völlig fehlbesetzt. Die üblichen Annehmlichkeiten des Behaustseins (Dusche, Balkon, WLAN) scheinen mir gänzlich unverzichtbar.

Vor allem bekäme ich schlicht keinen Schlaf, da unsere Federkernmatraze meine Schlummerfähigkeit praktisch komplett monopolisiert hat. Selbst Hotelbetten vermögen es selten, mir ein Ambiente zu bieten, das Morpheus wohlgefällig wäre; ein Campingurlaub ist unter diesen Umständen natürlich erst recht undenkbar.

Nein, draußen auf der Straße fände ich keine Sekunde Schlaf, was mir tagsüber beim Betteln wohl viel Überzeugungskraft nähme.

Auf St. Pauli begegnen mir dagegen jeden Tag bockelharte Cracks, die im Gegensatz zu mir nicht mal komatös sein müssen, um stundenlang regungslos auf Betonmauern, Abluftgittern oder Gehwegplatten herzumzuliegen.

Und manchmal – wie der, den ich heute an der Simon-von-Utrecht-Straße unter einer Werbewand vorfand – tun sie das sogar an symbolträchtigen Stellen.

04 Mai 2007

Die Verrückte

Heute sah ich sie wieder, die Verrückte. Sie irrt oft durch St. Pauli, manchmal trifft man sie auch in der U-Bahn.

Es handelt sich um ein hageres, sozial enthemmtes, oft sturzbesoffenes Wesen mit Kurzhaarschnitt und Männerklamotten, das äußerlich an Martin Semmelrogge erinnert. Unablässig spricht es Leute an und bestreitet diese ausnahmslos einseitige Kommunikation mit den wirrsten Inhalten.

Meist handelt es sich dabei um Beleidigungen, oft aber auch um räsonierende Weltbetrachtungen, wobei die dazugehörige Welt erst noch erfunden werden muss. Das Erstaunlichste dabei ist die Mimik dieser Frau: Sie würde reichen für eine Schauspielkarriere.


Die Verrückte vermag nämlich jeden einzelnen Gesichtsmuskel beliebig zu bewegen. Zwischen den Verzerrungen der Wut und aasigem Grinsen vergeht keine Nanosekunde, und schon in der nächsten ist ihre in jede denkbare Richtung verbiegbare Gesichtstopografie bei Abscheu und Verachtung angelangt.

Welch ein Talent! Und welch eine tragische Verschwendung davon. Denn ihr Gehirn, das all diese Möglichkeiten steuert, schießt seine Befehle wahllos ab auf die Nervenenden und Muskelfasern, und deshalb läuft die Frau durch St. Pauli und gilt als verrückt.

Ihr Geschlecht übrigens war mir nie völlig klar, bis heute morgen. Sie stand hüftabwärts nackt und breitbeinig vor World of Sex auf der Reeperbahn neben einem Müllcontainer, ihre Männerhose hatte sie ausgezogen, und sie ließ sich die Pisse zwischen die Füße pladdern, während sie einem verstörten Passanten, der einen Bogen um sie schlug, auf Hamburgisch über einen unverständlichen Sachverhalt informierte: „Das war ein Fransosee!“, schnarrte sie.

Seit heute also kann ich das Geschlecht der Verrückten genauer bestimmen. Ich verzichtete auf ein Foto ihrer Rückseite (stattdessen die Satellitenperspektive), das problemlos möglich gewesen wäre, und schlug einen großen Bogen um sie. Als ich an der Bushaltestelle stand, sah ich sie die Davidwache betreten. Arme Bullen.


Dann kam ein Cockerspaniel vorbei und pinkelte neben mir an einen Stromkasten.

15 Januar 2007

Das Richtige ist das Falsche

Sich auf St. Pauli ethisch einwandfrei zu verhalten, ist nicht einfach. Sogar unmöglich. Zwei Beispiele.

