Posts mit dem Label musik werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label musik werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

23 September 2016

Kann man machen



Reeperbahnfestival: Das bedeutet alljährlich, dass ein Wochenende lang Leute mit gutem Musikgeschmack den Kiez dominieren und nicht die üblichen Heerscharen von Ballermännern und Eckenpinklern.

Denn das muss man zur Ehrenrettung der Hipsterbartträger auch mal sagen: Sie sind zivilisiert(er). Nach einem Schlagermove sieht das Viertel aus, als wäre eine Konfettibombe über einer Urin- und Kotzlache explodiert; nach dem Reeperbahnfestival liegen höchstens Programmprospekte rum.

Ich startete den Abend im Sommersalon mit Me + Marie – und die strahlenden Augen des Trios beim fröhlichen Herumlärmen (u. a. coverten sie Motörheads „Ace of Spades“) machten sofort klar und deutlich, dass auch in hundert Jahren noch junge Menschen zur Gitarre greifen und rumrocken werden.

Diese Art und Weise, seine Jugend zu verbringen, ist einfach unübertrefflich. Meistens zwar nur für die Musiker selbst, aber das galt heute Abend keineswegs für Me + Marie, nicht nur wegen „Ace of Spades“.

Weiter ging’s im Imperial Theaer, wohin mich der vokalreiche Wohlklang des Künstlerinnennamens „Olivia Sebastianelli“ gelockt hatte. Die junge Frau kam allerdings nicht aus Livorno, sondern aus London, und sah auch noch aus wie der jüngste Sprössling der Addams Family.

Gleichwohl sang sie derart laut und fest, dass Dieter Bohlen glatt ein Ei aus der Hose gesprungen wäre, doch er war überhaupt nicht da, sondern wahrscheinlich in Tötensen. Die Sebastianelli wird mal ein Star, da leg ich mich fest, und wenn sie nicht spätestens nächstes Jahr im Vorprogramm von Adele auftritt, dann nur deshalb nicht, weil Adele Schiss vor der Konkurrenz hat.

Nächste Station: Bunker. Kurioserweise virtuosierte dort die Starpianistin Olga Scheps, und zwar außergewöhnlicherweise in Lederhosen und Pumps. So was erlebt man weltweit wohl nur beim Reeperbahnfestival: die Parallelität von Indierockern, Folkpflänzchen UND Weltklassetastenfrauen, die Chopin spielen.

Dass die Scheps auch noch akzentfrei Deutsch spricht, hätte man in der Laeiszhalle, wo sie in der Regel stumm vor einem höchstsituierten Schurwollzwirnpublikum ihre Superskills vorführt, nie erfahren. Auf dem Reeperbahnfestival schon – weil die Booker sich nicht entblödeten, frohgemut gegen den Strich zu denken und eine Frau wie sie einzuladen.

Kurz vor Scheps’ Satie-Part hetzte ich rüber ins Knust, wo das gemütliche Dickerchen Noah Guthrie in Triobesetzung den Country mit Crooning verschmolz. Handwerklich super, aber als Songschreiber ist Guthrie (trotz seines legendären Namens) nicht vom Himmel, sondern höchstens vom Dreimeterbrett gefallen.

Dann halt Black Oak in der St.-Pauli-Kirche am Pinnasberg. Dabei handelt es sich um holländische Indiefolkies mit einem Hang zu Westcoastharmonien und kaum verhohlenen Stolz auf einen amerikanischen Akzent beim Englischsprechen.

Kann man machen, aber faszinierender als ihre Musik war das oben abgebildete Schild auf dem Klo der St.-Pauli-Kirche, was an einem milden Hamburger Septemberabend noch eine Spur grotesker wirkt als sowieso schon.

Morgen Abend geht es weiter mit dem weltweit besten Festival von ganz St. Pauli – und wahrscheinlich sogar dem Rest des Planeten. 







26 August 2016

Wie erschlagen, und zwar zweifach


Ein Satz wie „Mozart würde sich im Grabe umdrehen“ war schon immer Stuss.

Gerade weil er im Grab liegt, kann er das, was ihn zu einer empörten Drehung bewegen würde, ja keinesfalls hören – nicht nur wegen der dämpfenden Wirkung der Erde über ihm, sondern auch wegen der längst irreparabel eingetretenen Dysfunktionalität seiner Ohren.

Stattdessen gilt hier der Umkehrschluss: Könnte Mozart den Empörungsgrund hören, läge er demnach nicht im Grab. Aber mal angenommen, er könnte das, was ihn empören würde, trotz seiner misslichen Lage six feet under doch sonisch wahrnehmen:

Warum sollte er sich dann ausgerechnet umdrehen wollen? Was wäre denn das für eine lahme Reaktion?

Wenn er, Mozart, also dort unten immer noch hören könnte, dann wäre es ihm doch gewiss auch ein Leichtes, sich wie ein Zombie der Rache hervorzuwühlen an die Oberfläche, um die Ursache seines Missvergnügens mit gnadenlosen Knochenhänden abzuwürgen. Statt sich einfach nur umzudrehen.

Der Satz, meine Damen und Herren, stimmt also hinten und vorne nicht, er war schon immer Stuss. Und er ist deshalb selbstverständlich auch völlig ungeeignet, um irgendetws Zutreffendes über das erste Soloalbum „Herzschlag“ des Ex-Adoro-Sängers Laszlo auszusagen, der zu Klassikpopbombast eingedeutschte Songs von u. a. Miley Cyrus derart schmettert, als versuchte er Mozart von den Toten aufzuwecken.

Mein Rat: Dieses Risiko sollte er lieber nicht eingehen.

Als wäre Laszlos Albumpräsentation heute Abend nicht schon erschlagend genug gewesen, fiel später in der U-Bahn auch noch ein junger, durchs ruckartige Anfahren von einer Zehntelsekunde auf die andere seines Gleichgewichtssinns beraubter junger Mann um und sodann auf mich drauf.

Sein frei flottierender Körper fegte mir den Hut vom Kopf, mein iPhone absentierte sich ins Nirgendwo, ebenso meine Orientierung.

Ja, Sie haben richtig gelesen: Ich trug einen Hut. Und zwar einen billigen Strohhut vom Flohmarkt.

Joseph Beuys würde sich im Grabe umdrehen. 


 

 
 
 

10 Juli 2016

Auf Abenteuerurlaub in Schwerin

Wetterseiten im Web sind grundsätzlich eine feine Sache. Allerdings vermögen sie die Vorfreude auf eine Reise nicht unwesentlich zu trüben.

Für die Premiere der Schweriner Schlossfestspiele – man hatte „Aida“ einstudiert – verhieß wetter.de seit Tagen mit durchaus hämisch durchwirkter Prognosesicherheit Regen, Wind und, pünktlich zum Anpfiff, gar Gewitter.

Ms. Columbo packte deswegen vorsorglich Regencapes ein, die sich beim in der Tat notwendigen Überziehen vor Ort indes als wenig kleidsam erwiesen. Ihr Modell überzeugte wenigstens durch Transparenz, wollte also gar nicht in Konkurrenz treten zur Kleidung darunter; meins aber war in seinem peinlich leuchtenden Blau nichts weiter als ein Müllsack mit Löchern drin. 

