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01 März 2016

Mein erstes und (wahrscheinlich) letztes Interview mit Donovan


Dylan? Ein Gäle!
Die Folklegende Donovan (69) kommt auf 50-Jahre-Jubiläumstour. Sollte man seine seltsame Begegnung mit Bob Dylan 1965 erwähnen? Ach, warum eigentlich nicht …
 
Donovan, es gibt nur wenige Künstler, die so berühmt wurden, dass sie keinen Nachnamen brauchen. Wo würde ein Brief landen, der an „Donovan, Ireland“ adressiert wäre?
Donovan: Ich habe zwar ein Haus in Irland, kann aber nur selten dort sein, weil ich viel auf Reisen bin. Post also am besten an support@donovan.ie.
Sie sind einer der einflussreichsten Künstler der letzten 50 Jahre. Wer beeinflusst Sie denn momentan?
Donovan: Wir Dichter wissen, dass wir von der Tradition beeinflusst sind. Ich auch. Die gälische Erzähl- und Liedtradition ist mein ewiger Einfluss. Und ich selbst beeinflusse Tausende neue und aufstrebende Künstler. Kommen Sie zum Konzert, dann hören Sie es!
Gern. Würden Sie mir den Gefallen tun und „Jersey Thursday“ spielen?
Donovan: Mit Vergnügen, aber Sie müssen es laut reinrufen in der zweiten Hälfte.
Kann man sich als Künstler eigentlich zeitlebens weiterentwickeln?
Donovan: Klar. Ich habe unzählige Methoden entwickelt, wie ich singen und Gitarre spielen kann. Meine Auftritte wirken zwar simpel. Aber die Verbindung herzustellen zwischen mir und dem Publikum durch einzigartige, kraftspendende Lieder: Das ist heilsam für ruhelose Seelen.
Im Dokumentarfilm „Don’t look back“ reagiert Bob Dylan ziemlich spöttisch auf Sie, nachdem Sie ihm als „britischer Dylan“ vorgestellt wurden …
Donovan: Dylan hat die gälische Songtradition genau studiert, ehe er selbst zu schreiben anfing, sein großer Held Woody Guthrie hatte starke schottische Wurzeln. Ohne gälischen Einfluss hätte Dylan gar nicht loslegen können. Ich war also nicht der britische Dylan, Bobby war der amerikanische Gäle! Und wie Alan Price im Film so schön zu ihm sagt: „Er spielt besser Gitarre als du“ …
Sie sollen zu Hause keinen Internetanschluss haben. Steckt eine Protesthaltung dahinter?
Donovan: Das Internet ist wie ein seltsames Telefon: Es funktioniert nur in eine Richtung. Und E-Mail ist ein Hamsterrad.
5. 4. Hamburg
6. 4. Berlin
8. 4. München
10. 4. Heilbronn
11. 4. Schwabach
13. 4. Ravensburg
14. 4. Fulda
16. 4. Köln
17. 4. Ennepetal
19. 4. Mainz
20. 4. Dresden
22. 4. Leipzig
23. 4. Gotha

(erschienen in der Printausgabe der Zeitschrift kulturnews, März 2016; kulturnews.de)





18 Januar 2016

Mein erstes und (wahrscheinlich) letztes Interview mit Gunter Gabriel

Damals, 2009, traf ich Gunter Gabriel, weil er eine wirklich respektable Platte am Start hatte. So richtig durch die Decke ging seine Karriere danach trotzdem nicht; deshalb sitzt er jetzt gerade im Dschungelcamp.

Das finde ich Anlass genug, um der Welt mein schonungslos liebevolles kulturnews-Porträt des damals, 2009, noch nicht ganz so schabrackigen Altcountrybarden erneut ins Gedächtnis zu rufen. 

Nach dem Interview versprach er übrigens, mir Platten seines – nach Johnny Cash – zweitliebsten Songwriters Shel Silverstein zuzuschicken. 

Raten Sie mal, worauf ich heute noch warte.





Der Mea-culpa-Mann

Je tiefer man fällt, desto höher kann man auch wieder steigen. Lebender Beweis: Gunter Gabriel.
 

Er steht da mit 67 wie ein Kerl, ein ganzer Mann. Aus zwei Metern Höhe schaut Gunter Gabriel herab, sein imposanter Ranzen wölbt sich auf Altherrenart unterm Oberhemd, und beim Gespräch legt er manchmal den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. Allerdings nur, weil er schon mal besser gehört hat. Aber haben wir das nicht alle?

Gunter Gabriel ist hier, weil er wieder zurück ist. Und er hat eine Botschaft. Sie lautet: Ich bin schuld, und zwar an allem.  Seine größte Zeit hatte er während der Ölkrise der frühen 70er. Jetzt steckt die Wirtschaft noch tiefer im Sumpf, und prompt ist Gabriel wieder da – als Mea-culpa-Mann.

Er sagt, wie scheiße er war, doch er bittet nicht mal um Verzeihung. Sein derbes, mächtiges Mea culpa hat er in eine Autobiografie gepackt und in eine Platte. Die Platte ist die beste seiner fast 35-jährigen Karriere. Weil sie endlich mal so cool und abgehangen klingt, dass man sie vorzeigen kann. Weil jeder Song, auch ein Cover wie Radioheads „Creep“ (das kongenial zu „Ich bin ein Nichts“ wird), die gebrochene Größe des Gunter G. widerspiegelt.

Wer beim Hören der erdigen Produktion „Plagiat!“ ruft, weil sie schwer ans Konzept des späten Johnny Cash erinnert, der ruft ins Leere, denn auch das gibt der gute Gunter vorauseilend zu: Sein Album hat nämlich den Untertitel „German Recordings“, ein Pendant zu Cashs „American Recordings“. Ist das die Strategie: einfach alles zugeben, damit einem keiner mehr was anhängen kann?

Gabriel legt den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. „Das ist hundertprozentig richtig“, sagt er. „Ich habe mich geöffnet und gesagt: Jawoll, ich bin pleite, jawoll, ich habe meiner Frau was auf die Fresse gehauen. Ich sag das jedem: Kotz dich aus! Bevor dich die Kotze erstickt.“

Gabriel redet wie einer, dem keiner mehr was kann, weil er längst gerafft hat, dass er selbst sein größter Feind war. Er hat seine Millionen aus Hits wie „Er ist ein Kerl“ in windigen Bauherrenmodellen versenkt, und er hat zu Hause derart rumgenervt, dass ihm die Ehefrauen reihenweise wegliefen, vier insgesamt. Jetzt lebt er auf einem Hausboot im Hamburger Hafen und versucht, die positiven Gefühle nachzuleben, die er einst unterm Schutt aus Eifersucht, Suff und Egomanie begrub.

Gunter Gabriel war mal sehr peinlich, doch er gewinnt gerade die knorrige Größe des Gescheiterten, der zu zäh war, um ganz unterzugehen. „Mir geht’s heute zehnmal besser als damals“, brummt der Exmillionär so tieffrequent, dass der Rekorder vibriert. „Ich bin reich, auf meine Art. Ich lege mich noch immer gerne voller Lust zwischen die Schenkel einer Frau und kann das genießen und sagen: Ist das nicht toll, dass wir uns riechen und spüren? Das ist doch ein Geschenk, das du als alter Sack noch genießen kannst!“

Der alte Sack wird sein Comeback hinkriegen. Mit dieser Platte, diesem Buch, dieser Haltung: Das klappt. „Ich habe“, brummt er gelassen, doch ohne Stolz, „in jeden Scheißhaufen reingetreten, der sich mir bot, ja.“

Zum Glück.



Foto: Matt Wagner







13 März 2015

Mein erstes und letztes Interview mit Daevid Allen

Es häuft sich: dass Künstler, die Interviewpartner waren, sich für immer verabschieden. Im Januar war es der Tangerine-Dream-Chef Edgar Froese, heute der Mitbegründer der legendären Band Gong, Daevid Allen (77). 

Hier als Hommage an einen ganz Großen der Rock- und Fusiongeschichte noch einmal unser Interview, erschienen erst vor wenigen Wochen, im Dezember 2014 in kulturnews.


Die weibliche Null

Der 1967 in Frankreich gestrandete Australier Daevid Allen (76) ist eine Fusionlegende. Nun hat er seine alte Liebe Gong wiederbelebt – und erklärt, warum diese Band niemand je verlassen kann.

Mr. Allen, es gab im Lauf der vergangenen viereinhalb Jahrzehnte verwirrend viele Inkarnationen der Band Gong. Welche war denn die einzig wahre?
Daevid Allen: Na, die heutige! Und auf Tour war die jeweilige Formation immer die einzig wahre. Wenn du dir das aktuelle Album anhörst, merkst du, wie wahr die aktuellen Gong sind und was für eine Wahnsinnskraft diese Band hat.