An der Reeperbahn Höhe Hamburger Berg sehe ich einen gutsituierten Passanten mit typischem Accessoire, nämlich einer Pulle Bier. Es handelt sich um eine Pfandflasche, sie ist leer, und er bietet sie netterweise einem gerade vorbeischlurfenden Prekarier an.

Gute Sache. Eigentlich.

Der Berber nimmt die Buddel wortlos, geht zum nächstbesten Mülleimer, legt sie hinein, pflügt dann den Abfall sorgsam um, findet nichts, lässt die Pfandflasche drin und schlurft weiter.

Zur Klarstellung: Kaum etwas ist erschütternder, als Menschen im Müll wühlen zu sehen; gerade diese öffentlich demonstrierte Würdelosigkeit gibt eine Ahnung von der Brutalität ihrer Verarmung. Dass aber nun dieser Mülleimerwühler die Pfandflasche darin liegen lässt, verwirrt mich zutiefst. Das passt nicht zusammen.

Oder beweist dies eine Art Restwürde, nach dem Motto: Ich habe auch meinen Stolz und lasse mich nicht mit einer Pfandflasche abspeisen? Jedenfalls misslang der Versuch des Passanten, ein kleines gutes Werk zu tun und sich ethisch korrekt zu verhalten.

Wenig später misslingt es auch u. a. mir. Ich stehe mit einigen anderen an der roten Fußgängerampel Reeperbahn/Hein-Hoyer-Straße, betrachte sinnierend die Grafittiwand gegenüber und warte geduldig – nicht etwa wegen des Ampelmännchens, wie ich für die anderen einfach mal mit annehme, denn in Hamburg geht man natürlich über jede Straße, wenn dies gefahrlos möglich ist.

Nein, wir bleiben stehen wegen des etwa vierjährigen Kindes, das mit uns wartet und von einem jungen Elternpaar an den Händen gehalten wird. Plötzlich aber geht das Paar los, bei Rot und mit dem Kind in der Mitte. Und wir bleiben belämmert zurück, gehüllt in die Lächerlichkeit einer kümmerlichen und nutzlosen Ethik.

Verdammt, wieso glaube ich eigentlich immer wieder, ein richtiges Leben im falschen sei doch möglich?

Vorsatz für 2007: Keine Pfandflaschen an Penner verschenken – und nicht mehr versuchen, anderer Leute Kinder zu erziehen.

01 Januar 2007

Das muss noch besser werden

Auf der Silvesterfeier thematisiert M. meine Anwesenheit. Man könne sich ja gar nicht mehr unbefangen verhalten, wenn ein Blogger da sei. Mehrfach kommt er darauf zurück, und ich gewinne schließlich den Eindruck, er möchte gern mal verbloggt werden.

Hiermit passiert.

P. erzählt, wie er alljährlich über die Aftershowparty der Berliner Echo-Verleihung marodiert und promifeindliche Streiche ausheckt. Seine überfallartige Schwitzkastentechnik soll vor allem Dieter Bohlen in unschöner Erinnerung haben. Und sein aus dem Hinterhalt inszeniertes Haareverwuscheln kommt bei Feldbusch & Co. auch nie toll an.

Auf unserer Silvesterparty aber spielen derlei Kindereien keine Rolle. Dafür andere. Einige Anwesende, allen voran die vielköpfig vertretenen Thais, frönen einem typischen Vergnügen des 21. Jahrhunderts: sich gegenseitig beim Fotografieren zu fotografieren.

Ich auch.

Nachts auf dem Heimweg begegnet uns an der für ihr zooartiges Ensemble sowieso berüchtigten S-Bahnstation Reeperbahn ein Menschenschlag, den Ms. Columbo kurz und korrekt als „Mischung aus ,Children of men’ und ,Das fünfte Element’“ bezeichnet, allerdings nicht in Hörweite.

Am Neujahrsnachmittag missvergnüge ich mich im Fitnessclub. Hier das Mängelstakkato: kein Klopapier, Geräte kaputt, Sauna kalt, Duschen defekt, keine Seife mehr da. Heroisch beherrscht gehe ich zum Tresen.