Es gibt eine fotografische Dokumentation dieser Lachnummer, für deren Herausgabe man mich allerdings schon Trump’schen Befragungsmethoden unterziehen müsste. Also versuchen Sie es erst gar nicht, danke.

Stattdessen zeige ich hier gern die beeindruckende Sanktionsliste her, mit der unsere Unterkunft, das empfehlenswerte Café Karina in der Werderstraße, all jene bedroht, die sich trotz Verbots erdreisten, heimlich im Zimmer eine durchzuziehen:

Auf Twitter habe ich gestern bereits vorgeschlagen, doch lieber diese AGB aus der Hölle auf Zigarettenpackungen zu drucken statt der sogenannten Schockfotos, die jedem, der auch nur eine einzige Folge „The Walking Dead“ gesehen hat, beim routinierten Zünden seines Zippos nur ein Gähnen entlocken.

Aber Auslöser zu sein für den Einsatz von Spezialreinigern und Zwangsumsiedlungen unbescholtener Mitbewohner: Das schockt wirklich. Wir haben jedenfalls lieber nicht geraucht, ich schwör!

Auch während der „Aida“-Premiere wäre das nicht möglich gewesen, dazu war es einfach rundum zu nass. Wir hatten wenigstens unsere Regencapes, die auf der Bühne Agierenden allerdings waren schutzlos den Naturgewalten ausgesetzt; manche hatten sich unter der unbekümmerten Regie von Georg Rootering gar in den munter wachsenden Pfützen zu wälzen.

Nur das von wetter.de seit Tagen versprochene Gewitter hätte das Ensemble erlöst. Doch der sardonisch gießende Wettergott hielt lieber alles in der Schwebe, sodass niemand entkommen konnte – wahrscheinlich eine kleine, feine Rache am mehrheitlich noch immer atheistischen Osten.

Wenn Sie also zu denen gehören, die sich gern die Lunge bräunen und zudem Abenteuerurlaube schätzen: Buchen Sie einfach „Aida“-Karten in Schwerin – vor allem aber ein Zimmer im Café Karina. 

Und dann tun Sie, was Sie tun müssen.




01 März 2016

Mein erstes und (wahrscheinlich) letztes Interview mit Donovan


Dylan? Ein Gäle!
Die Folklegende Donovan (69) kommt auf 50-Jahre-Jubiläumstour. Sollte man seine seltsame Begegnung mit Bob Dylan 1965 erwähnen? Ach, warum eigentlich nicht …
 
Donovan, es gibt nur wenige Künstler, die so berühmt wurden, dass sie keinen Nachnamen brauchen. Wo würde ein Brief landen, der an „Donovan, Ireland“ adressiert wäre?
Donovan: Ich habe zwar ein Haus in Irland, kann aber nur selten dort sein, weil ich viel auf Reisen bin. Post also am besten an support@donovan.ie.
Sie sind einer der einflussreichsten Künstler der letzten 50 Jahre. Wer beeinflusst Sie denn momentan?
Donovan: Wir Dichter wissen, dass wir von der Tradition beeinflusst sind. Ich auch. Die gälische Erzähl- und Liedtradition ist mein ewiger Einfluss. Und ich selbst beeinflusse Tausende neue und aufstrebende Künstler. Kommen Sie zum Konzert, dann hören Sie es!
Gern. Würden Sie mir den Gefallen tun und „Jersey Thursday“ spielen?
Donovan: Mit Vergnügen, aber Sie müssen es laut reinrufen in der zweiten Hälfte.
Kann man sich als Künstler eigentlich zeitlebens weiterentwickeln?
Donovan: Klar. Ich habe unzählige Methoden entwickelt, wie ich singen und Gitarre spielen kann. Meine Auftritte wirken zwar simpel. Aber die Verbindung herzustellen zwischen mir und dem Publikum durch einzigartige, kraftspendende Lieder: Das ist heilsam für ruhelose Seelen.
Im Dokumentarfilm „Don’t look back“ reagiert Bob Dylan ziemlich spöttisch auf Sie, nachdem Sie ihm als „britischer Dylan“ vorgestellt wurden …
Donovan: Dylan hat die gälische Songtradition genau studiert, ehe er selbst zu schreiben anfing, sein großer Held Woody Guthrie hatte starke schottische Wurzeln. Ohne gälischen Einfluss hätte Dylan gar nicht loslegen können. Ich war also nicht der britische Dylan, Bobby war der amerikanische Gäle! Und wie Alan Price im Film so schön zu ihm sagt: „Er spielt besser Gitarre als du“ …
Sie sollen zu Hause keinen Internetanschluss haben. Steckt eine Protesthaltung dahinter?
Donovan: Das Internet ist wie ein seltsames Telefon: Es funktioniert nur in eine Richtung. Und E-Mail ist ein Hamsterrad.
5. 4. Hamburg
6. 4. Berlin
8. 4. München
10. 4. Heilbronn
11. 4. Schwabach
13. 4. Ravensburg
14. 4. Fulda
16. 4. Köln
17. 4. Ennepetal
19. 4. Mainz
20. 4. Dresden
22. 4. Leipzig
23. 4. Gotha

(erschienen in der Printausgabe der Zeitschrift kulturnews, März 2016; kulturnews.de)





18 Januar 2016

Mein erstes und (wahrscheinlich) letztes Interview mit Gunter Gabriel

Damals, 2009, traf ich Gunter Gabriel, weil er eine wirklich respektable Platte am Start hatte. So richtig durch die Decke ging seine Karriere danach trotzdem nicht; deshalb sitzt er jetzt gerade im Dschungelcamp.

Das finde ich Anlass genug, um der Welt mein schonungslos liebevolles kulturnews-Porträt des damals, 2009, noch nicht ganz so schabrackigen Altcountrybarden erneut ins Gedächtnis zu rufen. 

Nach dem Interview versprach er übrigens, mir Platten seines – nach Johnny Cash – zweitliebsten Songwriters Shel Silverstein zuzuschicken. 

Raten Sie mal, worauf ich heute noch warte.





Der Mea-culpa-Mann

Je tiefer man fällt, desto höher kann man auch wieder steigen. Lebender Beweis: Gunter Gabriel.
 

Er steht da mit 67 wie ein Kerl, ein ganzer Mann. Aus zwei Metern Höhe schaut Gunter Gabriel herab, sein imposanter Ranzen wölbt sich auf Altherrenart unterm Oberhemd, und beim Gespräch legt er manchmal den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. Allerdings nur, weil er schon mal besser gehört hat. Aber haben wir das nicht alle?

Gunter Gabriel ist hier, weil er wieder zurück ist. Und er hat eine Botschaft. Sie lautet: Ich bin schuld, und zwar an allem.  Seine größte Zeit hatte er während der Ölkrise der frühen 70er. Jetzt steckt die Wirtschaft noch tiefer im Sumpf, und prompt ist Gabriel wieder da – als Mea-culpa-Mann.

Er sagt, wie scheiße er war, doch er bittet nicht mal um Verzeihung. Sein derbes, mächtiges Mea culpa hat er in eine Autobiografie gepackt und in eine Platte. Die Platte ist die beste seiner fast 35-jährigen Karriere. Weil sie endlich mal so cool und abgehangen klingt, dass man sie vorzeigen kann. Weil jeder Song, auch ein Cover wie Radioheads „Creep“ (das kongenial zu „Ich bin ein Nichts“ wird), die gebrochene Größe des Gunter G. widerspiegelt.

