10 Juni 2016

Ein Gruß aus der Vergangenheit

Gestern stieß ich in einem vergessenen Winkel zwischen Hängeschrank und hinterster Zimmerecke, neben ausgemustertem Subwoofer und Altkleidersammelsack, auf eine alte Laptopumhängetasche.

Alte Taschen wollen inspiziert werden, das ist ihr Lebenssinn. Ergebnis: Sie war weitgehend leer. Bis auf einen mit Reißverschluss ausgestatteten Gefrierbeutel, in dem sich eine angebrochene Tafel Schokolade befand. Natürlich eine Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss.

Es fehlte eine Rippe, verzehrt wahrscheinlich als Notration auf einer längeren Zugfahrt unter den Konditionen eines ausgefallenen (oder als zu teuer eingeschätzten) Bordrestaurants.

Wann ich die Tasche zuletzt in Gebrauch hatte, ist mir jedenfalls völlig unklar. Ein Indiz könnte das Mindesthaltbarkeitsdatum der Schokolade liefern. Es war der 23. August 2015. Auf der Seite von Ritter Sport heißt es zu diesem Sachverhalt:

„Für unsere Schokolade haben wir ein MHD von ca. einem Jahr festgelegt.“
 

Längstens hätte meine prähistorische Tafel also seit August 2014 satt und zufrieden, wenngleich ein wenig einsam in der Laptopumhängetasche geruht. Weiter heißt es bei Ritter:

„Natürlich schmeckt sie auch danach noch, aber eben nicht mehr ganz so gut.“

Na, das wollen wir doch mal überprüfen. Zunächst zur Optik. Die Schokolade wirkt leicht angeranzt, ein Hauch von grauer Patina überzieht die restlichen drei Rippen, vor allem dort, wo die eingegossenen ganzen Nüsse sich keck übers Plateau der Tafel wölben. Aber kein Schimmel, nichts auffällig Unappetitliches.

Nun zur Olfaktorik. Ein starker, den Rande des Strengen nicht nur streifender Kakaoduft steigt intensiv in die Nase. Und rieche da: Er ist gar nicht unangenehm. Ja, er macht sogar Lust auf einen Bissen. Und ich wäre der Letzte, der dieser Lust nicht nachgäbe, die Welt ist meine Zeugin.

Mit einem kräftigen Knack breche ich ein Segment aus Rippe Nr. 2, stecke es mir in den Mund – und erkenne sofort, dass Ritter Sport auf seiner Webseite auf dreisteste Weise LÜGT. Denn diese Schokolade, gefertig irgendwann um den Dreh herum, als Götze Schürrles Flanke zum Entsetzen ganz Argentiniens im Netz versenkte, schmeckt nicht „nicht mehr ganz so gut“.

Sondern sie schmeckt fast wie neu. Beinah so, als hätte sie nicht Jahre in einer Laptopumhängetasche in einem vergessenen Winkel zwischen Hängeschrank und hinterster Zimmerecke verbracht, neben ausgemustertem Subwoofer und Altkleidersammelsack.

Damit ist quasi der Nachweis erbracht, dass nicht nur Kakerlaken (und Lemmy Kilmister leider schon gar nicht!), sondern auch und vielleicht als einzige biologische Substanz eine Tafel Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss sowohl einen Atomkrieg als auch die Smartphonezombieapokalypse unbeschadet überstehen würde.

Seit die Tafel im Sommer 2014 fabriziert wurde, ist der Preis dieser Sorte übrigens um ungefähr 33 Prozent gestiegen. Mein schrecklicher Verdacht: Mit meinen zahlreichen Elogen auf diese Schokolade bin vor allem ich schuld daran. Denn ungenießbare Sorten wie Brombeer Joghurt, Vanille-Mousse oder Knusperkeks sind davon komplett unbetroffen. Warum also nur meine Lieblingssorte?

Offiziell ist von Nussmissernten in der Türkei die Rede. Aber das wollen SIE Ihnen natürlich nur einreden, um MICH, ihren besten Kunden, vor dem Mob zu schützen. 


Egal: Auf zum nächsten Bissen.



31 Mai 2016

Fundstücke (213)

Was in Klabautermanns Namen ist das – die Überreste eines adipösen Riesenkalmars? Bettwäsche mit der Lizenz zur Fotosynthese? Oder die Hinterlassenschaft des Buddhistenfestivals von vorletztem Wochenende?