„Ich möchte mich beschweren“, sage ich, „haben Sie Stift und Zettel parat?“
„Das kann ich mir merken“, sagt die Frau.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, sage ich.
„So viel?“ fragt sie bang.
„Holen Sie bitte Stift und Zettel.“

Und sie tut’s. Wenigstens das klappt. Abends Terry Gilliams bizarrer Filmtrip „Fear and loathing in Las Vegas“ auf DVD: genau die richtige Droge, nach diesem Tag.

Jetzt muss es sich noch ein wenig steigern, das Jahr 2007.

11 September 2006

Der Ohrpopler

Alkoholismus ist mit Sicherheit auf St. Pauli verbreiteter als – sagen wir – in Altötting. Als Bewohner gewöhnt man sich an Kollateralschäden dieses Phänomens recht schnell, und über die am Sonntagmorgen ubiquitär herumliegenden Schnapsleichen steigt man routiniert hinweg. Keine von ihnen ist wirklich tot, und wenn, dann soll es bitte ein anderer merken; ich habe mich zu oft blamiert beim panischen Herbeirufen von Ordnungs- oder Rettungskräften, die es aber zum Glück bei mitleidigen Blicken beließen, statt über Regressforderungen nachzudenken.

Nein, wer sich gelähmt vom Suff gar nicht mehr bewegen kann, ist auf St. Pauli das kleinere Problem. Ein kaum größeres war jener Mann, der vorm U-Bahnhof St. Pauli (nicht fern von der abgebildeten Taubenstraße) mein Freund werden wollte. Er war vielleicht Mitte 50 und kein Zufallsbetrunkener wie viele der Partyterroristen, die uns allwochenendlich heimsuchen wie Wespenschwärme eine Freiluftausstellung von Sahnetorten. Aber er war auch kein Obdachloser, dazu war er nicht schmutzig genug.

Er war irgendetwas dazwischen, eine kleine grauhaarige Gestalt mit schroffen Furchen im Gesicht und abgetragenen Jeans. Früher oder später wird sich unerbittlich entscheiden, in welche Richtung das Pendel seines Lebens ausschlägt. „Prekär“ nennt man heutzutage wohl eine solche Situation.

Sein linkes Auge war blind; es sah aus, als hätte ihm jemand Kondensmilch in den Augapfel injiziert. Er schwenkte eine Flasche Astra, morgens um 9 an der Haltestelle, und die Afrikanerin, die mit ihrem Kinderwagen neben mir auf den Bus wartete, entfernte sich wortlos zwei Meter, als er wankend versuchte, ihr Baby auf eine Weise anzustammeln, die er in einem früheren Leben wohl als onkelhaft kennengelernt hatte.

Ich entschloss mich, ihn von Mutter und Kind fernzuhalten, sofern er die Verfolgung aufnehmen sollte. Doch das war unnötig, denn er wandte sich sowieso mir zu, mit einem irrlichternden Grinsen, das aussah nach dem verzweifelten Glück des Betrunkenen. „Was hörsten da?“, fragte er mit Blick auf meine Ohrhörer. „George Michael“, sagte ich. „Komm“, fuchtelte er mit seiner freien, astrafreien Rechten vor meinem Gesicht herum, „lass ma hörn!“

Er machte eine Bewegung Richtung Ohrhörer, als wollte er ihn mir vom Kopf nehmen und sich anschließend einführen, doch ich wehrte ab. „Ah“, machte er, und sein funktionierendes Auge weitete sich ein wenig, „ich verstehe!“

Dann steckte er sich seinen schrundigen Zeigefinger tief ins rechte Ohr, drehte, grub und bohrte darin herum, holte Unsagbares heraus, wischte dann den Finger mit großer Geste ab an seiner Jeans, die aussah, als hätte sie solches schon oft erdulden müssen – und glaubte, nun sei die Sache geregelt, nun dürfe er George Michael hören.