Sie sind gebürtiger Australier und bekamen 1967 nach einer Frankreichtour mit Soft Machine keine Einreisegenehmigung mehr nach Großbritannien, wo Sie damals lebten. Was hatten Sie denn verbrochen?
Allen: Ich war 1960 nach Großbritannien gezogen und hatte als Australier zunächst die gleichen Rechte wie britische Staatsbürger. Dann wurden die Einwanderungsgesetze geändert, was ich aber erst mitkriegte, als ich 1967 mit Soft Machine wieder einreisen wollte. Die Band hatte sich einen ziemlich schlechten Ruf erarbeitet, weil sie einige sehr prominente Londoner Debütantinnen mit LSD versorgt hatte – was dem einflussreichen englischen Establishment eine gute Ausrede lieferte, um mich draußen zu halten. Das neue Gesetz bot die Chance dafür.

Immerhin: Ohne diesen Umstand hätte es Gong nie gegeben, denn Sie blieben in Frankreich und gründeten die Band. Glauben Sie eigentlich an so etwas wie Schicksal ...?
Allen: Klar - und es hält überraschende Volten bereit. Es scheint, als hätte ich viel Glück gehabt, und ich bin dankbar dafür. Man kann Magie definieren als perfekten Mix aus Fantasie und Willenskraft. Damals war ich enttäuscht vom Schicksal Soft Machines, aber ich wollte einfach unbedingt was erreichen, und das trieb mich weiter an.

Obwohl sehr viele Musiker zur Band stießen und irgendwann wieder gingen, hat ein Exmitglied, der Gitarrist Steve Hillage, mal gesagt: „Niemand verlässt jemals Gong.“ Wie hat er das denn gemeint?
Allen: Gong ist nicht nur eine Band, sondern eine ganze Gemeinschaft von Bands, Künstlern und einem weltweiten Publikum aller Altersgruppen. Von Zeit zu Zeit veranstalten wir die „Gong Unconvention“, ein Festival mit Gong und befreundeten Bands. Jeder, der mal Mitglied war, ist eingeladen. Das Fest ist ein Magnet für Gong-Freaks, die aus der ganzen Welt anreisen. Das letzte fand 2006 im Amsterdamer Club Melkweg statt. Nächstes Jahr soll es ein weiteres geben. Wenn Sie vorbeikommen, werden Sie sehen, dass niemand je Gong verlassen hat …

Neue Tracks wie das hektische „Occupy“ schließen den Kreis zur hochpolitischen Gründungszeit von Gong, dem Jahr 1968. Was empfehlen Sie denn der Jugend von heute: Wogegen soll sie auf die Barrikaden gehen?
Allen: Mit dem Internet ist eine ganz neue Form der Politik entstanden, ganz klar. Die Bewegung unterscheidet sich von allen davor, und es ist unvorhersehbar, wie sie sich als frei organisiertes Netzwerk entwickeln wird. Und natürlich ist auch die Jugend von heute geprägt von diesem dynamischen Prozess, der die noch im 19. Jahrhundert verwurzelten politischen Systeme entweder weiter transformieren oder sogar ganz überwinden wird. Es gibt zurzeit viele interessante Köpfe wie Thomas Pickety oder Slavoj Žižek, und in vielerlei Hinsicht ist Musik ein Indikator für den anstehenden sozialen Wandel. Allerdings ist der eine visionäre Denker noch nicht aufgetaucht, der eine große internationale Bewegung lostreten könnte.
Die nächste Revolution, sagen Sie in einem Song, wird nicht mehr auf den Straßen stattfinden, sondern in uns selbst. Wenn Marx mit seiner materialistischen Philosophie den Idealisten Hegel auf die Füße gestellt hat, dann stellen Sie mit dieser Prognose wohl Marx auf den Kopf ...
Allen: Einige von uns warten in der Tat auf einen umgedrehten oder von innen nach außen gekehrten Karl Marx. Der neue Gestalter des politischen Fortschritts ist aber wohl eher ein Think-Tank. Ein Kreis Gleichgestellter. Eine weibliche Null statt einer männlichen Eins.
Zurück zur Musik: Bei welchem jungen Fusionkünstler sehen Sie – als Pate des ganzen Genres – eine strahlende Zukunft, wer wird mal ganz groß?
Allen: Oha, ich sehe hier eher Konfusion … Ich lebe praktisch in einem Teehaus am Strand. Aus der Fusion, auf die ich als Pate Einfluss hatte, ist die Infusion geworden. Der Körper und der Teebeutel sind eins, und deshalb sind Vergangenheit und Zukunft für mich auch nicht mehr zu unterscheiden.

Das Album "I see you" ist seit Mitte November im Handel.   

Foto: Madfish Music





25 Januar 2015

Mein erstes und letztes Interview mit Edgar Froese

Schon wieder geht es hier nicht um den Kiez, sondern um Musik, leider. Denn am 20. Januar ist, wie gestern bekannt wurde, einer meiner großen musikalischen Helden gestorben: Edgar Froese, Kopf, Gitarrist und Keyboarder der Berliner Elektroniklegende Tangerine Dream. 
Im vergangenen Frühjahr konnte ich ihn anlässlich der bevorstehenden Deutschlandtour interviewen. Zum Berliner Auftritt bin ich natürlich angereist, denn trotz all meiner Verehrung für die frühe Schaffensphase der Band: Live gesehen hatte ich sie bis dahin nie – was vor allem daran lag, dass sie überall anders Superstarstatus und somit viele Touranlässe hatten, nur in ihrem Heimatland nicht. 
Hier also mein Edgar-Froese-Interview, das im April 2014 in kulturnews gedruckt wurde. In seiner letzten Antwort erwähnt er das „Ende seiner Tage“, aber mit Trotz und Stolz.

Unverkäuflich
Edgar Froeses Band Tangerine Dream ist eine Weltmarke – und beehrt endlich mal wieder die alte Heimat. Ein Interview über Grammys fürs Klo, doofe Labels und den Reiz von Tarantino.

Herr Froese, die herausragenden Vertreter der Berliner Elektronikschule – Sie, Klaus Schulze, Manuel Göttsching – haben Weltgeltung, aber ausgerechnet in Deutschland merkt man davon wenig. Wie sehr fuchst sie das?
Edgar Froese: Es berührt mich überhaupt nicht, da es den Ausgleich gibt, in vielen anderen Teilen der Welt für seine Arbeit geschätzt und respektiert zu werden. Deutschland war und ist für uns eine Erinnerung an die Anfangszeiten einer elektronisch orientierten Rockmusik, nicht mehr und nicht weniger, und das ohne jede Bitterkeit.

Bei den frisch Grammy-gekrönten Kraftwerk ist das anders. Hat die Düsseldorfer Konkurrenz sich einfach besser vermarktet?
Froese: Derartige Vergleiche setzen ein sehr kleinkariertes Konkurrenzdenken voraus, und so etwas ist mir völlig fremd. Es ist doch ein sehr positives Zeichen, wenn Kollegen, die auch in Deutschland musikalische Geschichte geschrieben haben, in anderen Teilen der Welt dafür honoriert werden. Letztlich kommt eine progressive Bewertung neuer Entwicklungen allen Musikern zugute.

In den 90ern wurden jedenfalls auch Sie ständig für Grammys nominiert, allerdings ohne Erfolg. Wäre es Ihnen wichtig, diese Trophäe irgendwann mal mal in der Vitrine stehen zu haben?
Froese: Sollten wir den Grammy eines Tages erhalten, habe ich in einer Ecke meiner hausinternen Badezimmertoilette schon einen Platz reserviert. Bis dahin steht dort eine wunderschöne Donald-Duck-Replika.

Ihre aktuelle „Phaedra Farewell“-Tour greift den Titel Ihres 1974er-Albums auf. Diese Aufnahme bräuchte – wie viele aus der Virgin-Ära – dringend ein weiteres Remastering, welches die Räumlichkeit und Transparenz besser herausarbeitet.
Froese: Vieles, was musikalisch und tontechnisch verbessert werden könnte, liegt in den Händen jener Plattenfirmen, mit denen wir damals unter Vertrag standen. Somit ist es deren Aufgabe, diese Verbesserungen vorzunehmen. Dass diese Firmen durch Unwissenheit und Inkompetenz oft an diesen notwendigen Aufgaben scheitern, darf man uns nicht anlasten.

„Phaedra“ mit seinem fast 18-minütigen Titelstück war 1974 hoch in den britischen Charts, was aus heutiger Sicht unglaublich anmutet. Warum waren Käufer damals offener für Experimente als heute?
Froese: 1974 existierte auf dem Tonträgermarkt nichts Vergleichbares. Dadurch hatten wir es leichter, auf diese neuen Klänge und rhythmischen Strukturen aufmerksam zu machen. Heute arbeitet fast jede Band mit Synthesizern, und es ist schwieriger, bahnbrechend neue Musik kommerziell auszuwerten.

Auch Ihre „Tatort“-Single „Das Mädchen auf der Treppe“ war 1982 in den Hitlisten. Sie sollen das damals als „Betriebsunfall“ bezeichnet und sich entschuldigt haben. Hatten Sie Angst, an Glaubwürdigkeit einzubüßen, wenn Sie plötzlich neben Abba und Nicole gelistet werden?
Froese: Ich habe mich für diese Produktion nie entschuldigt, da es musikalisch genau die Musik war, die in diesem „Tatort“ sinnvoll angelegt war. Dass daraus ein Hit wurde, konnten wir nicht planen, und es war auch nicht vorhersehbar, insofern könnte man es als „Betriebsunfall“ bezeichnen, allerdings mit positiven Nebenerscheinungen.