Jedenfalls lag dieser grüne Haufen heute im eh vor lauter Grün schier platzenden Planten un Blomen herum, wo wir – glauben Sie’s oder lassen Sie’s – noch immer Bärlauch gefunden haben.

20 Mai 2016

Begegnung mit einem potenziellen Mörder


Neulich Lärm unterm Balkon, wie so oft. Hier ein Beispiel.

Zu sehen ist eine Dreiergruppe Männer, einer davon brüllt. Es handelt sich um einen volltätowierten, stoppelhaarigen Hantelmann im Muskelshirt. „Ich will jäzz sofott’en Nigger uffhängen!“, brüllt er, „einfach nuor, weilor schwozz is!“

Einer seiner im Gegensatz zum Wortführer unauffällig gekleideten Kumpels ist verhalten irritiert. „Hier in Hamburg?“, fragt er bang. „Jöu!“, brüllt der Mordlüsterne zurück, „miör ögol! Öder ’n Kanaggn!“

Die aufrechten Ritter der politischen Korrektheit werfen mir wahrscheinlich jetzt wieder vor, ohne Not den Akzent des moralisch mächtig Herausgeforderten wiedergegeben zu haben; dies, so höre ich sie sagen, trüge eventuell zur Diskriminierung der ostdeutschen Bevölkerung bei, und das sei unfair all jenen Ostdeutschen gegenüber, die gerade keinen Nigger oder Kanaggn uffhängen möchten.

Darauf kann ich nur erwidern: miör ögol. Wenn die Wahrheit diskriminierend ist, dann ist sie, die Wahrheit, höchstselbst dafür verantwortlich, aber nicht der, der sie ausspricht.

Vom Balkon brülle ich: „Scheiß Nazis! Verpisst euch aus St. Pauli!“, aber es kommt keine Reaktion, wahrscheinlich weil der Brüllaffe das unmittelbare Gruppenumfeld sonisch zu stark dominiert.

Was bleibt, ist die bestürzende Erkenntnis, dass es wirklich Menschen gibt, die Mordlust verspüren, nur weil ein anderer von Natur aus irgendwie aussieht. Sie sind keine Fantasie, keine Comicfiguren aus dem Schwarzbuch der Antifa. Sie sind echt, sie laufen durch Deutschland, manchmal sogar durch St. Pauli.

Einer davon atmet gerade, sein Herz schlägt, sein Kreislauf funktioniert; wahrscheinlich irgendwo im Osten Deutschlands. Das darf eigentlich nicht sein.


Doch was kann man tun? Was hätte man tun sollen und müssen, damals, als er ein Kind war?

Lösungsvorschläge in den Kommentaren, danke.


PS: Wie weit so einer ideologisch entfernt ist von jemandem, der ein Schild wie das oben abgebildete ausdruckt und in Altona verliert, weiß ich nicht. Mir fallen aber ideologische Distanzen ein, die größer sind.



31 März 2016

Rewe hat keine Eier!

Neulich, in dieser kleinen Pension in Schwerin, lag die „Bild am Sonntag“ neben dem Tresen. Dafür würde ich selbstverständlich niemals Geld ausgeben, aber wenn sie schon  rumliegt, kann man sie ja auch mal aufschlagen. 

Am interessantesten war eine doppelseitige Anzeige von Rewe, in der die Kette sich unter der Überschrift „Mit jedem Einkauf Gutes tun“ auf die Schulter klopft – für einen Grundpreis von 176.500 Euro. So viel kostet nämlich eine vierfarbige Doppelseite in der BamS. 

Besonders fesselte mich das vorgestellte „einzigartige Pilotprojekt“ namens „Spitz & Bube“. Dabei handelt es sich um eine Eiervariante, bei deren Produktion den Legehennen nicht die Schnäbel abgeschnitten und – noch lobenswerter – keine männlichen Küken geschreddert, sondern aufgezogen werden. Ihr Leben ist hinfort geprägt von Müßiggang und Rumpicken. So etwas könnte ich mir auch für mich vorstellen.

Ich muss vorwegschicken: Ich sehe mich als Flexitarier. Zu Hause esse ich kein Fleisch, aber wenn ich irgendwo ein Rinderfilet vorgesetzt bekomme, dann zicke ich nicht rum. Das Rind wurde aufgezogen, um gegessen zu werden. Es gibt sein Leben, um ein anderes zu erhalten; das ist nicht völlig ohne Sinn. 