Ich musste ihn enttäuschen, und dann kam auch schon der Bus.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Saufen
1. „The piano has been drinkin’“ von Tom Waits
2. „One bourbon, one scotch, one beer“ von John Lee Hooker
3. „Drunk“ von Vic Chesnutt

31 Dezember 2005

Die Weinspende

Wir haben noch vier Flaschen 1999er Syrbec übrig. Der Rotwein, obzwar beileibe keine Plörre, gehört nicht zu unseren Favoriten. Zu säurebetont, ein wenig zu streng. Eine Flasche aus dem Sechserkarton haben wir getrunken und dabei die Mängel lokalisiert. Eine zweite bekam kürzlicher Besuch in die Hand gedrückt („Vielleicht schmeckt er euch ja!“). Die restlichen vier sollen heute verschenkt werden. Und zwar an Reeperbahnbettler.

Vor der Sparkasse sehe ich zwei erste Kandidaten. Der eine hilft dem anderen gerade beim Aufstehen, was nur mühsam vonstatten gehen will. Der Gehweg ist verschneit und glatt, und sie sind nicht gerade die Drahtigsten. Beide ächzen. Und die ganze Zeit wird traulich geplaudert. Ich wage nicht zu stören und hebe mir das Paar für den Rückweg auf. Falls dann noch Flaschen übrig sind. Wenn nicht: Pech für sie.


Nächste Station: Hamburger Berg. Sonst ist diese kleine Schmuddelecke am Kasino eine sichere Bettlerbank, heute aber silvesterlich verwaist. Also steige ich hinab in die S-Bahn-Station, wo die Erfolgsquote normalerweise hoch ist, wie bereits im Oktober einmal thematisiert. Doch auch hier niemand, der in Frage käme. Vor der Discothek La Rocca: keine Bettler. Aber der Eingangsbereich zum Fotografieren schön.


Bei manchem Passanten gibt es immerhin eine gewisse Schnittmenge zu Insignien des Bettlertums. Zum Beispiel diese leicht verlottert wirkenden jungen Bartstoppelträger mit ihren halbvollen Bierflaschen, die sie ungerührt mit bloßen Händen durch die Minusgrade tragen. Aber sie scheinen sich nur einzugrooven für den großen Knall heute Nacht. Unten an den Landungsbrücken werden sie sich wahrscheinlich die Kante geben. Vielleicht bringt sie das letztlich der Obdachlosigkeit näher, als sie jetzt einzusehen bereit wären, doch noch ist es nicht soweit. Nein, sie sind keine Weinkandidaten. Sie haben ja ihr Bier.


Aber dieser offenbar nicht unter Termindruck stehende Mann jenseits der besten Jahre an der Fußgängerampel Talstraße, dessen ebenfalls halbvolle Pilsbuddel neben ihm im Schnee steht? Hm. Soll ich ihn wirklich ansprechen, ihm Wein for free offerieren, ohne mir seines Obdachlosentums sicher sein zu können? Zu Recht könnte er meine Avance als beleidigend empfinden; und möglicherweise würde er dieser Verletzung seiner Gefühle sehr nachhaltig entgegentreten wollen.


Das möchte ich nicht. Also trage ich meinen Wein weiter, gehe die Reeperbahn in östlicher Richtung zurück. Doch keine Bettler, nirgends. Selbst die zwei Ächzer vor der Haspa sind inzwischen verschwunden. Auch vorm Steakhaus: nur Passanten, aber nicht die erhofften Punks mit ihren Hunden. Wahrscheinlich zieht es sie zwischen den Jahren doch wieder heim zu Mutti, um der alten Zeiten willen.


Ich erreiche das Ende der Reeperbahn, den Millerntorplatz. Letzte Chance U-Bahn-Eingang. Et voilà: Da ist er, mein Weinabnehmer. Es handelt sich um einen jener Hoffnungslosen, die alle Sprüche schon weggesagt haben. Jetzt steht er stumm und illusionslos da und wackelt müde mit seinem Plastikbecher. Kleingeld rasselt darin; das muss reichen als Verdeutlichung seines Anliegens.