Wer beim Hören der erdigen Produktion „Plagiat!“ ruft, weil sie schwer ans Konzept des späten Johnny Cash erinnert, der ruft ins Leere, denn auch das gibt der gute Gunter vorauseilend zu: Sein Album hat nämlich den Untertitel „German Recordings“, ein Pendant zu Cashs „American Recordings“. Ist das die Strategie: einfach alles zugeben, damit einem keiner mehr was anhängen kann?

Gabriel legt den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. „Das ist hundertprozentig richtig“, sagt er. „Ich habe mich geöffnet und gesagt: Jawoll, ich bin pleite, jawoll, ich habe meiner Frau was auf die Fresse gehauen. Ich sag das jedem: Kotz dich aus! Bevor dich die Kotze erstickt.“

Gabriel redet wie einer, dem keiner mehr was kann, weil er längst gerafft hat, dass er selbst sein größter Feind war. Er hat seine Millionen aus Hits wie „Er ist ein Kerl“ in windigen Bauherrenmodellen versenkt, und er hat zu Hause derart rumgenervt, dass ihm die Ehefrauen reihenweise wegliefen, vier insgesamt. Jetzt lebt er auf einem Hausboot im Hamburger Hafen und versucht, die positiven Gefühle nachzuleben, die er einst unterm Schutt aus Eifersucht, Suff und Egomanie begrub.

Gunter Gabriel war mal sehr peinlich, doch er gewinnt gerade die knorrige Größe des Gescheiterten, der zu zäh war, um ganz unterzugehen. „Mir geht’s heute zehnmal besser als damals“, brummt der Exmillionär so tieffrequent, dass der Rekorder vibriert. „Ich bin reich, auf meine Art. Ich lege mich noch immer gerne voller Lust zwischen die Schenkel einer Frau und kann das genießen und sagen: Ist das nicht toll, dass wir uns riechen und spüren? Das ist doch ein Geschenk, das du als alter Sack noch genießen kannst!“

Der alte Sack wird sein Comeback hinkriegen. Mit dieser Platte, diesem Buch, dieser Haltung: Das klappt. „Ich habe“, brummt er gelassen, doch ohne Stolz, „in jeden Scheißhaufen reingetreten, der sich mir bot, ja.“

Zum Glück.



Foto: Matt Wagner







17 Oktober 2015

Bedingungslos lydonsfähig



Gestern Abend traf ich erstmals den Mann, der mir mit 17 das Leben gerettet hat. Na gut, er hat es mir damals zumindest enorm erleichtert. Und ich traf ihn auch nicht persönlich, sondern befand mich nur mit ihm in einem Raum, gemeinsam mit ein paar Hundert anderen. Aber immerhin.

Verdammt, ich war am selben Ort auf diesem Planeten mit JOHNNY ROTTEN!

Seit dem Ende der Sex Pistols heißt er wieder bürgerlich John Lydon, aber was macht das schon? Für mich wird Johnny immer Rotten bleiben – also der Mann, der mir einst das Leben rettete. Na gut, fast.

Damals war ich ein Teenager vom Dorf, der nach der Mittleren Reife unter Fremdeinfluss (Eltern!) den Fehler seines Lebens begangen und eine Lehre bei der Sparkasse angefangen hatte. Morgens um 8 musste ich antanzen, in Anzug und Krawatte, das war schon schlimm genug für einen 17-Jährigen, dessen Freunde sich gerade die Haare wachsen ließen. Und dann noch die Verarsche durch ein sadistisches Kollegenensemble – wie man’s halt so macht mit Azubis vom Dorf.

Nachmittags kam ich fertig nach Hause und schob den Rest des Abends Horror vorm nächsten Tag. Bis diese Platte erschien: „Never mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols“. Ich hatte in der damals coolsten Musikpostille Sounds die Kritik gelesen und rannte bei nächster Gelegenheit in den Plattenladen. Shit, die LP war jeden Pfennig des Azubigehaltes wert!

Der Sänger, ein (wie ich aus der Sounds wusste) dürrer Typ mit irre aufgerissenen Augen und einem Grinsen von triefender Verachtung, kreischte hysterisch, dazu verprügelte irgendjemand Saiteninstrumente und Drums, alles explodierte …

Diese hyperventilierenden Schreihälse aus England taten also genau das Gegenteil von dem, was ich tagtäglich tat. Was ich tagtäglich tun musste. Ihre Hemmungslosigkeit lag exakt am unerreichbaren anderen Ende der Skala meiner sparkassenbedingt immens eingeschränkten Handlungsoptionen. „Never mind the Bollocks“ war eine radikale Utopie. Aber eine greifbare: Sie kreiste mit 33,33 Umdrehungen auf dem Plattenteller und veränderte die Welt.

Ich liebte diese Platte. Abends hieß es: Schlips in die Ecke und „Holidays in the Sun“ auf Lautstärkelevel 10. „No feelings“ bis zum Kollaps. Stress relief vom Allerlautesten. Die Wände meines Jungszimmers wackelten unter der Urgewalt der Sex Pistols, das ganze Haus vibrierte.

„God save the Queen“, geiferte Johnny höhnisch, „she ain’t no human being“, und diese Einschätzung schien mir auch eine außergewöhnlich treffsichere Beschreibung meines Filialleiters zu sein.

Bis plötzlich alles erstarb.
Meine Mutter hatte oben die Sicherung rausgedreht.
Fuck!

Später halfen mir auch Nick Drake und Joy Division durch die alles überwölbende Tristesse der Sparkassenjahre, doch die kathartische Kraft von „Never mind the Bollocks“ blieb unerreicht. Johnny Rotten, diese an beiden Enden brennende menschliche Fackel der entfesselten Aggression, war die monumentgewordene Antithese. Das habe ich ihm nie vergessen. 

Und gestern, Jahrzehnte später, war ich erstmals in meinem Leben mit ihm in einem Raum. Er spielte mit seiner Band PiL im Berliner Columbia Theater. John Lydon trug ein schwarzes Kurzarmhemd und wirkte darin ziemlich stämmig. Statt hysterisch zu kreischen, verfeinert er inzwischen eine selbst entwickelte Technik des Jaulens und Heulens.

Manchmal hob John wie segnend die Arme (die Karikatur eines Papstes des Punk!), und manchmal musste er die Brille (!) abnehmen, um die auf einem Stehpult parat liegenden Songtexte lesen zu können. Auch an ihm, dem Helden meines Jungszimmers, sind die Jahre eben nicht spurlos vorübergegangen. Noch etwas, was uns beide verbindet – und was mich, wenn Sie mir diesen Kalauer verzeihen, weiterhin bedingungslos lydonsfähig macht.

Neben mir stand eine junge Asiatin mit streichholzdünnen Beinen, vielleicht 18 oder 19, und als John „This is not a love song“ jaulte und heulte, sang sie jede Silbe mit. Das trieb mir endgültig die Tränen in die Augen. Na ja, fast.

Wenn Sie das lesen und gerade die Mittlere Reife in der Tasche haben: Bitte hängen Sie das Abi hinten dran. Studieren Sie. Aber machen Sie unter keinen Umständen eine Sparkassenlehre! 

Denn keiner kann Ihnen garantieren, dass wieder zufällig ein Johnny Rotten zur Hand ist, um Sie mit einer einzigen Platte aus den Händen jener zu befreien, die keine menschlichen Wesen sind.