Ganz anders bei der Massenherstellung von Eiern. Die nutzlosen männlichen Küken wandern dabei samt und sonders in den Häcksler oder die Gaskammer. Sie werden wie Abfall behandelt, und das sollte nicht sein.

Deshalb suchen wir seit einiger Zeit nach Alternativen – und dann kommt unverhofft der zweitgrößte Einzelhändler der Republik mit Eiern um die Ecke, die nicht mit toten Küken bezahlt werden müssen, sondern nur mit ein, zwei Euro mehr pro Packung. Das ist super, sagten wir uns einhellig, da melden wir doch gleich mal Nachfrage an, um so peu à peu die Republik in puncto Eiern umzukrempeln.

Also tat ich in Schwerin etwas, was ich sonst nie selten tue: Ich entnahm der BamS die 176.500 Euro teure Doppelseitenanzeige, faltete sie, schmuggelte sie mit nach Hamburg, ging in den nächstbesten Rewe am Großneumarkt und verlangte nach „Spitz & Bube“-Eiern.

Man hatte noch nie davon gehört.

Ich zeigte die Anzeige vor, man ging damit zum Chef. Der hatte noch nie davon gehört. Allerdings sei man nur ein kleiner Markt, das Gesamtsortiment gäbe es nur in den großen.

Nächster Versuch im Portugiesenviertel, auch kein großer Markt, aber einer, der auf dem Weg lag. Der Ablauf unseres Besuchs ähnelte auf verblüffende Weise dem ersten: Die Anzeige erzeugte Stirnrunzeln, Verblüffung, Ratlosigkeit.

Wollte Rewe uns veräppeln? Aber sind 176.500 Euro dafür nicht ein paar Tacken zu viel …?

In Altona gibt es zum Glück einen wirklich riesigen Rewe-Markt. Er liegt an der Max-Brauer-Allee und bildet fast ein eigenes Stadtviertel. Dort – ich war mir ganz ein bisschen sicher – würde ich endlich meine schredderfreien Eier erwerben können. 

Zunächst schnürte ich eine Weile erfolglos um die außergewöhnlich beeindruckende Eierauslage herum. Bestimmt hatte ich die „Spitz & Bube“-Sorte nur übersehen; das kann passieren bei einem exorbitanten Sortiment wie diesem. Jedenfalls war es erneut erforderlich, eine Rewe-Kraft mit meinem lodernden Bedürfnis, das eine bundesweite Anzeige unlöschbar geweckt hatte, zu behelligen.
 
Ich sprach eine Verkäuferin an, natürlich bewaffnet mit meinem besten Argument, der BamS-Anzeige, die so teuer war wie eine 130-Quadratmeter-Wohnung mit Fußbodenheizung und Schwimmbad in Schwerin. 

Die Verkäuferin hatte noch nie davon gehört. Aber möglicherweise, sagte sie, könne man eine „Spitz & Bube“-Packung für mich bestellen. 

Darauf also lief alles hinaus: Rewe gibt eine knappe Sechstelmillion Euro dafür aus, dass ein Kunde, nachdem er sich in drei Läden die Hacken wundgelaufen hat, eine Packung Eier bestellen kann. Mit ungewissem Lieferzeitpunkt.

Bisher dachte ich immer, man macht Werbung für etwas, das man auch hat. Sinn und Zweck einer solchen Investition – so meine naive Vorstellung – ist doch die Refinanzierung. Am Ende soll der durch die Anzeige generierte Gewinn höher sein als ihre Kosten. Aber vielleicht habe ich in diesem Punkt den Kapitalismus auch einfach falsch verstanden.

Ich schlich mich jedenfalls frustriert zu unserem Stamm-Edeka-Laden. Ob sie vielleicht ebenfalls Eier anböten, die ohne den Massenmord an fiepsenden Küken produziert worden wären? Immerhin habe Rewe so etwas neuerdings im Angebot, wie aus dieser Anzeige (ich zeigte sie vorwurfsvoll vor) unzweifelhaft hervorginge.

Bedauerlicherweise nicht, doch man versprach mit leichter Panik im Blick (verdammt, Rewe ist schon so weit, und dabei sind die nur die zweitgrößten hinter uns …!), sich zu erkundigen. Morgen könne ich wieder nachfragen.