Ein Bekannter von mir gibt übrigens niemals etwas bedingungslos. Er spendet stets zweckgebunden und möchte vom Bettler die verbale Zusicherung, mithilfe dieses Obolus’ ein warmes Essen zu erwerben und nicht Alkoholika oder Schlimmeres. Dieses moralische Almosengeben ist mir zuwider. Wenn ich schon etwas rausrücke, dann soll der Empfänger es auch nach Gutdünken verwenden. Warum sollte er sich damit sein Elend nicht sporadisch schöntrinken oder -fixen dürfen? Ein erhobener Zeigefinger ändert die Welt nicht.


Aber zwei Fläschchen Wein –
vier scheinen mir zu viele für einen – können sie ändern, wenigstens für eine Weile. Der Mann mit dem rasselnden Kleingeld im Becher ist noch jung, vielleicht Ende 30. Doch seine Haare sind fahl und verstruppt, über lückenhaften Zahnreihen und einer leichten Hasenscharte wuchert ein verwahrloster Seehundschnauzer. Und an seinen Fingerknöcheln wachsen dicke milchige Blasen oder Geschwüre.

Er rasselt mich stumm an. „Darf ich Ihnen zwei Flaschen Wein schenken?“, frage ich und öffne die Tüte. Er schaut hinein und sagt zögernd: „ … Ja?“ Bitte schön, sage ich und reiche sie ihm. Danke, sagt er. „Haben Sie einen Korkenzieher?“, frage ich. Für alle Fälle führe ich einen als verschenkbares Zubehör mit. Aber er ist versorgt, und ich verabschiede mich.


Eine prosaische Begegnung. Aber letztlich erfolgreich im Sinne der Anklage.

Bleiben noch zwei Flaschen. Vielleicht werde ich sie morgen los – wenn sie wieder zurückkommen, die Reeperbahnbettler. Es hört sich zynisch an, aber: Ich würde sie vermissen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Bird gherl“ von Antony & The Johnsons, „In the ghetto“ von Candi Staton und „Tonight“ von Iggy Pop.


12 November 2005

Die Bettlerin

An der Station Reeperbahn steigt eine recht gepflegt wirkende Bettlerin mittleren Alters zu. In der linken Hand hält sie einen Plastikbecher, die rechte führt eine Krücke, mit der sie offenbar ihrem Anliegen Nachdruck verleihen und die allgemeine Spendenbereitschaft im Waggon heben will. Von einer großen Beeinträchtigung ihrer Mobilität ist indes nichts zu bemerken.

Sie geht
zügig von Sitz zu Sitz, murmelt ihre Bitte, erntet Kopfschütteln, geht weiter. Auch ich habe mich innerlich schon darauf eingestellt, ihr mit mimischen Mitteln unmissverständlich zu verdeutlichen, dass bei mir heute nichts zu holen ist.

Doch die Frau geht einfach blicklos an mir vorbei.
Ich bin verblüfft, ja geradezu düpiert. Alle im Wagen hat sie gefragt, nur mich nicht.

Mein interner Stimmungsseismograf misst sogar eine leicht aufschäumende Empörung. Bin ich etwa nicht anbettelbar? Und wenn nicht, warum nicht? Habe ich zu früh die Bettlerabwehrmiene aufgesetzt? Liegt es an meinen Kopfhörern, die der Frau von vorneherein mein momentanes hermetisches Monadentum signalisieren? (Aber auch andere im Wagen sind abgestöpselt und ihr nicht entgangen.) Oder sehe ich selber pleite aus? Hm, meine Lands-End-Jacke und die schwarzen Clarks-Lederslipper senden eigentlich eher gegenteilige Signale aus.