20 Juli 2015

Zufälle gibt’s, die gibt’s … doch


Neulich las ich auf einer Nachrichtenwebseite gerade in einem Satz das Wort „Comeback“, während im Hintergrund Coldplay lief – und deren Sänger Chris Martin exakt in dieser Sekunde das Wort „Comeback“ lippensynchron sang. Ich war frappiert bis an den Rand der Esoterik.

Es gibt eben Zufälle, die gibt’s gar nicht, aber wie wir alle schon lange wissen, kommt, wenn man unendlich lange eine Horde Schimpansen auf Schreibmaschinen rumhampeln lässt, halt irgendwann „Faust 1“ dabei raus. Das ist auch kein Zufall, nein: That’s statistics, stupid!

In puncto Zufälle kann ich aber noch ein weiteres Ereignis beisteuern, das sich, wenn ich mich recht erinnere, auch noch am selben Abend zutrug wie Chris Martins „Comeback“-Singen bei meinem Lesen des Wortes auf einer Nachrichtenseite. An eben jenem Abend nämlich nahm ich im Bad die Elektrozahnbürste aus der Halterung und stieß dabei versehentlich Ms. Columbos Ring an, der auf der Ablage lag.

Wie in Zeitlupe sah ich das unschätzbar wertvolle Stück ins Waschbecken fallen und dort das metallisch tuende, aber federleichte Plastiksieb, welches bis dahin ohne Fehl und Tadel den Abfluss bewacht hatte, sanft anstupsen und beiseite stoßen, woraufhin der Ring umstandslos im Abfluss verschwand.

Man mag sich meinen Schrecken ob dieses ebenso unwahrscheinlichen wie doch soeben eingetretenen Ereignisverlaufs vorstellen. Ich war wie erstarrt, vermochte aber noch ein halb ersticktes „Oh nein!“ hervorzupressen, was Ms. Columbo auf den Plan rief.

Im Hinausstürzen – „Ich brauche eine Rohrzange!“ – und wieder Herbeieilen hechelte ich ihr die unglaubwürdige Geschiche vor, und schon hatte ich den Haupthahn abgedreht, das Siphon abgeschraubt und panisch nach dem Ring gefischt.

Natürlich fand er sich in der exakt dafür eingebauten Rohrbiegung, und mit zitternden Fingern legte ich ihn Ms. Columbo in die zarte Hand. Aber es war gar nicht – wie von mir die ganze Zeit befürchtet – der ideell unersetzliche Ehering, sondern irgendein schmuckes Modeschmuckteil aus Kunststoff. Was plötzlich ihre Gelassenheit recht plausibel erklärte.

Am Grad meiner Panik hätte das möglicherweise einiges geändert, doch dafür hätte ich erheblich früher davon Kenntnis erlangen müssen.

So viel zur Macht des Zufalls. Chris Martin würde mich verstehen, wenn er diesen Blogeintrag läse. Aber das wiederum ist noch unwahrscheinlicher, als wenn ein Ring sich im Waschbecken den Weg in den Abfluss durch Wegstupsen des Siebs bahnte.

Andererseits: Wenn Martin unendlich viel Zeit damit verbrächte, Blogs zu lesen, stieße er unweigerlich spätestens am Sanktnimmerleinstag auch auf diesen Eintrag, und zwar nicht zu seinem Schaden.

Irgendwie tröstet mich das. 



 

24 Juni 2015

Billys Bauch und Stevens’ Beitrag


Komme gerade vom Billy-Idol-Konzert im Stadtpark, und es war lustig. Allerdings aus den falschen Gründen. 

Der gute Billy singt nämlich inzwischen mit dem Stimmvolumen eines lungenkranken Wiedehopfs, lenkt davon aber optisch nicht ungeschickt ab mit einem Six Five Four Three Twopack, der für einen Mann meines Alters durchaus vorzeigbar ausfällt. Was Billy übrigens schon ab dem dritten Song ebenfalls findet, aber so was von.

Höhepunkt des Abends nichtsdestotrotz: sein optisch ausgesprochen grotesker Gitarrist Steve Stevens. Der Mann ist ein toller Instrumentalist, unbenommen – aber leider zum Glück hat er sich zurechtgemacht wie die vertikal herausgeforderte Parodie eines Hair-Metal-Heinis, der in Schlaghosen aus Schwarzleder in einen Topf voller Ron Woods gefallen ist. 

Aus all diesen Gründen war das Billy-Idol-Konzert im Stadtpark jedenfalls ziemlich lustig. 
Und vielleicht sogar ja doch aus den richtigen Gründen.


13 März 2015

Mein erstes und letztes Interview mit Daevid Allen

Es häuft sich: dass Künstler, die Interviewpartner waren, sich für immer verabschieden. Im Januar war es der Tangerine-Dream-Chef Edgar Froese, heute der Mitbegründer der legendären Band Gong, Daevid Allen (77). 

Hier als Hommage an einen ganz Großen der Rock- und Fusiongeschichte noch einmal unser Interview, erschienen erst vor wenigen Wochen, im Dezember 2014 in kulturnews.


Die weibliche Null

Der 1967 in Frankreich gestrandete Australier Daevid Allen (76) ist eine Fusionlegende. Nun hat er seine alte Liebe Gong wiederbelebt – und erklärt, warum diese Band niemand je verlassen kann.

Mr. Allen, es gab im Lauf der vergangenen viereinhalb Jahrzehnte verwirrend viele Inkarnationen der Band Gong. Welche war denn die einzig wahre?
Daevid Allen: Na, die heutige! Und auf Tour war die jeweilige Formation immer die einzig wahre. Wenn du dir das aktuelle Album anhörst, merkst du, wie wahr die aktuellen Gong sind und was für eine Wahnsinnskraft diese Band hat.

Sie sind gebürtiger Australier und bekamen 1967 nach einer Frankreichtour mit Soft Machine keine Einreisegenehmigung mehr nach Großbritannien, wo Sie damals lebten. Was hatten Sie denn verbrochen?
Allen: Ich war 1960 nach Großbritannien gezogen und hatte als Australier zunächst die gleichen Rechte wie britische Staatsbürger. Dann wurden die Einwanderungsgesetze geändert, was ich aber erst mitkriegte, als ich 1967 mit Soft Machine wieder einreisen wollte. Die Band hatte sich einen ziemlich schlechten Ruf erarbeitet, weil sie einige sehr prominente Londoner Debütantinnen mit LSD versorgt hatte – was dem einflussreichen englischen Establishment eine gute Ausrede lieferte, um mich draußen zu halten. Das neue Gesetz bot die Chance dafür.

Immerhin: Ohne diesen Umstand hätte es Gong nie gegeben, denn Sie blieben in Frankreich und gründeten die Band. Glauben Sie eigentlich an so etwas wie Schicksal ...?
Allen: Klar - und es hält überraschende Volten bereit. Es scheint, als hätte ich viel Glück gehabt, und ich bin dankbar dafür. Man kann Magie definieren als perfekten Mix aus Fantasie und Willenskraft. Damals war ich enttäuscht vom Schicksal Soft Machines, aber ich wollte einfach unbedingt was erreichen, und das trieb mich weiter an.