Und verdammt: Das tue ich auch. Diese Spitzbuben kommen mir nicht davon.


Update v. 24.02.2017: Der Rewe-Markt im Brauerknechtsgraben (Hamburg, Nähe Michel) hat inzwischen die schredderfreien Eier. In der Edeka-Filiale Rindermarkthalle gibt es ebenfalls welche.






19 März 2016

Fundstücke (212)



Grimmige Sicherheitskräfte gestern vorm Aldi in der Großen Bergstraße. 
Zum Glück war direkt daneben ein Edeka.


18 März 2016

Auf der Suche nach Andrea A.




Ich bin ja jetzt in dem Alter, wo man häufiger Sätze mit „Ich bin ja jetzt in dem Alter …“ anfängt. 


Also: Ich bin ja jetzt in dem Alter, wo man sich fragt, was aus den Menschen geworden ist, mit denen man dereinst Abi gemacht, die Fußballdorfmeisterschaft errungen oder studiert hat. Zum Beispiel aus dieser Kommilitonin mit den alliterationsfreundlichen Eltern: Andrea Ambros.

Sie war die erste Feministin, mit der ich je befreundet war, und sie war – wie praktisch jeder, der damals in Marburg Politikwissenschaft studierte – natürlich links.

Vielleicht sind Sie ja in einem Alter, wo sie das Kürzel MSB noch aufzulösen wissen, ohne googeln zu müssen. Wie auch immer: Wenn Elton John zu aufwallender orchestraler Düsternis sein „Tonight“ sang (siehe Clip), dann hatte die ansonsten streng und buttermesserscharf losargumentierende Andrea plötzlich Wasser in den Augen.

Die Gründe blieben Zeit unserer Freundschaft klandestin für mich, schienen aber mit bestimmten Gefühlen zu tun zu haben, die mit Andreas stramm linkem Feministinnendasein zusammenzubringen mir immer etwas schwerfiel.

Aber egal, als Linker nahm man so was damals in Marburg nicht nur hin, sondern schätzte es sogar als Ausdruck persönlicher Dialektik. In dieser Schublade verstaute ich innerlich auch ihre On-off-Affäre mit einem verheirateten französischen Lehrer, den sie immer wieder unter konspirativen Umständen in Paris aufsuchte und der, wie mir schien, irgendetwas mit Andreas Tränen bei Elton Johns „Tonight“ zu tun haben musste.

Irgendwann um 1991 herum verlor ich Andrea aus den Augen. Eine ganze Weltordnung zerbrach und musste sich neu sortieren. Galt das auch für Andrea? Was geschah danach wohl mit ihrer persönlichen Dialektik zwischen „Tonight“ und Feminismus, zwischen Marx, Engels und dem heimlichen Liebesnest an der Seine?

Die Suche begann. Google, Facebook oder LinkedIn lieferten zwar diverse alliterierende Andreas ihres Namens, doch nicht die richtige. Immerhin stieß ich auf einen Text in einer politischen Zeitschrift, erschienen allerdings schon vor sehr langer Zeit:

»Arbeit der Arbeiterklasse an sich selbst« – Die Arbeitskraft als Ware und die Doppelarbeit der Frauen, in: Perspektiven. Zeitschrift für sozialistische Theorie 6/1989, S. 17-30
Eine ihrer beiden Mitautorinnen ist inzwischen Professorin in Gießen. Ich schrieb sie an. Doch auch sie – obgleich lange Jahre mit Andrea befreundet und zeitweise gar ihre WG-Genossin – hat längst den Kontakt verloren. Auch sie hatte interessanterweise bereits erfolglos nach ihr gegoogelt – und sich gewundert über Andreas Spurenlosigkeit.

Das ist wirklich erstaunlich: Wie kann jemand, der die Welt verändern wollte, dieser Welt, in der wir inzwischen alle ein riesiges Spinnennetz digitaler Daten hinterlassen, so abhanden kommen?

Die Gefühle und Gedanken, die rund um diese bange Frage aufkeimen, sind dunkel und ungut, und ich würde sie gern verscheuchen. Ich würde alles gerne ausleuchten mit der Strahlkraft eines Wiedersehens.

Wer also etwas weiß über Andrea Ambros’ Verbleib, der möge tun, was er für richtig hält.