Warum also? Das beschäftigt mich den ganzen Nachmittag. Noch immer irritiert, befrage ich zu Hause Ms. Columbo. Sie bestätigt mir jedoch, mich in einer vergleichbaren Situation ggflls. sofort und bedingungslos angebettelt zu haben.
Irgendwie beruhigend.

Das Foto zeigt eine Wandlampe im El Dorado, wo der gestrige Tag ausklang.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „6 feet snow“ von Souled American, „Dakota“ von den Cowboy Junkies und „Anywhere I lay my head“ von Tom Waits.


05 November 2005

Die Würdelosen

Mein Eintrag „Die Bauwut“ hat eine kleine Diskussion darüber entfacht, wieviel Lärm und ekelerregendes Verhalten man als freiwilliger Bewohner St. Paulis ertragen können muss. Ich muss ehrlich gesagt zugeben: Auch ich goutiere es eher selten, wenn wildfremde Menschen mir unaufgefordert die Vielfalt ihrer Inhaltsstoffe präsentieren.

Einmal verließen wir das Haus und stießen unmittelbar davor auf einen Menschen, der sich zwischen zwei geparkten Wagen hingehockt hatte, um zu kacken.
Das wirft für mich die Frage auf, ob Armut und Obdachlosigkeit zwangsläufig mit dem vollkommenen Verlust von Würde und Selbstachtung einhergehen müssen. Wahrscheinlich kann ich das als Wohnungsbewohner und Nichtarmer letztlich nicht beurteilen – aber zurzeit denke ich: Nein, man müsste eigentlich auf einen Rest Würde bestehen wollen, unter allen Umständen.

Auch die Unverfrorenheit, mit der (nicht immer notwendigerweise hackedichte) Kiezbesucher ihr bestes Stück auspacken, um meinen Stadtteil mit endogenen Giftstoffen zu begießen, erstaunt mich immer wieder. Wir betraten neulich eine U3-Station und sahen, wie ein Mann ungeniert auf die Gleise schiffte. Was übrigens dank der Starkstromleitung zwischen den Schienen kein unbeträchtliches Risiko für seine Potenz darstellte. Aber hat er darüber nachgedacht? War er intellektuell überhaupt in der Lage, die Vor- und Nachteile seiner Handlungsweise zu reflektieren? Don't think so.

Unlängst war eine Fotografin in St. Pauli auf der Pirsch, um solche Anarchopinkler in flagranti abzulichten. Wie sie berichtet, war das vielen aber so was von schnuppe; manche reagierten anzüglich; und jene, die es störte, dass sie beim öffentlichen Schniedelschwingen verewigt wurden, konnte sie in der Regel mit dem als Schmeichelei empfundenen Satz besänftigen: „Ich steh auf so was.“


Sie hat die Fotos übrigens an der Großen Freiheit an ein seit Dekaden eingenässtes Haus plakatiert, dessen Fundament wohl inzwischen vowiegend aus Urinstein besteht.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Let's get crazy“ von Ric Ocasek, „In this home on ice“ von Clap Your Hands Say Yeah und „It's not the liqour I miss“ von Luke Doucet.

13 Oktober 2005

Die verschwenderischen Zapfer

Mein Freund Gunnar, ein Profifotograf, hat sich die Bilder in diesem Blog mal angeschaut und kam zu dem fachkundigen Schluss, ich sei eindeutig ein „Stilllifer“.

Abgesehen davon, dass ein Wort, welches mit fünf strikt vertikal gebauten Buchstaben in Folge glänzt, nur Bewunderung verdient (selbst wenn es ein Anglizismus ist), so stimmt das absolut. Ich kann nur das halbwegs, was sich nicht bewegt.


Als neuerlicher Beweis mag das heutige Foto dienen, unlängst am Museum der Arbeit in Barmbek aufgenommen - obwohl der Kondensstreifen sich genau genommen schon irgendwie bewegt. Aber er atmet nicht, das ist wichtig.

Übrigens ist es auch meiner fotografischen Menschenscheu zu schulden und den grundsätzlichen Problemen, die es aufwirft, wenn man Fremde ohne ihr Einverständnis ablichtet, dass ich die folgende kleine Geschichte nicht bebildere.