Insgesamt haben Sie zu über 60 Filmen Soundtracks beigesteuert und mit den größten Regisseuren gearbeitet. Welchen weiteren Namen würden Sie sich gern noch als Kerbe in den Colt ritzen?
Froese: Wir haben keinen Western vertont, deshalb besitze ich für Gravuren dieser Art auch keinen entsprechenden Gegenstand … Wahr ist allerdings, dass fast 16 Jahre für Hollywood musikalisch arbeiten zu dürfen eine unschätzbare Erfahrung bedeutet. Spielberg und Tarantino sind zwei Regisseure, für die zu arbeiten noch äußerst reizvoll wäre.

Sie sind die einzige Konstante bei Tangerine Dream und verwalten sozusagen eine Weltmarke. Wie viel Euro müsste man auf den Tisch legen, um sie Ihnen abzukaufen …?
Froese: Ich war und bin nicht käuflich, und daran wird sich auch bis zum Ende meiner Tage nichts ändern.

Foto: MFP




23 Januar 2015

Pleiten, Pop und Pannen

Im Jahr 2000 erschien ein Album, das bis heute keine deutsche Songwriterin je übertroffen hat. Es heißt „Contact myself“, und getextet, komponiert und geflüstert hat es Katja Werker
Als vorgestern Abend in der Fernsehserie „Marie Brand“ im Hintergrund der Song „Carried the cross“ von jenem Album lief, ist wieder mal ein paar mehr Leuten bewusst geworden, was für eine große unentdeckte Künstlerin da im Ruhrgebiet herumsitzt. Inzwischen finanziert sie ihre Alben über Crowdfunding; mehr dazu demnächst.

Anlässlich dieses kleinen ZDF-Coups von vorgestern Abend fielen mir die Interviews wieder ein, die ich in den vergangenen 15 Jahren mit Katja Werker geführt habe. Und eins davon – genauer gesagt: ein kleines Porträt, das aus einem Interview entstand – soll hier den vom ZDF unfreiwillig ausgelösten kleinen Hype noch ein wenig unterstützen. Es erschien 2008 in der Zeitschrift uMag.

Pleiten, Pop und Pannen

Katja Werker ist die beste deutsche Songwriterin. Und das liegt nicht nur an ihrer Schusseligkeit.

Manche Menschen sind Magneten. Sie ziehen das Unglück an wie ein Honigtopf die Wespe. Der Blumentopf fällt ihnen auf den Kopf. Es ist ihre EC-Karte, die im Automaten stecken bleibt.

Die Hotelbar dämmert vor sich hin. Kaum Gäste, es ist früher Nachmittag. Katja Werker flattert herein wie ein gerupfter Schwan, abgehetzt und atemlos. Schlaff fällt sie in den schweren Ledersessel. Das war mal wieder ein Vormittag! Dabei ging es gut los. Sie war gemütlich shoppen in der Hamburger Innenstadt, mal hier, mal da – und am Ende war ihr Handy weg. Also rollte sie ihre Einkaufstour noch mal von hinten auf, klapperte ein Geschäft nach dem anderen ab, immer ruheloser, immer adrenalingepeitschter.

Das Handy ist ihr wichtig, da sind die Nummern drin von jenen, die sie liebt und mag. Es gibt Menschen, deren Handyadressbuch ist voller. Doch Katja Werker war immer eine Außenseiterin, darin ist sie ausgebildet. „Ich führe ein anderes Leben als 99 Prozent der Frauen, die ich kenne“, wird sie später erzählen, als sie sich etwas erholt hat. Früher litt sie unter diesem Außenseitertum sehr, doch inzwischen gelingt es ihr, es umzudeuten. „Jetzt gestehe ich mir halt zu, Künstlerin zu sein“, sagt sie.

Das Gefühl des Danebenstehens ist aber immer noch da. Im neuen Song „Half of my Way“ singt sie: „The fields are so green/and they’ll always be/no matter which road/I take.“ Die unbekümmerte Welt, die dich nicht braucht: Darin besteht die dauerhafte Verletzung, die Katja Werker mit sich herumträgt. In ihrem dunkel schimmernden Songwriterpop scheint sie immer wieder auf.

Sie sitzt schmal im Ledersessel. Man spürt, wie ihre Herzfrequenz allmählich sinkt. „Einen Cocktail bitte“, sagt sie zum Kellner, „aber alkoholfrei.“

Es gibt dieses unrausrottbare Klischee vom Künstler, der seine Depressionen in Kunst verwandelt – Glück aus dem Unglück sozusagen. Doch wie das so ist mit den Klischees: Sie kommen nicht aus dem Nichts. Es sind geronnene Stereotypen von etwas, das wirklich existiert. Katja Werker wuchs im Pott auf, mitten im Malochermilieu. Ein unglückliches Kind, das sich fremd fühlte unter den anderen Kindern, das sich als Jugendliche in den Alkohol flüchtete, süchtig wurde und obdachlos. Ein Mädchen, das sich schließlich buchstäblich rettete in die Kunst.

Werker schrieb Songs, die wie offene Wunden waren. Später verfasste sie eine erschütternde Autobiografie über ihren Absturz und den seither herrschenden Kampf um die Balance. Sie schrieb immer mehr Songs über Dämonen, Ängste und Träume, und sie singt sie zu Klavier, Gitarren und Elektronika mit einem brüchigen Hauchen, das dir ins Ohr kriecht und vom Unglück flüstert – und das ist für dich das pure Glück.

Katja Werkers Songs lassen dich nicht kalt, auch wenn sie auf dem neuen Album „Dakota“ gefälliger und lauter daherkommen, auch wenn die Sonne nun zaghaft über den Horizont dieser Lieder lugt. Das ist Pop, verdammt, auch wenn es um den „Heartbreak Boulevard“ geht und darum, dass man sein Leben nicht im Laden an der Ecke kaufen kann; man muss es sich erkämpfen, Tag für Tag.

Werker weiß es wahrscheinlich nicht, aber sie ist der Traum jeder Plattenfirma. Sie tüftelt Songs aus, wie sie in Deutschland sonst niemand schreiben kann, zumindest keine Frau. Dann spielt sie die Lieder allein im Heimstudio ein, komplett mit allen Arrangements. „Den ganzen Winter über habe ich im Zimmer gesessen und daran gearbeitet, gegen all die Monster, die links und rechts auftauchten.“ Dann legt sie dem Label das Album auf den Tisch, und die braucht es nur noch zu verkaufen. Von ihrer 2000er CD „Contact myself“ gingen angeblich über 40 000 Einheiten weg – eine Sensation.

Ihr neues Album „Dakota“ ist wärmer, weicher, Werker schreit auch mal. So könnte die größte deutsche Songwriterin glatt noch zum Popstar werden. Komischerweise wäre ihr das sogar recht; sie träumt von einem Auftritt bei der Echoverleihung und hält sich für stabil genug, so was durchzustehen. „Je mehr Erfahrung ich sammle“, hat sie festgestellt, „desto weniger verzweifelt bin ich über das, was passiert. Ich verliere nicht mehr so schnell die Nerven.“

Im ersten Geschäft, das sie betreten hatte – also ganz am Ende ihrer Rückwärtstour –, fand sie schließlich ihr Handy wieder. Doch sie weiß: Bald wird sie das Telefon wieder irgendwo liegen lassen. Sie ist halt so. Damals, in Brüssel, ging gleich ihre ganze Handtasche verloren. Sie saß im Bus auf dem Weg nach England, ihrer Trauminsel, als Trickdiebe zustiegen. „Die haben genau abgecheckt, wen sie beklauen können“, erzählt sie müde. „Und ich war diejenige.“ Natürlich.

Sie könnte jetzt gut ihren alkoholfreien Cocktail gebrauchen.

In der Handtasche waren Tickets, Geld, Handy, alles. England ade, sie musste raus aus dem Bus. Sie zog den Rucksack aus dem Kofferraum und stand alleine da, mittellos und panisch. „Ich bin durch Brüssel gelaufen, habe mich durchgeschnorrt“, erzählt sie. „Ich wollte telefonieren, aber man ließ mich nicht, weil ich so runtergekommen aussah, die Haare schief.“ Wenn Katja Werker redet, schaut sie immer ein wenig erschreckt, wie aufgescheucht. Ihr Blick ist der wachsame, übervorsichtige einer Frau, der schon viel zugestoßen ist und die weiß, dass ihr jeden Moment wieder etwas zustoßen kann.