Obwohl sehr viele Musiker zur Band stießen und irgendwann wieder gingen, hat ein Exmitglied, der Gitarrist Steve Hillage, mal gesagt: „Niemand verlässt jemals Gong.“ Wie hat er das denn gemeint?
Allen: Gong ist nicht nur eine Band, sondern eine ganze Gemeinschaft von Bands, Künstlern und einem weltweiten Publikum aller Altersgruppen. Von Zeit zu Zeit veranstalten wir die „Gong Unconvention“, ein Festival mit Gong und befreundeten Bands. Jeder, der mal Mitglied war, ist eingeladen. Das Fest ist ein Magnet für Gong-Freaks, die aus der ganzen Welt anreisen. Das letzte fand 2006 im Amsterdamer Club Melkweg statt. Nächstes Jahr soll es ein weiteres geben. Wenn Sie vorbeikommen, werden Sie sehen, dass niemand je Gong verlassen hat …

Neue Tracks wie das hektische „Occupy“ schließen den Kreis zur hochpolitischen Gründungszeit von Gong, dem Jahr 1968. Was empfehlen Sie denn der Jugend von heute: Wogegen soll sie auf die Barrikaden gehen?
Allen: Mit dem Internet ist eine ganz neue Form der Politik entstanden, ganz klar. Die Bewegung unterscheidet sich von allen davor, und es ist unvorhersehbar, wie sie sich als frei organisiertes Netzwerk entwickeln wird. Und natürlich ist auch die Jugend von heute geprägt von diesem dynamischen Prozess, der die noch im 19. Jahrhundert verwurzelten politischen Systeme entweder weiter transformieren oder sogar ganz überwinden wird. Es gibt zurzeit viele interessante Köpfe wie Thomas Pickety oder Slavoj Žižek, und in vielerlei Hinsicht ist Musik ein Indikator für den anstehenden sozialen Wandel. Allerdings ist der eine visionäre Denker noch nicht aufgetaucht, der eine große internationale Bewegung lostreten könnte.
Die nächste Revolution, sagen Sie in einem Song, wird nicht mehr auf den Straßen stattfinden, sondern in uns selbst. Wenn Marx mit seiner materialistischen Philosophie den Idealisten Hegel auf die Füße gestellt hat, dann stellen Sie mit dieser Prognose wohl Marx auf den Kopf ...
Allen: Einige von uns warten in der Tat auf einen umgedrehten oder von innen nach außen gekehrten Karl Marx. Der neue Gestalter des politischen Fortschritts ist aber wohl eher ein Think-Tank. Ein Kreis Gleichgestellter. Eine weibliche Null statt einer männlichen Eins.
Zurück zur Musik: Bei welchem jungen Fusionkünstler sehen Sie – als Pate des ganzen Genres – eine strahlende Zukunft, wer wird mal ganz groß?
Allen: Oha, ich sehe hier eher Konfusion … Ich lebe praktisch in einem Teehaus am Strand. Aus der Fusion, auf die ich als Pate Einfluss hatte, ist die Infusion geworden. Der Körper und der Teebeutel sind eins, und deshalb sind Vergangenheit und Zukunft für mich auch nicht mehr zu unterscheiden.

Das Album "I see you" ist seit Mitte November im Handel.   

Foto: Madfish Music





20 Februar 2015

Fundstücke (200)

Johnny Cashs erster Gedanke, als er einst in einem Hamburger Hotel erwachte, galt natürlich: June.

Das Dokument hängt im Hard Rock Café gerahmt an der Wand – und ich stand gestern gerührt davor.

25 Januar 2015

Mein erstes und letztes Interview mit Edgar Froese

Schon wieder geht es hier nicht um den Kiez, sondern um Musik, leider. Denn am 20. Januar ist, wie gestern bekannt wurde, einer meiner großen musikalischen Helden gestorben: Edgar Froese, Kopf, Gitarrist und Keyboarder der Berliner Elektroniklegende Tangerine Dream. 
Im vergangenen Frühjahr konnte ich ihn anlässlich der bevorstehenden Deutschlandtour interviewen. Zum Berliner Auftritt bin ich natürlich angereist, denn trotz all meiner Verehrung für die frühe Schaffensphase der Band: Live gesehen hatte ich sie bis dahin nie – was vor allem daran lag, dass sie überall anders Superstarstatus und somit viele Touranlässe hatten, nur in ihrem Heimatland nicht. 
Hier also mein Edgar-Froese-Interview, das im April 2014 in kulturnews gedruckt wurde. In seiner letzten Antwort erwähnt er das „Ende seiner Tage“, aber mit Trotz und Stolz.

Unverkäuflich
Edgar Froeses Band Tangerine Dream ist eine Weltmarke – und beehrt endlich mal wieder die alte Heimat. Ein Interview über Grammys fürs Klo, doofe Labels und den Reiz von Tarantino.

Herr Froese, die herausragenden Vertreter der Berliner Elektronikschule – Sie, Klaus Schulze, Manuel Göttsching – haben Weltgeltung, aber ausgerechnet in Deutschland merkt man davon wenig. Wie sehr fuchst sie das?
Edgar Froese: Es berührt mich überhaupt nicht, da es den Ausgleich gibt, in vielen anderen Teilen der Welt für seine Arbeit geschätzt und respektiert zu werden. Deutschland war und ist für uns eine Erinnerung an die Anfangszeiten einer elektronisch orientierten Rockmusik, nicht mehr und nicht weniger, und das ohne jede Bitterkeit.

Bei den frisch Grammy-gekrönten Kraftwerk ist das anders. Hat die Düsseldorfer Konkurrenz sich einfach besser vermarktet?
Froese: Derartige Vergleiche setzen ein sehr kleinkariertes Konkurrenzdenken voraus, und so etwas ist mir völlig fremd. Es ist doch ein sehr positives Zeichen, wenn Kollegen, die auch in Deutschland musikalische Geschichte geschrieben haben, in anderen Teilen der Welt dafür honoriert werden. Letztlich kommt eine progressive Bewertung neuer Entwicklungen allen Musikern zugute.

In den 90ern wurden jedenfalls auch Sie ständig für Grammys nominiert, allerdings ohne Erfolg. Wäre es Ihnen wichtig, diese Trophäe irgendwann mal mal in der Vitrine stehen zu haben?
Froese: Sollten wir den Grammy eines Tages erhalten, habe ich in einer Ecke meiner hausinternen Badezimmertoilette schon einen Platz reserviert. Bis dahin steht dort eine wunderschöne Donald-Duck-Replika.

Ihre aktuelle „Phaedra Farewell“-Tour greift den Titel Ihres 1974er-Albums auf. Diese Aufnahme bräuchte – wie viele aus der Virgin-Ära – dringend ein weiteres Remastering, welches die Räumlichkeit und Transparenz besser herausarbeitet.
Froese: Vieles, was musikalisch und tontechnisch verbessert werden könnte, liegt in den Händen jener Plattenfirmen, mit denen wir damals unter Vertrag standen. Somit ist es deren Aufgabe, diese Verbesserungen vorzunehmen. Dass diese Firmen durch Unwissenheit und Inkompetenz oft an diesen notwendigen Aufgaben scheitern, darf man uns nicht anlasten.