Vor einigen Tagen sah ich am Rande des Heilggeistfeldes zwei abgerissene ältere Männer auf einer Bank sitzen. Sie beugten sich zueinander, als konzentrierten sie sich auf etwas. Im Vorübergehen sah ich, was es war.

Sie hatten ein Fünfliterfässchen Warsteiner zwischen sich auf der Bank stehen, und einer von ihnen versuchte das durch den Zapfhahn fließende Bier in eine leere Flasche zu füllen. Da der Strahl aber breiter war als die Halsöffnung, floß ein Gutteil davon auf den Bürgersteig. Wahrscheinlich hatten die beiden extra lange ihr Erbetteltes angespart, um sich eine preisgünstigere Großpackung leisten zu können - und dann das: keine Gläser. Das Leben ist kompliziert.


Ab heute gibt es an dieser Stelle übrigens immer die Songs des Tages. Nur zur Selbstvergewisserung. Und für die, die es interessiert. Heute also floß folgende große Musik durch meinen iPod: „Big Louise“ von Scott Walker, „Cripple Crow“ von Devendra Banhart und „Animal“ von Orenda Fink.

Natürlich noch viel mehr, denn ich war im Fitnessstudio, wo übrigens - o Wunder! - die Musik diesmal nicht ganz so schrecklich war wie im Eintrag „Das Fitnessstudio“
beschrieben (siehe September); und außerdem war sie auch etwas leiser, so dass ich die oben beschriebene große Musik sogar hören konnte, ohne meinen Hypotalamus persönlich mit den Ohrstöpseln bekannt machen zu müssen.

Sollte diese erfreuliche Entwicklung etwa daran liegen, dass ich bei der Bundeszentrale des Betreibers dezent auf den Blog-Eintrag „Das Fitnessstudio“ aufmerksam gemacht habe? Wenn ja, dann ist das der Beweis: Man kann die Welt ändern.

ICH kann die Welt ändern.


10 Oktober 2005

Der Obdachlose

Vor einiger Zeit ging ich an einem Verkäufer des Obdachlosenmagazins Hinz & Kunzt vorbei, es war vor der unteren Rolltreppe in der S-Bahnstation Reeperbahn. Plötzlich rief er mir vorbereitungslos zu mit geweiteten Augen: „Es hat geklappt mit der Wohnung!“

Ich wusste trocken und spontan mit einem „Herzlichen Glückwunsch!“ zu parieren. Und während ich lächelnd weiter mein Fahrrad Richtung Ausgang schob, rief er mir nach: „Und am 24. Dezember habe ich eine Frau!“


In diesem Augenblick schien jener sagenhafte Herzog'sche Ruck durchs Land zu gehen, die Rezession wurde schlagartig egal, alle Gläser waren dreiviertelvoll. Dieser Mann stand da und war glücklich. Der Optimismus hatte menschliche Gestalt angenommen.
Aber verdammt: Warum bin ich nicht umgekehrt, habe ihm die Hand geschüttelt und fünfzehn Hinz & Kunzt abgekauft? Verdammt!

Nun, es war eh nicht wahr, das alles. Er stand beim nächsten Mal wieder da und beim übernächsten Mal immer noch, und drei Wochen später auch. Keine Wohnung, keine Frau, nicht mal mehr ein Hinz & Kunzt.


Heute, als ich mit dem Schwaben, Kramer, C. und dem Franken nach der Arbeit vorm Aurel in Ottensen saß (im Oktober! In Südschweden! Es lebe der Treibhauseffekt!) und ein Feierabendbier trank, da kam eine schneidezahnlose Obdachlose vorbei, und ich kaufte ihr ein Hinz & Kunzt ab.


Die Entscheidung hatte irgendetwas mit dem Typen in der S-Bahnstation Reeperbahn zu tun. Ich weiß nur nicht genau was.