Über ihrem Ledersessel hängt das Foto einer Hamburger Gebäudeflucht. Alle Linien stürzen symmetrisch hin zur Mitte, das Bild feiert Balance und Geometrie, und darunter sitzt die emotional gerade eher asymmetrische Sängerin. Ein sehr fotogener Kontrast – doch sie will nicht fotografiert werden. „Fotos“, seufzt sie, „sind für mich ein diffiziles Thema.“ Sie schaut sich nach dem Kellner um, doch er ist nirgends zu sehen. „Ich hatte mal eine beginnende Nebenhöhlenentzündung am Ende einer anstrengenden Promotour“, erzählt sie, „und wollte eigentlich nicht fotografiert werden. Es wurde ein grottiges, fürchterliches Bild, ganz schlimm. Und die haben das groß gedruckt – eine halbe Seite in der Tageszeitung!“

Sie schließt die Augen, als könnte sie so die Erinnerung verscheuchen. Auf den offiziellen Pressefotos hat man ihre Augen zentimeterbreit mit Kajal ummalt. Wie Spiegelbilder jener Schatten, die über ihrem Leben liegen.

Der Horror von Brüssel dauerte zwei volle Tage. Und er steigerte sich: Der Rucksack, den sie gegriffen hatte, war nicht ihrer. „Als ich mich umziehen wollte, wunderte ich mich über das Fußballtrikot, die Kamera, die Flasche Wein … bis es mir allmählich dämmerte, dass es der Rucksack meines Hintermanns war. Jetzt hatte ich gar nichts mehr: keine Hose zum Wechseln, keine Unterwäsche, keine Zahnbürste, kein Geld.“

Heute hat sie wenigstens einen Song darüber: „No Ticket back“. Über dem E-Piano schwebt ihre verfremdete, vereinsamte Stimme. Es geht um die Abhängigkeit von Scheinen und Bescheinigungen, ums Verlorengehen in der Fremde. „Die Kruste der Zivilisation ist dünn“, sinniert Katja Werker, „mitten in Europa.“ Sie würde jetzt sehr gern an ihrem Cocktail nippen.

Am Ende hat sie sich in Brüssel einfach in den Bus gesetzt, wie bei einer Sitzblockade. „Ich war seit 48 Stunden wach und hatte immer noch diesen Adrenalinschub durch den Schock. Zum Fahrer habe ich gesagt: ,Entweder Sie geben mir jetzt ein Ticket nach Hause oder ich schreie!‘ Da hat er okay gesagt. Und ich bin nach Hause gefahren.“

Allmählich füllt sich die Hotelbar, das Interview geht zu Ende. Katja Werkers Cocktail ist nicht mehr gekommen.

Es ist das einzige Getränk, das die Bedienung vergessen hat.







21 Juli 2014

„Unterwegs einloggen? Geht nicht.“

Im Sommer vor 18 Jahren, also im Pleistozän des Internets, interviewte ich die amerikanische Autorin J.C. Herz. Anlass war die deutsche Ausgabe ihres Buches „Surfing on the Internet“. 

Damals, 1996, fühlte ich mich ziemlich fachkundig, schließlich hatte ich Erfahrung mit BTX und seit ungefähr drei Jahren ein Mailkonto bei dem total hippen US-Dienst CompuServe (was ist aus dem noch mal geworden?). Mit dem Internet, wie J.C. Herz es verstand – also das Kommunizieren in Newsgroups mithilfe von Ascii-Text, so eine Art prähistorisches Simsen  –, hatte ich allerdings keinerlei Erfahrung. 

Es ist lustig, dieses wenig glanzvolle, aber doch erhellende Interview heute noch mal zu lesen. Herz sagt unerhörte Sachen wie „Am College hat jeder eine Mailadresse“ oder träumt von Kabelmodems. Manches wirkt ungewollt prophetisch, anderes naiv und vieles putzig aus Sicht der Smartphoneära von heute. 

Grund genug jedenfalls, dieses höchst angestaubte Fundstück aus dem Pleistozän fast zwei Dekaden danach noch zu verbloggen – und sei es nur, um den digitalen Abgrund zu vermessen, der uns inzwischen von damals trennt. Ich habe den Text lediglich der aktuellen Rechtschreibung angepasst und dokumentiere ihn hier – erstmals! – in ungekürzter Form. 

Heutzutage schreibt Herz eher über Fitness als übers Web, ist aber natürlich sowohl auf Facebook als auch auf Twitter aktiv.

Ihr Buch „Surfen auf dem Internet“ gibt es übrigens immer noch zu kaufen. 
Bei Amazon für einen Cent.


Das Gewicht des Net

Sie ist verstruwwelt und sommersprossig. Mit 25 wirkt die New Yorker Journalistin J.C. Herz wie ein später Teenager. Dabei ist sie eine Veteranin – des Internets. „Ich habe mehr Zeit im Net verbracht, als ein menschliches Wesen sollte“, grinst sie. Und das lange vor Erfindung des WordWideWeb, als das Internet nichts weiter war als ein Ozean von Ascii-Text. Herz hat den virtuellen Wortwogen ein handfestes Buch entrungen: „Surfen auf dem Internet“. Im Netjargon und ziemlich witzig schreibt sie (Netname: „Mischief“) über Nächte am Schirm, Koffeinkatastrophen und Onlineschimpf („flamewars“). Und über schräge Vögel, die irre, romantische, einsame Sätze durch Drähte jagen. Beim Interview ist J.C. offline und physisch da – ungewöhnlich für einen Netjunkie. Dass sie ihre Onlinesucht in einer Selbsthilfegruppe – im Internet! – therapiert hat, ist aber ein Werbegag.