„Phaedra“ mit seinem fast 18-minütigen Titelstück war 1974 hoch in den britischen Charts, was aus heutiger Sicht unglaublich anmutet. Warum waren Käufer damals offener für Experimente als heute?
Froese: 1974 existierte auf dem Tonträgermarkt nichts Vergleichbares. Dadurch hatten wir es leichter, auf diese neuen Klänge und rhythmischen Strukturen aufmerksam zu machen. Heute arbeitet fast jede Band mit Synthesizern, und es ist schwieriger, bahnbrechend neue Musik kommerziell auszuwerten.

Auch Ihre „Tatort“-Single „Das Mädchen auf der Treppe“ war 1982 in den Hitlisten. Sie sollen das damals als „Betriebsunfall“ bezeichnet und sich entschuldigt haben. Hatten Sie Angst, an Glaubwürdigkeit einzubüßen, wenn Sie plötzlich neben Abba und Nicole gelistet werden?
Froese: Ich habe mich für diese Produktion nie entschuldigt, da es musikalisch genau die Musik war, die in diesem „Tatort“ sinnvoll angelegt war. Dass daraus ein Hit wurde, konnten wir nicht planen, und es war auch nicht vorhersehbar, insofern könnte man es als „Betriebsunfall“ bezeichnen, allerdings mit positiven Nebenerscheinungen.

Insgesamt haben Sie zu über 60 Filmen Soundtracks beigesteuert und mit den größten Regisseuren gearbeitet. Welchen weiteren Namen würden Sie sich gern noch als Kerbe in den Colt ritzen?
Froese: Wir haben keinen Western vertont, deshalb besitze ich für Gravuren dieser Art auch keinen entsprechenden Gegenstand … Wahr ist allerdings, dass fast 16 Jahre für Hollywood musikalisch arbeiten zu dürfen eine unschätzbare Erfahrung bedeutet. Spielberg und Tarantino sind zwei Regisseure, für die zu arbeiten noch äußerst reizvoll wäre.

Sie sind die einzige Konstante bei Tangerine Dream und verwalten sozusagen eine Weltmarke. Wie viel Euro müsste man auf den Tisch legen, um sie Ihnen abzukaufen …?
Froese: Ich war und bin nicht käuflich, und daran wird sich auch bis zum Ende meiner Tage nichts ändern.

Foto: MFP




23 Januar 2015

Pleiten, Pop und Pannen

Im Jahr 2000 erschien ein Album, das bis heute keine deutsche Songwriterin je übertroffen hat. Es heißt „Contact myself“, und getextet, komponiert und geflüstert hat es Katja Werker
Als vorgestern Abend in der Fernsehserie „Marie Brand“ im Hintergrund der Song „Carried the cross“ von jenem Album lief, ist wieder mal ein paar mehr Leuten bewusst geworden, was für eine große unentdeckte Künstlerin da im Ruhrgebiet herumsitzt. Inzwischen finanziert sie ihre Alben über Crowdfunding; mehr dazu demnächst.

Anlässlich dieses kleinen ZDF-Coups von vorgestern Abend fielen mir die Interviews wieder ein, die ich in den vergangenen 15 Jahren mit Katja Werker geführt habe. Und eins davon – genauer gesagt: ein kleines Porträt, das aus einem Interview entstand – soll hier den vom ZDF unfreiwillig ausgelösten kleinen Hype noch ein wenig unterstützen. Es erschien 2008 in der Zeitschrift uMag.

Pleiten, Pop und Pannen

Katja Werker ist die beste deutsche Songwriterin. Und das liegt nicht nur an ihrer Schusseligkeit.

Manche Menschen sind Magneten. Sie ziehen das Unglück an wie ein Honigtopf die Wespe. Der Blumentopf fällt ihnen auf den Kopf. Es ist ihre EC-Karte, die im Automaten stecken bleibt.

Die Hotelbar dämmert vor sich hin. Kaum Gäste, es ist früher Nachmittag. Katja Werker flattert herein wie ein gerupfter Schwan, abgehetzt und atemlos. Schlaff fällt sie in den schweren Ledersessel. Das war mal wieder ein Vormittag! Dabei ging es gut los. Sie war gemütlich shoppen in der Hamburger Innenstadt, mal hier, mal da – und am Ende war ihr Handy weg. Also rollte sie ihre Einkaufstour noch mal von hinten auf, klapperte ein Geschäft nach dem anderen ab, immer ruheloser, immer adrenalingepeitschter.

Das Handy ist ihr wichtig, da sind die Nummern drin von jenen, die sie liebt und mag. Es gibt Menschen, deren Handyadressbuch ist voller. Doch Katja Werker war immer eine Außenseiterin, darin ist sie ausgebildet. „Ich führe ein anderes Leben als 99 Prozent der Frauen, die ich kenne“, wird sie später erzählen, als sie sich etwas erholt hat. Früher litt sie unter diesem Außenseitertum sehr, doch inzwischen gelingt es ihr, es umzudeuten. „Jetzt gestehe ich mir halt zu, Künstlerin zu sein“, sagt sie.

Das Gefühl des Danebenstehens ist aber immer noch da. Im neuen Song „Half of my Way“ singt sie: „The fields are so green/and they’ll always be/no matter which road/I take.“ Die unbekümmerte Welt, die dich nicht braucht: Darin besteht die dauerhafte Verletzung, die Katja Werker mit sich herumträgt. In ihrem dunkel schimmernden Songwriterpop scheint sie immer wieder auf.

Sie sitzt schmal im Ledersessel. Man spürt, wie ihre Herzfrequenz allmählich sinkt. „Einen Cocktail bitte“, sagt sie zum Kellner, „aber alkoholfrei.“

Es gibt dieses unrausrottbare Klischee vom Künstler, der seine Depressionen in Kunst verwandelt – Glück aus dem Unglück sozusagen. Doch wie das so ist mit den Klischees: Sie kommen nicht aus dem Nichts. Es sind geronnene Stereotypen von etwas, das wirklich existiert. Katja Werker wuchs im Pott auf, mitten im Malochermilieu. Ein unglückliches Kind, das sich fremd fühlte unter den anderen Kindern, das sich als Jugendliche in den Alkohol flüchtete, süchtig wurde und obdachlos. Ein Mädchen, das sich schließlich buchstäblich rettete in die Kunst.

Werker schrieb Songs, die wie offene Wunden waren. Später verfasste sie eine erschütternde Autobiografie über ihren Absturz und den seither herrschenden Kampf um die Balance. Sie schrieb immer mehr Songs über Dämonen, Ängste und Träume, und sie singt sie zu Klavier, Gitarren und Elektronika mit einem brüchigen Hauchen, das dir ins Ohr kriecht und vom Unglück flüstert – und das ist für dich das pure Glück.

Katja Werkers Songs lassen dich nicht kalt, auch wenn sie auf dem neuen Album „Dakota“ gefälliger und lauter daherkommen, auch wenn die Sonne nun zaghaft über den Horizont dieser Lieder lugt. Das ist Pop, verdammt, auch wenn es um den „Heartbreak Boulevard“ geht und darum, dass man sein Leben nicht im Laden an der Ecke kaufen kann; man muss es sich erkämpfen, Tag für Tag.

Werker weiß es wahrscheinlich nicht, aber sie ist der Traum jeder Plattenfirma. Sie tüftelt Songs aus, wie sie in Deutschland sonst niemand schreiben kann, zumindest keine Frau. Dann spielt sie die Lieder allein im Heimstudio ein, komplett mit allen Arrangements. „Den ganzen Winter über habe ich im Zimmer gesessen und daran gearbeitet, gegen all die Monster, die links und rechts auftauchten.“ Dann legt sie dem Label das Album auf den Tisch, und die braucht es nur noch zu verkaufen. Von ihrer 2000er CD „Contact myself“ gingen angeblich über 40 000 Einheiten weg – eine Sensation.

Ihr neues Album „Dakota“ ist wärmer, weicher, Werker schreit auch mal. So könnte die größte deutsche Songwriterin glatt noch zum Popstar werden. Komischerweise wäre ihr das sogar recht; sie träumt von einem Auftritt bei der Echoverleihung und hält sich für stabil genug, so was durchzustehen. „Je mehr Erfahrung ich sammle“, hat sie festgestellt, „desto weniger verzweifelt bin ich über das, was passiert. Ich verliere nicht mehr so schnell die Nerven.“

Im ersten Geschäft, das sie betreten hatte – also ganz am Ende ihrer Rückwärtstour –, fand sie schließlich ihr Handy wieder. Doch sie weiß: Bald wird sie das Telefon wieder irgendwo liegen lassen. Sie ist halt so. Damals, in Brüssel, ging gleich ihre ganze Handtasche verloren. Sie saß im Bus auf dem Weg nach England, ihrer Trauminsel, als Trickdiebe zustiegen. „Die haben genau abgecheckt, wen sie beklauen können“, erzählt sie müde. „Und ich war diejenige.“ Natürlich.

Sie könnte jetzt gut ihren alkoholfreien Cocktail gebrauchen.

In der Handtasche waren Tickets, Geld, Handy, alles. England ade, sie musste raus aus dem Bus. Sie zog den Rucksack aus dem Kofferraum und stand alleine da, mittellos und panisch. „Ich bin durch Brüssel gelaufen, habe mich durchgeschnorrt“, erzählt sie. „Ich wollte telefonieren, aber man ließ mich nicht, weil ich so runtergekommen aussah, die Haare schief.“ Wenn Katja Werker redet, schaut sie immer ein wenig erschreckt, wie aufgescheucht. Ihr Blick ist der wachsame, übervorsichtige einer Frau, der schon viel zugestoßen ist und die weiß, dass ihr jeden Moment wieder etwas zustoßen kann.

Über ihrem Ledersessel hängt das Foto einer Hamburger Gebäudeflucht. Alle Linien stürzen symmetrisch hin zur Mitte, das Bild feiert Balance und Geometrie, und darunter sitzt die emotional gerade eher asymmetrische Sängerin. Ein sehr fotogener Kontrast – doch sie will nicht fotografiert werden. „Fotos“, seufzt sie, „sind für mich ein diffiziles Thema.“ Sie schaut sich nach dem Kellner um, doch er ist nirgends zu sehen. „Ich hatte mal eine beginnende Nebenhöhlenentzündung am Ende einer anstrengenden Promotour“, erzählt sie, „und wollte eigentlich nicht fotografiert werden. Es wurde ein grottiges, fürchterliches Bild, ganz schlimm. Und die haben das groß gedruckt – eine halbe Seite in der Tageszeitung!“

Sie schließt die Augen, als könnte sie so die Erinnerung verscheuchen. Auf den offiziellen Pressefotos hat man ihre Augen zentimeterbreit mit Kajal ummalt. Wie Spiegelbilder jener Schatten, die über ihrem Leben liegen.

Der Horror von Brüssel dauerte zwei volle Tage. Und er steigerte sich: Der Rucksack, den sie gegriffen hatte, war nicht ihrer. „Als ich mich umziehen wollte, wunderte ich mich über das Fußballtrikot, die Kamera, die Flasche Wein … bis es mir allmählich dämmerte, dass es der Rucksack meines Hintermanns war. Jetzt hatte ich gar nichts mehr: keine Hose zum Wechseln, keine Unterwäsche, keine Zahnbürste, kein Geld.“

Heute hat sie wenigstens einen Song darüber: „No Ticket back“. Über dem E-Piano schwebt ihre verfremdete, vereinsamte Stimme. Es geht um die Abhängigkeit von Scheinen und Bescheinigungen, ums Verlorengehen in der Fremde. „Die Kruste der Zivilisation ist dünn“, sinniert Katja Werker, „mitten in Europa.“ Sie würde jetzt sehr gern an ihrem Cocktail nippen.

Am Ende hat sie sich in Brüssel einfach in den Bus gesetzt, wie bei einer Sitzblockade. „Ich war seit 48 Stunden wach und hatte immer noch diesen Adrenalinschub durch den Schock. Zum Fahrer habe ich gesagt: ,Entweder Sie geben mir jetzt ein Ticket nach Hause oder ich schreie!‘ Da hat er okay gesagt. Und ich bin nach Hause gefahren.“

Allmählich füllt sich die Hotelbar, das Interview geht zu Ende. Katja Werkers Cocktail ist nicht mehr gekommen.

Es ist das einzige Getränk, das die Bedienung vergessen hat.







09 Juni 2014

„19 …?“


Was gibt es eigentlich Langweiligeres als noch ein Bahnbashing? Das ist doch seit Jahren Volkssport in deutschen Blogs. Dennoch soll auch hier in der gebotenen Kürze nicht unerwähnt bleiben, wie engagiert das ehemalige Staatsunternehmen in Abwicklung sich darum bemühte, unsere Pfingstreise nach Paris zu beeinträchtigen. 

„Die Abfahrt verspätet sich um einige Minuten“, „Wir sind außerplanmäßig in einem Tunnel zum Halten gekommen“, „Oberleitungsstörung“, „Betriebsstörung“ etc. pp.: Diese einst recht vorzeigbare Transportfirma mit längst institutionalisiertem Handicap fuhr während beider Fahrten das ganze guterprobte Arsenal leicht zerknirscht klingender Ansagen auf, um die linear wachsenden Verspätungszeiten wenigstens begrifflich halbwegs einzuhegen. 

Das Unternehmen scheint zu einer vollmaroden Klitsche verkommen zu sein, in der es überall klappert, hakt und zwickt und lediglich die leicht zerknirschten Verspätungsbegründungsansagen noch tadellos funktionieren – auch wenn natürlich eine Floskel wie „… sind außerplanmäßig zum Halten gekommen“ keine Begründung darstellt, denn das hatten wir auch so bereits bemerkt. 

Von der Zeit, die wir in Paris verbringen wollten, forderte die Bahn jedenfalls schon auf der Hinfahrt einen außerplanmäßigen Tribut von zweieinhalb Stunden, und dafür werden wir sie mit einem Erstattungsantrag kräftig bluten lassen, versprochen. 

Doch wir sind angekommen in Paris, und das ist ja die Hauptsache, nicht wahr. Beim Flohmarkt am Samstag am Porte du Vanves biss ich mir die Zähne aus an einer Verkäuferin, der ich zwei mit je zehn Euro ausgepreiste Hemden von Christian Lacroix und Donna Karan zum Mengenrabatt abkaufen wollte. Ich begann also mit 14, woraufhin sie „No, 20“ sagte. „Okay, 15“, machte ich ein Angebot zur Güte, was sie mit „No, 20“ konterte. 