Matt: J.C., kannst du einloggen, wenn du unterwegs bist?
J.C. Herz: Nein, und das stört mich auch nicht sonderlich. Schlimmer ist es, wenn ich meinen Anrufbeantworter nicht abhören kann.
Matt: Wie geht es deinen Augen nach den Jahren vorm Bildschirm?
Herz: Gut. Ich trage Linsen. Aber das hat nichts mit meinen Computererfahrungen zu tun.
Matt: Wie hoch war deine letzte Telefonrechnung?
Herz: Das ist der Unterschied zwischen Deutschland und Amerika: In New York kosten zehn Stunden im Netz einen Dollar – völlig vernachlässigenswert. Deshalb entwickelt sich das Net auch in Deutschland nicht so rasch. Euer Telefonanschluss ist einfach zu teuer. Meine Telefonkosten rühren mehr von Distanzbeziehungen her als vom Internet …
Matt: Die Netsurfer, die du in deinem Buch beschreibst, sind einsam, egozentrisch, seltsam und selbstmitleidig, sie sehnen sich nach Berührungen und fliehen doch vor den Menschen …
Herz: Dass sie seltsam sind, stimmt. Ich glaube aber, dass wir uns alle durch neue Technologien fremder werden. Im Net bemitleiden sich nicht alle selbst, das ist kein generelles Phänomen. Wenn du dir den durchschnittlichen Netuser von vor zehn Jahren (also 1986; Matt) anschaust, dann war er ein weißer männlicher Computerprogrammierer. Das ist lange vorbei. Heute sind 37 Prozent aller US-User Frauen. Das Net ist eine sehr bunte Gemeinschaft geworden, und es ist sehr, sehr gefährlich, zu verallgemeinern – damit lag ich selbst schon mal daneben. Ich war in Boston zum Lunch mit einem Computerfachmann verabredet, den ich zum Thema Internet interviewen sollte. Ich dachte: Mein Gott, dieser Typ trägt bestimmt eine Glasbausteinbrille und ein T-Shirt mit Periodensystemaufdruck, hat dünnes Jesushaar und ist total widerwärtig. Mit diesem Alptraumszenario im Kopf ging ich hin – und er sah aus … göttlich! Beim Essen sagte ich kein Wort, so beschämt war ich. Unglücklicherweise war er verheiratet.
Matt: Statt 37 Prozent Frauenanteil haben wir in Deutschland knapp zehn. Woher kommt es, dass Frauen so weit hinterherhinken?
Herz: Ursprünglich war das Internet ein Experiment des US-Verteidigungsministeriums, einer Männerdomäne. Dann schlossen sich Computerwissenschaftler an – auch überwiegend Männer. Frauen kommen sehr gut zurecht, wenn sie erst mal ihre Angst vor der Technik überwunden haben – das Net hat schließlich mit Kommunikation zu tun, und darin sind Frauen gut. Sie finden es halt nicht besonders unterhaltsam, sich mit Maschinen abzugeben. Aber das Net ist keine Maschine mehr, du erreichst andere Leute damit. Seitdem das so ist, bevölkern Frauen das Internet. Deutschland hinkt in dieser Beziehung zwei Jahre hinter uns her.
Matt: Nicht eher zehn …?
Herz: Nein, ihr habt das Web, und ihr habt Leute, die Websites entwickeln.
Matt: Aber hier ist das kein Teenagermedium, wie du es in deinem Buch beschreibst. Der duchschnittliche User ist über 30, gebildet und verdient gut.
Herz: Richtig. Dass US-User so jung sind, liegt daran, dass seit den frühen 90ern Studenten sehr guten Zugang zum Net erhalten. Am College hat jeder automatisch seine E-Mail-Adresse. Und auch die Highschools sind im Internet. Außerdem fällt jungen Leuten der Umgang mit der Technik leichter als ihren Eltern.
Matt: Du zitierst die Verlegerin Lisa Palac, die sagt, das Internet würde für die 90er, was den 70ern der Vibrator war. Was glaubst du?
Matt: Ich glaube, dass Lisa sehr gut mit Worten umgehen kann – deshalb rufe ich sie ständig an und bitte sie um Statements! Nein, das Net gibt den Frauen mehr Macht. Im Net sitzen sie selbst am Steuer, was Kommunikation und das Organisieren von Informationen angeht. Und wenn du als Frau online gehst, weiß niemand, dass du eine Frau bist; deswegen kann dich auch niemand wegen deines Geschlechts diskriminieren.
Matt: Du gehörst zur ersten Generation überhaupt, die einen Teil ihrer Jugend online verbrachte. Das muß sich irgendwie aufs Sozialverhalten auswirken …
Herz: Es macht dich offener für Begegnungen. Fast überall auf der Welt ist es doch so: Du gehst zur Schule mit Leuten aus deinem Viertel. Dann gehst du aufs Gymnasium, triffst eine ganz bestimmte Sorte Leute, und genauso am Arbeitsplatz. Gesellschaften bestehen aus Schichten; man hat meistens nur Kontakt mit Leuten aus seiner Schicht. Im Net dagegen sind die Gruppen völlig vermischt – schau dir nur die Meinungen an, die vertreten sind. Du kannst also jemand treffen, dem du normalerweise nicht unbedingt auf einer Cocktailparty begegnen würdest. Und ich glaube unbedingt, dass das gut ist. Es bringt Leute aus aller Welt in Kontakt – wenn auch dabei oft nur klar wird, wie verschieden ihre Meinungen sind.
Matt: Und das birgt Suchtgefahren …?
Herz: Internetabhängigkeit gibt es schon, aber im Buch gebrauche ich das ironisch. Es ist ein Witz, und es wundert mich, wenn das die Leute nicht kapieren. Wenn ich die ganze Zeit im Net verbracht hätte, gäbe es dieses Buch nicht.
Matt: Du liebst die Anarchie des Internet. Wird dieses Archaische stark genug sein, um das Net vor der Kommerzialisierung zu schützen?
Herz: Das Web hat das Internet schon vor kommerziellen Interessen gerettet! Die Befürchtung war, große Firmen würden die Newsgroups stürmen und statt Diskussionsbeiträgen Produktangebote ablegen. Dann kam das Web mit seinen tollen Bildchen. Darüber bin ich wirklich froh, denn das Web gab der Werbeindustrie eine Anlaufstelle, und das rettete die Netkultur. Wenn dir jemand in einer Newsgroup eine Werbebotschaft zukommen lässt, hast du gar keine andere Wahl, als sie erst zu lesen, ehe du die Löschtaste drückst. Im Web ist es anders: Wenn du dich mit dem Zeug nicht abgeben willst, brauchst du das auch nicht.
Matt: Dafür gibt es nun das Problem der Langsamkeit. Man sitzt endlos herum und wartet, bis der Datentransfer abgeschlossen ist.
Herz: Absolut. Jemand hat gesagt, die Summe aller Wünsche hinsichtlich des Internet könnte man in folgendem Stoßseufzer zusammenfassen: Hätten wir nur ein breiteres Band …! Deswegen weiß ich wirklich nicht, ob das Net wirklich das Wunschmedium der Industrie ist – es ist einfach langsam. Time Warner baut wohl gerade Kabelmodems; vielleicht bringen die was. Aber wahrscheinlich kriegen wir dann einfach nur quick-time infomercials zu allen Produkten. Aber es liegt nicht nur an den Firmen. Es gibt unzählige Homepages mit Fotos von Tante Trude, Kuchenrezepten und Fotos von Schoßhündchen. Die verstopfen das Web genauso.
Matt: Das Net gibt dir die Möglichkeit, jede Identität anzunehmen. Du kannst Mann sein oder Frau, Riese oder Zwerg. Aber in Wahrheit bist du nichts – nur Worte und Emoticons. Ist das befriedigend?
Herz: Kommt drauf an. Wenn du erwartest, das Net würde deine Probleme im Bett lösen – sorry, das wird nicht klappen. Aber es ist befriedigender als Fernsehen. Es ist interessant, dass Leute das Net auf Dinge abklopfen, die sie beim Fernsehen nicht mal interessieren. Sie stellen diese Fragen immer nur technischen Entwicklungen, vor denen sie Angst haben. Ich glaube, das Net hat interessante Erkenntnisse beizusteuern, was Identität angeht: wer wir sind, Geschlechtsrollen … Ich finde es sehr interessant, wie jemand einen Charakter konstruiert, der von seiner echten Persönlichkeit abweicht. Sie gehen shoppen und probieren neue Kleider an.
Matt: Im Net wird geschrieben wie gesprochen, in deinem Buch auch. Keimt da eine neue Art Literatur?
Herz: Es wäre schrecklich, wenn man mich dafür verantwortlich machte! Das Net ist interessant, weil es weder Fisch noch Fleisch und an den Rändern zu Hause ist. Es ist ironisch, dass im Net geschrieben wird, denn es funktioniert wie eine orale Kultur. Leute, die im Internet tippen, gebrauchen Buchstaben, aber sie fühlen sich nicht als Gemeinschaft literarischer Individuen, die Briefe entwerfen. Es ist keine Gruppe Belletristen des 19. Jahrhunderts. Es sind Leute, die miteinander quatschen, und so fühlen sie sich auch. Wenn du siehst, wie Diskussionen im Net ablaufen, merkst du schnell, dass das Idiom viel eher ein gesprochenes als ein geschriebenes ist. Dass all das in Ascii-Text abläuft, finde ich ironisch. Natürlich ist das gut, weil die Leute wenigstens lesen. Ich glaube, dass seit den Comics kein anderes Medium mehr Teenager Lesen gelehrt hat. Gut, sie lesen nicht Dickens, aber sie lesen! Und sie merken’s nicht mal. Als jemand, die schreibt, finde ich das tröstlich. Ich mag Worte.
Matt: Du hast mal den Kultautor William Gibson getroffen, der das Wort Cyberspace erfunden hat. Er soll nicht mal eine E-Mail-Adresse haben.
Herz: Ich habe William Gibson gefragt, warum er nicht im Net sei. Und er sagte: „Weil ich glaube, dass sein Gewicht mich erdrücken würde.“ Ich wusste nicht, wie er das meinte. Doch als ich für mein Buch recherchiert habe, verstand ich es – denn dem Net verdankte ich einen Nervenzusammenbruch, ich konnte es nicht mehr aushalten. Wie auf einer Party, auf der dich plötzlich Platzangst überfällt. So fühlte ich mich; und ich glaube, so hat er es gemeint.
Matt: Aber wie wusste er das?
Herz: Weil er ein sehr intuitiver und hochintelligenter Mensch ist. Weißt du, wenn Gibson ins Internet ginge, wäre das die erste Szene einer hard day's night – mit all diesen verzweifelten Groupies, die ihn umdrängten …
Matt: Wie wirkt denn dein Buch auf die Leser – strömen sie ins Net?
Herz: In den E-Mails, die ich bekomme, steht zum Beispiel: „Ich hab dein Buch gelesen, mich eingeloggt und finde es toll.“ Oder: „Oh, mein Gott – das Buch erinnert mich total an mich selber!“ Solche Leute erschrecken mich …

• J.C. Herz: Surfen auf dem Internet (Rowohlt 1996, 320 S., 38 DM)

(Eine gekürzte Version dieses Interviews erschien im August 1996 in der Zeitschrift „Kultur!News“, die sich inzwischen glücklicherweise ihres Binnnenausrufezeichens entledigt hat)

13 Juni 2008

Kein Curling auf Tuvalu



Nun gut, jetzt kommt es am kommenden Montag also wirklich zum entscheidenden Duell zwischen Deutschland und Österreich.


Wer nicht bis dahin auf den Spielausgang warten möchte: Erste Hinweise ergeben sich aus einem höchst aufschlussreichen Interview, das ich unlängst mit dem furiosen deutsch-österreichischen Komikerduo Stermann & Grissemann führte. Hier ein kleiner Ausschnitt:

U_mag
: Wie können Jogis Löwen Österreichs Pandabären schlagen, mit welcher Killertaktik?
Grissemann: Das wird auch ohne Taktik klappen, garantiert.
Stermann: Österreich gibt sich sehr viel Mühe, ein netter Gastgeber zu sein. Wieso sollte die deutsche Mannschaft also gegen Österreich gewinnen - um erneut das Bild des „hässlichen Deutschen“ abzugeben? Nein. Nach der WM, wo Deutschland der Welt ein neues, positives Gesicht gezeigt hat, muss es jetzt auch auf dem Platz Taten folgen lassen. Ausscheiden nach der Vorrunde muss es heißen, sonst waren alle schönen Worte während der WM nur schöne Worte.
U_mag: Vielleicht kommen wir eh gegen die überlegene Physis der Österreicher nicht an; immerhin können sie die ganze Saison über ihre geografischen Vorteile ausspielen – Stichwort: Höhentraining. Warum geht ihnen trotzdem immer direkt nach der ersten Halbzeit die Luft aus?
Grissemann: Das liegt wohl an der grundsätzlich zerbrechlichen Physis. Der Österreicher ist Künstler, kein Sportler: blass, vornübergebeugt und asthmatisch. Siehe André Heller.
Stermann: Höhentraining? Wovon reden Sie? Wir sind der Keller Europas, hat sich das nicht bis zu Ihnen nach Hamburg rumgesprochen ...? Viele, gerade Jugendliche, wachsen in Kellern auf, in denen man kaum aufrecht stehen kann! Und in den Bergen leben kaum mehr Österreicher, sondern nur noch ostdeutsche Gastarbeiter, die als Kellner und Liftwarte zu teuer gewordene Rumänen abgelöst haben. Deshalb wird es in ein paar Jahren auch wieder gute deutsche Skifahrer geben. The circle of life.
U_mag: Sollte man das Fußballspielen in den Alpen nicht generell verbieten? Immerhin spielt man auf Tuvalu auch kein Curling.
Grissemann: Gute Idee! Ich bin immer für Verbote.
Stermann: In den Bergen gibt es ja sehr wenige Fußballplätze. Dafür aber hat die Seitenwahl zu Beginn eines Spiels eine viel größere Bedeutung: Soll man in der ersten Hälfte bergauf oder bergab spielen?
U_mag: Ein solches Verbot hätte einen weiteren Vorteil: Man könnte es aufs voralpine München ausweiten und wäre schlagartig auch den FC Bayern los.
Stermann: Verbote ändern nichts. Durch Verbote kommen die Menschen überhaupt erst auf den Geschmack. Bevor es die Zehn Gebote gab, hätte niemand im Traum daran gedacht, sich die Nachbarin unter sexuellen Gesichtspunkten anzuschauen oder Gott zu malen. Aber kaum waren die Zehn Gebote da: nix wie rüber und zur Nachbarin unter die Decke. Würde man den FC Bayern verbieten, zehn neue FC Bayerns kämen.
U_mag: Herr Stermann, angenommen, Sie (als Deutscher) dürften einen Tag die Österreicher trainieren: Mit welchen Ad-hoc-Maßnahmen wäre der größte Schaden anzurichten?
Stermann: Ich habe zu meinem 40. Geburtstag von der Republik Österreich das Geschenk bekommen, ein Jahr lang die Nationalmannschaft trainieren zu dürfen. Es war eine schöne Zeit. Ich habe das Spiel ohne Ball forciert. Wir sind viel gereist, haben diskutiert, sind ins Kino gegangen und haben mit Erwin Wurm zusammen Kunstaktionen gemacht. Alle Spieler von damals sind heute an der Universität für Angewandte Kunst als Dozenten tätig oder haben Professuren an der Kunstakademie. Bildung und ein Hang zur Schöngeisterei hat noch niemandem geschadet. Gut, wir haben in der Zeit alle Spiele hoch verloren. Aber wie! Wunderschön … Als ich Teamchef der ÖFB-Elf war, sprachen wir nie über Elfmeter, aber viel über Hexameter. Wir sprachen auch nicht über Ecken, sondern über Rhomben. Einen Elfmeter „verwandeln“ – über diese Formulierung haben wir viel diskutiert. Wir haben dann mit Illusionisten zusammen Elfmeter
„verwandelt“: in Hühner, Wurst oder Riesenschnitzel. Das war durchaus politisch gemeint.

Und so ging das noch eine ganze Weile weiter. Wer die zur Hochform auflaufenden Komiker in voller Länge erleben möchte, ist hier an der richtigen Stelle.


Foto: Udo Leitner

11 September 2007

Mein erstes und letztes Interview mit Joe Zawinul

Joe Zawinul, legendärer Wiener Jazzer und einer der bedeutendsten Musiker unserer Zeit, ist heute morgen mit 75 gestorben. Vor zwei Jahren sprach ich für die Zeitschrift kulturnews mit dem Meister aller Tastenklassen. Von Malibu aus erklärte mir Zawinul das Geheimnis seines Stils. Eine Neuauflage als Nachruf – bye, bye, Joe. 

Matt: Herr Zawinul, Sie leben im kalifornischen Malibu, also unter der Fuchtel Ihres Landsmanns Arnold Schwarzenegger. 
Zawinul: Nein, nicht wirklich. Es ist okay hier. 
Matt: Ihre Kompositionen gelten als saukompliziert. Wie biegen Sie einem Musiker eigentlich bei, dass er nicht gut genug ist – brutal oder schonend? 
Zawinul: Wenn er nicht gut genug wäre, wäre er überhaupt nicht in der Band. Jeder, der in meine Band kommt, ist gut genug. 
Matt: Muss er bei Ihnen vorspielen? 
Zawinul: Nicht in der normalen Weise. Man hört herum, man sieht Leute, wie sie auf der Bühne stehen. Es sind nicht nur die Noten allein, die wichtig sind. 
Matt: Haben Sie jemals vorgespielt? 
Zawinul: Sure. Freilich. 
Matt: Und: Sind Sie dabei mal durchgefallen? 
Zawinul: Nein. 
Matt: Der Jazz scheint in den letzten Jahrzehnten immer grooveorientierter zu werden, ihrer ja auch. 
Zawinul: Meine Musik war vom Tag 1 an immer grooveorientiert. Immer. Als ich Volksmusik gespielt habe genauso wie jetzt. Nie ein Unterschied. 
Matt: In den letzten Jahren kommen die Grooves häufig aus der Club- und Tanzmusik … 
Zawinul: In meiner Musik? 
Matt: Im Jazz allgemein. 
Zawinul: Well, I don’t know. Ich bin kein Jazzhörer. Und auch kein Musikhörer im Allgemeinen. 
Matt: Wie bitte: Sie sind kein Jazzhörer …? 
Zawinul: Nein. 
MattWas hören Sie denn dann? 
Zawinul: Überhaupt nix. 
Matt: Warum das nicht? 
Zawinul: Ich höre meine eigene Musik, während ich’s mache. Ich habe keine Zeit in meinem Gehirn dafür. Die beste Musik ist keine Musik. 
Matt: Woher kommt dann die Inspiration? Normalerweise setzt man sich doch auseinander mit anderen Künstlern. 
Zawinul: Meine Inspiration kommt vom Sound. Ich weiß, wie man einen Sound kriegt, auf allen Instrumenten. Wenn ich einen Sound habe, dann habe ich Musik. Ich brauche keine andere Inspiration, verstehen Sie? 
Matt: Haben Sie denn noch nie intensiv Musik anderer Künstler gehört? 
Zawinul: Ich habe es so viele Jahre getan – und dann an einem Tag total damit aufgehört. Und ich bin nie wieder dazu zurückgekommen. 
Matt: War das so, als ob man das Rauchen einstellt? 
Zawinul: Das war überhaupt keine schwierige Entscheidung für mich. Ich habe so viele Stücke selbst gemacht, manchmal 20 am Tag. Da blieb kein Raum mehr im Gehirn. 
Matt: Ein Stück auf ihrer neuen Platte heißt „Rooftops of Vienna“, und es klingt so übersprudelnd lebendig und hektisch, dass ich nicht gerade das beschauliche Wien vorm inneren Auge habe. 
Zawinul: Es hat keine Hektik, es ist relativ relaxt, fast wie eine Ballade. Wenn der Zuhörer hektisch ist, klingt alles hektisch. Wenn Sie sich ruhig hinsetzen, ist es eines der relaxesten Stücke überhaupt. Es ist riesig schnell und hat viel Feuer, aber im Grunde genommen ist es unheimlich relaxt. 
Matt: Wie kann das sein, wenn ein Stück so viele Beats pro Minute hat? 
Zawinul: Yeah, es kommt drauf an, welchen space man vor sich hat, verstehen Sie? 
Matt: Leider nein … 
Zawinul: Wenn ich zum Beispiel ein Flugzeug am offenen Himmel vorbeifliegen sehe, hat es eine andere Geschwindigkeit, als würde ich es vorm Fenster vorbeifliegen sehen. Dasselbe in der Musik: Wie ich phrasiere, das hat unheimlich viel space. Natürlich: Wenn man sich nur an die Taktzahl hält, hört man es schneller. 
Matt: Gut, ich werde versuchen … 
Zawinul: Brauchen’s gar net versuchen! Nur entspannt Schultern runter und an eine Ballade denken. Das Tempo ist one … two … three … four
Matt: Ein interessanter Einblick in meine Wahrnehmung des Stückes und … 
Zawinul: … in die Wahrnehmung des space im Allgemeinen! Ich wohne ja hier auf einem großen rock, und vor mir das Meer. Ich sehe nix wie das Meer. Und das ist natürlich ein riesiger space

(Foto: ESC)


02 September 2007

Keine alte Kuh

Für die Zeitschrift U_mag habe ich mich neulich mit der Frankfurter Rapperin Sabrina Setlur gestritten, während ihr Hund darauf bestand, von mir gekrault zu werden. Hier gibt’s einen kurzen Ausschnitt des Interviews mit der Kodderschnauze. Wer es komplett lesen will, muss schon an den Kiosk gehen, tja. Kostet aber nur zwei Euro. (Nein, mein Verleger hat mich NICHT zu diesem Beitrag gezwungen.)