Schon jetzt schien mir der Zeitpunkt gekommen, sie daran zu erinnern, wo wir uns gerade befanden: auf einem Flohmarkt nämlich, einer Veranstaltung also, der Handeln und Feilschen gleichsam wesenseigen sei. Dann bot ich 16. Sie sagte „No, 20“, ich: „Okay: 18!“, sie „No, 20“, ich – fassungslos zu Ms. Columbo – „Mann, die ist ja bockelhart!“ und dann zu ihr, nur noch pro forma und mit bereits erstorbener Verve „19 …?“ 

Sie schüttelte den Kopf und lächelte melancholisch: „20.“ Zur Wahrung meiner Restwürde entschloss ich mich zu einer dual abgestuften Rückzugsstrategie, kaufte ihr das Lacroix-Hemd für den geforderten Zehner ab und hängte das Karan-Hemd zerschmettert wieder zurück. Über das seither nagende Gefühl, es lieber in meinem Besitz zu haben, tröstet mich auch die Tatsache nicht hinweg, zehn Euro mehr in der Geldbörse zu wissen.

Was es sonst noch gab in Paris (Auswahl): 

gegen Mitternacht ein famoser Gitarrentsunami der legendären Shoegazerband Slowdive (Foto) im Parc de la Villette

– eine merkwürdig holprig konzipierte Van-Gogh-Ausstellung im Musée d’Orsay

– eine durch Abwesenheit glänzende Duchamp-Schau im Centre Pompidou (die nämlich – anders, als es das blöde Internet behauptet – erst ab Oktober läuft)

– herumkrakeelende Jugendliche unterm Fenster unserer Wohnung im 12. Arrondissement, die nachts um 1 von einem gottgeschickten Regenguss nach Hause gespült wurden

– den schönen Kalauernamen „L’or ange“ für einen Saft

Und ab jetzt wieder Kiez. 
Moin.


10 Mai 2014

Danke


Pünktlich zu Hafengeburtstag und ESC: Sturmböen, Regen und gefühlte 8 Grad.

Manchmal liebe ich den Wettergott.


11 April 2014

Ist Pete Doherty überhaupt kieztauglich?


Aha, so, so, der britische sog. „Skandalrocker“ Pete Doherty zieht also nach St. Pauli. Der Exlover von Kate Moss wird unser neuer Nachbar. Feine Sache. 

Aber ist Doherty überhaupt kieztauglich? Ich habe da so meine Zweifel. Vor einem Konzert seiner Band Babyshambles habe ich Doherty mal über die Hundewiese an der Schmuckstraße staksen sehen, und was soll ich sagen: Er hat kein einziges Mal geguckt, wo er hintritt. FAIL! 

Ich würde sagen, bevor Pete Doherty ein Visum für St. Pauli kriegt, muss er sich erst mal das komplette Blog „Die Rückseite der Reeperbahn“ durchlesen, und wenn er das wegen Überforderung verweigern sollte, dann hat er wenigstens die Beiträge mit dem Etikett „St. Pauli“ durchzuackern. 

Aber vorher Schuhe ausziehen, sonst brauche ich ne Nasenklammer.


27 März 2014

Wenn Leslie mit dem Schnauzer wackelt

Nach dem Tod von Walross Antje († 17. Juli 2003) avancierte Leslie Mandoki (m.) zum weltweit bedeutendsten Schnauzbartträger von ganz Hamburg – wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob er überhaupt in Hamburg wohnt. 

Heute jedenfalls traf ich den Dschingis Khan des Schlagerpops in Berlin, und zwar bei einer Echo-Party auf der Dachterrasse des Europa-Centers. Ich musste unwillkürlich an „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ denken, weil Christiane F. sich mit ihrem Freund gern hier oben traf – zwei Teeniejunkies, ausgerechnet bewacht vom Symbol der Bürgerlichkeit schlechthin, dem Mercedes-Stern. 

Auf der heutigen Echo-Party hatte ich übrigens weder Walross Antje noch Leslie Mandoki entgegengefiebert, sondern vorwiegend dem möglichen Eintreffen der blonden Latinbombe Shakira. Indes kam doch nur Tim Bendzko und nahm Goldene Schallplatten mit. 

Noch vor wenigen Jahren hätte Bendzko für seine Erfolge nur genau halb so viele Goldene Schallplatten bekommen. Weil die Labels es aber einfach nicht mehr mitansehen konnten, wie wenige sie dank Ihrer (ja, ich meine Sie!)  illegalen Downloads nur noch vergeben konnten, haben sie die Anforderungen einfach halbiert. Alle sind dadurch wieder viel glücklicher.

Über solche Tricksereien kann ein altgedientes Walross wie Leslie Mandoki freilich nur verächtlich mit dem Schnauzer wackeln. Seine Goldenen Schallplatten waren damals alle noch richtige – und keine halben Sachen.

Darauf ein dreifaches „Hey! Ho!“

19 März 2014

Andrea schlägt Cristiano



Deutschland hat wieder eine Diva – darf ich vorstellen: Andrea Schroeder aus Berlin, original mit oe. 

Gestern Abend zog ich ihr Konzert im Knust sogar der Champions-League-Übertragung mit Cristiano Ronaldo vor, wenn Sie verstehen, was ich meine.

07 Dezember 2013

Ein Jahr an Krückenstöcken


Käpt’n Angelo Basilikos sitzt bei null Grad Außentemperatur Beim Grünen Jäger und versucht seine Finger an den eisigen Stahlsaiten seiner Bouzouki warmzuspielen. Das klappt natürlich nicht, und deshalb will er auch gleich den Betrieb einstellen. 

Vorher aber gestattet der altehrwürdige Grieche mir noch mitzufilmen (s. unten), wie er den Pavarottis gibt. „Meine Stimme hat neun Oktaven!“, behauptet er kühn und nicht ohne Stolz. Nun, das wären ungefähr dreimal so viele wie Mariah Carey, aber Käpt’n Angelo hat ja auch ein paar Jährchen länger geübt. 

Seit 40 Jahren lebt er auf dem Kiez, „habe Kinder gemacht auch“; ein alter Seebär, den es in seiner Jugend nach San Francisco verschlagen hatte, weshalb er nach seiner Rückkehr nach Athen, wo er mit einer Sängerin und Orchester in Musikclubs auftrat, als „der Amerikaner“ galt. 

Zuletzt aber lief es echt schlecht. „Ich habe ein Jahr an Krückenstöcke gelebt“, erzählt Käpt’n Angelo zwischen zwei Songs in seinem wunderbar griechisch gefärbten Baritondeutsch, das ihm jederzeit einen Radiojob verschaffen dürfte, wenn es ihm doch mal zu kalt wird für Straßenmusik. 

Schuld an des Käpt’ns Krückenstöckenjahr war ein Unfall, der ihn alles kostete: seine Frau und die beiden Kneipen, die er auf dem Kiez mal führte, wie er erzählt. Eigentlich ein super Grund, um sich willenlos der Altersdepression hinzugeben, doch an so was hat ein Käpt’n Angelo keinerlei Interesse. 

Stattdessen blitzen seine 71-jährigen Kapitänsäuglein vor Freude, wenn er über sein bewegtes Leben erzählt, bei null Grad Außentemperatur die Finger an den eisigen Stahlsaiten seiner Bouzouki warmzuspielen versucht und vergnügt den Pavarottis gibt.

Wegen solcher Typen liebe ich St. Pauli. Sie wiegen tausend Eckenpinkler auf. 

Na gut: 500.