Matt: Sabrina, ich möchte mich mit dir kabbeln.
Sabrina Setlur: Hmmhm … Dein gutes Recht.
Matt: Dein Album heißt ja auch „Rot“, immerhin die Farbe des Streits.
Setlur: Nicht nur! Rot ist auch die Farbe der Leidenschaft, der Liebe, der Intensität. Alarm, Hitze.
Matt: Kannst du dich daran erinnern, dass wir uns schon mal getroffen haben?
Setlur: Dunkel.
Matt: Das war 1997 – und eins der blödesten Interviews, die ich je hatte.
Setlur: Warum?
Matt: Du saßt wortkarg da, hast Kaugummi gekaut, MTV geguckt, und die meisten Fragen beantwortete dein Begleiter.
Setlur: Damals haben sich verschiedene Leute unheimlich verantwortlich gefühlt; daher diese Situation. Von mir war sie bestimmt nicht gewollt. Wenn ich wortkarg werden sollte, müsste ich schon eine Kieferoperation hinter mir haben.
Matt: Beim Rappen wäre das hinderlich.
Setlur: Rap hat nichts damit zu tun, wie man im Privaten redet. Ich rappe ja nicht den ganzen Tag. Ich sprech ja ganz normal mit dir.
Matt: Klingt so, ja.
Setlur: Glaub mir, ich spreche auf jeden Fall nicht in 135 bpm mit dir, wie auf dem Album.
Matt: Zumindest möchte ich darum bitten.
Setlur: Werden wir sehen. Wenn du dich artig benimmst.
Matt: Hast du die Texte deines Albums „Rot“ selber geschrieben?
Setlur: Zusammen mit Moses Pelham.
Matt: Hmm …
Setlur: Wir waren beide wirklich auf diesem Flash.
Matt: Du behandelst auf „Rot“ die klassischen Rap-Themen. Klingt alles immer noch teenagerhaft, aber du bist jetzt 33.
Setlur: Na und?
Matt: Wie lange kannst du das noch machen?
Setlur: Erstens: Das ist das Leben. Zweitens: Wie sollte sich denn eine 33-Jährige benehmen?
Matt: Sag du’s mir. Aber Partys feiern, immer wieder Beziehungen beenden …
Setlur: „Immer wieder“? Siehst du, du pauschalisierst!
Matt: … nachzutreten …
Setlur: Nee, das stimmt so nicht! Natürlich gibt es auf meiner Platte Balladen, die sich damit beschäftigen, dass eine Beziehung nicht klappt – aber ganz ruhig: Das ist überhaupt nichts Negatives! Und wenn wir von Partyliedern reden, dann geht es um das Gefühl des Zusammenseins, des Lebensbejahens – einfach der Freude. Das sind auch wieder so Klischees. Du hörst was und sagst: buff, buff, buff …!
Matt: Deswegen sprechen wir ja darüber.
Setlur: Zu dem Altersding: Mir wird immer bewusster, dass mir Leute aufdrücken wollen, ich sei eine alte Kuh – wogegen ich mich vehement wehre. Meiner Meinung nach ist man immer so alt, wie man sich fühlt.
Matt: Ein Klischee.
Setlur: Ein Klischee. Aber auch eine Gefühlsangabe.
Matt: Übrigens halte ich dich nicht für eine alte Kuh.
Setlur: Das wäre ja noch schöner!
Matt: Aber im Rap gibt es doch den Zwang, berufsjugendlich zu sein.
Setlur: Wenn das so ist, unterliege ich diesem Zwang nicht. Ich sag dir mal eins: Wenn ich mit 50 immer noch was zu sagen habe, dann wirst auch du mir nicht das Maul stopfen.
Matt: Werde ich wohl nicht schaffen.
Setlur: Nee, das schaffste nicht.
Matt: Beschreibt dich das Wort „Zicke“ eigentlich gut?
Setlur: Nein.
Matt: Hast du schon mal jemand eine runtergehauen?
Setlur: Ganz ehrlich: Ich habe immer Angst, dass ich mir mehr weh tue als dem, den ich schlage.
Matt: Was müsste ich tun, damit du mir eine langst?
Setlur: Mich körperlich angreifen.
Matt: Dann droht keine Gefahr.

07 September 2006

Natascha Kampuschs Rückkehr ins unbekannte Leben

Natascha Kampusch dachte im Augenblick der Flucht mit Sorge an ihren Entführer, der für diesen Fall mit Selbstmord gedroht hatte. Sie dachte traurig an dessen Mutter und Freunde, deren Welt sie nun einstürzen lassen würde.

Und dann sprang sie doch über den Zaun, zurück in ein Leben, das sie überhaupt noch nicht kennengelernt hatte.

Wie Millionen anderer verfolgte ich heute Abend mit Ms. Columbo das erstaunliche und fesselnde Interview mit dieser Frau, von der bislang nur Kinderfotos existierten.

Wir starrten die ganze Zeit in dieses flackernde hübsche Teenagergesicht und konnten nicht umhin, die 18-Jährige zu bewundern – dafür, nach achteinhalb Jahren, in denen sie nur mit einem einzigen Menschen sprechen durfte, nun gefasst und bestimmt zu Millionen Menschen zu sprechen, ohne sich dabei in Luft aufzulösen.

Ein Abend, der Fernsehgeschichte schreiben wird. Hier ein knapp vierminütiger Ausschnitt aus dem TV-Interview.

29 August 2006

Lemmy und die Häkeldamen

Gerade ist die neue Motörhead-Platte erschienen, und Zeitschriften, die schlau sind, haben ein Interview mit Bandboss Lemmy Kilmister (Foto) drin. Denn er ist für den wilden Rock das, was Michael Schumacher für die Formel 1 ist: eine lebende und sehr lebendige Legende. Auch ich habe Lemmy mal vorm Mikro gehabt. Das ist schon eine Weile her; der Text wurde damals in kulturnews gedruckt. Als Hommage an den größten Rocker der Welt wärme ich das alte hier noch mal auf.

Lemmy beäugt die kulturnews mit einer gewissen Skepsis. „Kultur?”, krächzt er, „if I hear kultur, I pull my gun.“ Trotz des imposanten Patronengürtels, der einen Teil seines überlappenden Bauchs stabilisiert, fühle ich den Drang, Lemmys Meinung zu korrigieren. 

„Ähm, Lemmy, sage ich vorsichtig, „du bist doch ein Teil davon … irgendwie. 

Lemmy wirft zwei Eiswürfel in seinen Jack Daniel’s, den er in einem für die Brause ungünstigen Verhältnis mit Cola verdünnt hat, und zieht an der Kippe. „Yeah“, sagt er, „irgendwie.“ 

Nach über einem Vierteljahrhundert Metalshouting für Hawkwind und Motörhead ist seine Stimme zu etwas geschrumpft, das klingt, als rutschte ein Schlitten über Sandpapier – der Preis des Ruhms. Würde man den Lemmy von heute nachmittag schockfrosten und in einem Hard Rock Café aufstellen, empörten sich die Gäste gewiss über die geballte Ladung Metalklischees, mit der das Denkmal ausstaffiert ist: aufgeknöpftes schwarzes Hemd mit hochgerollten Ärmeln, Kette mit eisernem Kreuz um den Hals, Tattoos an den Armen („Born to lose / Live to win), pferdeaugengroße Totenkopfringe an den Pranken, eine zu enge Hose mit Schlag und dazu weiße Spitzstiefeletten, die dringend geputzt werden müssten. Und immer, wenn die Lemmy-Statue weibliche Cafégäste erblickte, würde sie „silly cow röcheln. So nennt er jedenfalls (wenn sie grad nicht da ist) die Blonde von der Plattenfirma, die dafür sorgt, dass ihm Whiskey, Eis und Cola nicht ausgehen – in dieser Reihenfolge.

Ich meine: Lemmy ist wirklich böse. Er hat kirschtomatengroße Warzen im Bartgesicht! Und Zottelhaare mit eisgrauen Strähnen drin. Damals, 1975, war es seine Idee, Motörhead mit „ö” zu schreiben. Das sah irgendwie deutsch aus, und die Deutschen, Mann, sind für einen Engländer echt „mean”. 

Wir vereinbaren ein Stichwortinterview, das schont seine Kehle. Let's go, starten wir mit der Anatomie. 

Seine arme Stimme … ? „Hat sich zur Ruhe gesetzt.
Der Zustand seiner Ohren? „Ich hab genau verstanden, dass du mich das gefragt hast.

Exduopartnerin Samantha Fox (… the breast and the beast, haha): „Geschichte.

Britisches Rindfleisch? „Geschichte.

Drogen? „Naturgeschichte.

Techno? „Bald Geschichte.
 

Lemmy trinkt schnell, er raucht schnell, aber er denkt auch schnell.
Tanzen? „Ich tanze nicht. Except for the totentanz, hehehe.

Drei Dinge, die er am meisten hasst? „Politiker, organisierte Religion und – hmm – Intoleranz.

Gott? „Welchen? Gibt's einen? Ich glaube daran, dass wir unsere eigenen Entscheidungen treffen müssen. Es gibt keinen Ausweg namens Gott.

Alt zu sein? „Unvermeidlich. 

Lemmy wirft Eis nach und füllt mit Whiskey auf. Es ist 16 Uhr 11 an einem Dienstag. Wir sind in einem Hotel an der Kieler Straße, das bevölkert ist von ältlichen Frauen. Der Häkelclub Hodenhagen in der Großstadt. Und in einem der Zimmer, davon wissen die Damen nichts, sitzt Lemmy Kilmister. Der Melody Maker hält ihn für „radikal, roh, barbarisch und verrückt”. Was davon stimmt heute nicht mehr? „Nichts, seufzt Lemmy, „alles stimmt. 

Danke, das war's, sage ich. „Das war leicht, sagt Lemmy. Sein Händedruck ist sehr fest, ich fühle den Totenkopfring. Im Foyer wuseln aufgeregte Häkeldamen herum. Wahrscheinlich wollen sie heute Abend ins „Phantom der Oper.  

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Motörhead
1. „God was never on your side“
2. „Eat the rich“
3. „Stand“

 

30 Juli 2006

Post von Postel

Nach der Posse um Postel vom 25. Juli entspann sich eine kleine Mailkorrespondenz mit dem begabtesten aller Scharlatane, dem Hochstapler Gert Postel.

Diesen Schriftverkehr möchte ich dem Blogpublikum natürlich nicht vorenthalten. Schließlich werden darin weitere Heldentaten angekündigt, auf die wir uns schon freuen dürfen. Keep on going, Gert!

Der Dialog beginnt mit dem Ende meines oben erwähnten Blogeintrags, denn der Pseudopsychiater bezieht sich in seiner ersten Mail direkt darauf.

Matt: … Steckt etwa der in Marburg abgetauchte Postel selbst hinter den Anrufen und der Verfälschung von Wikipedia? Suchte er mal wieder nach einer Gelegenheit, seine Fingerfertigkeit unter Beweis zu stellen und sich anschließend ins Fäustchen zu lachen? Wenn ja, dann müsste man enttäuscht konstatieren: Der Mann hat schon größere Coups gelandet.

Postel: Danke für den schönen Artikel! Keine Sorge, die größeren Aktionen eignen sich nur nicht für eine Erörterung in der Öffentlichkeit …

Matt: Sie lernen wohl nicht dazu, was? ;-)

Postel: Ich lerne nur das nicht, was offenbar Sie zu lernen als notwendig erachten, mehr ist es nicht …

Matt: Ihre Spitzfindigkeit scheint mir eine andere Umschreibung für „nicht resozialisiert“ zu sein. Oder sogar für „nicht resozialisierbar“, was natürlich sehr schade wäre. Waren Sie das eigentlich mit der kleinen Manipulation des Wikipediaeintrags von Herrn Haußmann? Immerhin erörtern Sie ja nur die „größeren Aktionen“ nicht in der Öffentlichkeit; aber die hier war ja nun wirklich Pipifax.

Postel: Wissen Sie, mit Etikettierungen beweist man nichts als Denkfaulheit, oder, schlimmer noch, mangelnde Denkfähigkeit. Machen Sie das ruhig so: mir ist es vollkommen einerlei, ob Sie das Etikett „nicht resozialisierbar“ oder gerne auch „Sahnetorte“ verwenden. Das sagt ja gar nichts über mich aus, aber vielleicht etwas über Sie. Ich betrachte die Korrespondenz mit Ihnen als beendet. Wichtigere Dinge warten …

Matt: Gut, auf das Etikett „Gert Postel ist Sahnetorte“ können wir uns einigen. ;-) Ich wünsche Ihnen viel - ähem - Erfolg bei Ihren Unternehmungen. Und ein glücklicheres Leben.

Postel: Letzte Nachricht: Mein Leben könnte glücklicher kaum sein.

Matt: Wow … Damit haben Sie praktisch allen Menschen auf diesem Planeten etwas voraus. Wenn Sie vielleicht als letztes Geschenk an die Erdbewohner diese Glücksformel noch veröffentlichen würden? Das wäre überaus reizend, geradezu philantrophil. Ach ja: Meiner Frage nach dem Wikipediaeintrag sind Sie bisher ausgewichen, und ich möchte diese kleine Korrespondenz natürlich nicht abgeschlossen wissen, ohne Sie noch einmal danach gefragt zu haben (obgleich ich allen Grund hätte zu schmollen, schließlich haben Sie mir die Denkfähigkeit abgesprochen; aber ich bin zum Glück nicht nachtragend). Also: Wieso ist Ihnen dieser Tippfehler beim Namen „Haussmann“ unterlaufen? Eine solche Nachlässigkeit passt nicht zu Ihnen. Wo lag das Problem? Oder WOLLTEN Sie, dass man es bemerkt?

Postel: Ich bin nicht „ausgewichen“, sondern wollte gar nicht antworten. Lesen Sie heute in der taz Nordteil ne super Postel-Geschichte. ENDE.


Übrigens wurde der Haußmann-Eintrag bei Wikipedia inzwischen korrigiert.

(Foto: Eichborn)

08 Februar 2006

Der Hantelhiphopper

In meinem Fitnessclub trainiert seit neustem Smudo von den Fantastischen Vier. Vielleicht tut er das schon länger, und wir haben uns einfach nie getroffen. Smudo trainiert mit Hanteln. Seine Vorbereitungen allerdings dauern recht lange, wie ich mit nicht unbeträchtlichem Amüsement beobachten konnte. Gerade das Hantieren am mitgebrachten Player (ob MP3 oder CD-Gerät, kann ich nicht sagen) will schließlich mit höchster Sorgfalt erledigt werden.

Smudo führt sich die Musik über Kopfhörer von einer Dimension zu, die manchen Vogelarten als Nester entschieden zu groß wären. Er wirkt damit fast ein wenig wie der Osterhase. Aber es ist ja auch bald Ostern.


Mir fällt ein, wie ich mal in Smudos Küche gesessen habe. Dorthin hatte die Plattenfirma mich bestellt, weil ich einen Künstler von Smudos Label interviewen wollte, nämlich Jan Plewka. Smudo wohnt in der Weidenallee, also direkt am Rande des Schanzenviertels. Er muss sich dort fühlen wie in Feindesland – ein Stuttgarter HipHopper im Hoheitsgebiet der Hamburger Schule. Seine üppig, aber keineswegs protzig ausgestattete Altbauwohnung schien ihn jedoch problemlos darüber hinwegzutrösten, denn er wirkte stillvergnügt.

Ich saß also mit Jan Plewka in Smudos Küche. Aber nicht alleine. Smudo war auch da. Er saß am Küchentisch, vor sich einen Laptop, und hackte locker vor sich hin. Vielleicht neue Reime, die später Zehntausende in die Arenen locken würden, kann ja sein. Vielleicht aber auch nur eine Mail an den Klempner wegen der verstopften Toilette.


Das ist nur ein Beispiel; ich weiß nicht, ob Smudos Toilette verstopft war, ich habe sie nicht benutzt. Ich weiß nur, was in seinem Flur hing, außer den ganzen holzgerahmten Goldenen Schallplatten (Foto): nämlich Madonnenbilder. Und ein Jesusbildchen mit güldnem Heiligenschein. Und in seiner Küche stand auf einem Sims der Papst. Der letzte, nicht der aktuelle. Er, der Papst, wirkte jung, er breitete lächelnd die Arme aus.

Smudo behackte also unter Johannes Pauls Blick stillvergnügt seinen Laptop, lauschte mit einem Ohr auf unser Interview, und manchmal schmunzelte er lautlos in sich hinein; vielleicht notierte er ja, was wir sagten, und machte daraus Reime, wer weiß. Ich müsste mir mal alle Fanta-Vier-Verse durchlesen, vielleicht stieße ich ja verklausuliert auf diesen Tag in Smudos Küche.

Ab und zu nippte er an einem gewaltigen, geradezu schüsselartigen Becher mit Milchkaffee, der im Durchmesser an seine Fitnessstudiokopfhörer gemahnte, aber das konnte ich damals ja noch nicht wissen.

Im Studio jedenfalls trainiert Smudo nur mit Hanteln. Kein Crosstrainer, keine Dehn- oder Bauchübungen (obwohl letztere, mit Verlaub, ihm nicht schaden würden). Und wie er so rücklings daliegt auf der Bank und die Gewichte mit beiden Armen über seinen Kopf Richtung Boden führt und wieder hoch, erst diese Hantel und dann die da (oder war es die da?), da sieht er wirklich ein wenig aus wie ein verschwitzter Osterhase.

Oder so, wie ich mir meinen Freund Harvey vorstelle.


Ex cathedra: Die Top 3 meiner liebsten Gitarrenpopsongs aus den 90ern
1. „Window pane“ von The Real People
2. „Lemon afternoon“ von The Dylans
3. „Faded glamour“ von Animals That Swim