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30 November 2005

Der Verdächtige

Am Bahnhof Altona sitze ich im 37er gegenüber der mittleren Tür, lese Spiegel und warte, dass der Bus abfährt. Mein Blick fällt auf einen Mann mit Bartschatten, der vor der Tür steht, obgleich noch Plätze frei sind. Er wirkt arabisch, trägt einen dicken Parka, Handschuhe und einen Rucksack auf dem Rücken. Er blickt unstet umher, und mir wird plötzlich unwohl. Was, wenn er … Ich höre auf zu lesen und überlege, ob ich aussteigen soll. Der nächste Bus fährt in zehn Minuten, und ich bin in Eile.

Soll ich? Quatsch! Oder doch?


Wir haben eine neue Kanzlerin, die noch einen braunen Hals hat von ihrem damaligen Besuch bei Irak-Krieger Bush, mit dem sie der deutschen Regierung in den Rücken fiel. Und im Irak wurde gestern eine deutsche Staatsbürgerin entführt. Kann es nicht sein, dass wir jetzt ebenso auf der Liste stehen wie England und Spanien?


Der Mann an der Tür schaut umher. Warum setzt er sich nicht? Sein Parka beult sich, der Rucksack ist prall. Ich bin wie versteinert. Die Türen flappen zu mit einem dumpfen Zischen, und der Bus fährt los. Die wahrscheinlich lächerliche Entscheidung, auszusteigen und auf den nächsten zu warten, ist mir abgenommen worden.

Der Spiegel liegt auf meinem Schoß. Ich beobachte den Mann, der sich jetzt umdreht und durch die Türscheiben in die Dunkelheit starrt. Sein Rucksack wölbt sich mir schwarz entgegen. Der Mann hält sich mit einer Hand an der Stange fest. Sein Körper schwankt im Zusammenspiel von Gravitation und Fliehkraft.


Wann würde es passieren? An einer Ampel? Wenn der Bus die Reeperbahn hochfährt? Vielleicht an der Haltestelle Davidstraße, wo die Sünde und Verderbtheit der westlichen Welt sich verdichtet zur grandiosen Verhöhnung seines Glaubens? Oder will er zur U-Bahn, in einen Tunnel, zum Hauptbahnhof?


Die nächste Haltestelle, Altonaer Poststraße. Der Bus stoppt, die Türen zischen auf. Der Mann steigt aus. Ich sehe, dass er ein steifes Bein hat. Er hätte sich gar nicht hinsetzen können, so eng, wie die Sitzreihen aneinander gebaut sind.


Ich bin beschämt und erleichtert. Abends im bretonischen Restaurant Ti Breizh in der historischen Deichstraße esse ich einen Schoko-Marzipan-Crêpe, für den Adam jederzeit den Garten Eden verlassen hätte. Über die Ost-West-Straße huschen die Lichter der Autos; und das würden sie auch, wenn abends irgendwo in der Stadt ein Bus explodiert wäre.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Two wrongs won't make things right“ von Tarnation, „Summer dress“ von Red House Painters und „Sight of you“ von Pale Saints.


27 November 2005

Das ewige Teenie

Nena ist genau 48 Stunden jünger als ich. Als ich sie heute Abend auf der Bühne der Color Line Arena sah, schienen es mir drei Jahrzehnte.

Sie spielte das ewige Teenie. Graue Glitzerleggings, darüber ein fein funkelndes helles Minikleidchen, das zur Gänze sichtbar wurde, als sie ihr schwarzes Discolacklederjäckchen auszog. Das war beim dritten Stück, der unschuldig süßen Teenie-Anmache „Willst du mit mir gehn?“.

Ich bin zu alt für Nena, die nur 48 Stunden jünger ist als ich. Aber auch sie ist zu alt für diese Nena dort oben auf der Bühne der Color Line Arena.

Wir verlassen die Halle als erste. Draußen Ödnis. Eine Schlange gelangweilter Taxis steht herum. Einige Meter entfernt die pausierenden Shuttle-Busse, die stets die Arenamassen aus der Abgelegenheit Stellingens zurückkarren zur nächsten S-Bahn-Station, wo die Zivilisation andockt.

Ein Bus kommt, als wir uns an der sonst menschenleeren Haltestelle zeigen. Er fährt uns zur S-Bahn, uns ganz alleine. Ein elitäres Gefühl. Ich nehme mir vor, Jess Jochimsens Buch „ Flaschendrehen oder: Der Tag an dem ich Nena zersägte" zu lesen. Kriegt gute Kritiken, das Buch.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Vote Beeblebrox“ von Andy Dunlop & Neil Hannon, „Faded glamour“ von Animals That Swim und „Finding you“ von den Go-Betweens.


11 November 2005

Die Lautstarken

Im 37er Bus. Sitze neben einem hageren älteren Herrn offenbar kleinasiatischer Herkunft, der mir mit seinem grobleinenen Anzug und einer dem Modegeschmack der 50er Jahre schmeichelnden Mütze recht wenig urban wirkt. Indes klingelt es plötzlich ganz modern in seiner unmittelbaren Nähe, ja geradezu aus ihm heraus.

Er zückt fix ein grellrotes Teenie-Handy von Nokia, in das er nach einem kurzen Moment der Vergewisserung, wer denn da am anderen Ende ein Gesprächsbedürnis hat, hineinzusprechen beginnt – genau gesagt: Er BRÜLLT.


Der gute Mann scheint mit den technischen Fähigkeiten eines Mobiltelefons nicht zur Gänze vertraut zu sein. Denn ich – und wohl auch der Rest der Fahrgäste, wie man an den erschreckt sich drehenden Köpfen ablesen kann – habe das Gefühl, er will die Distanz zum Anrufer komplett mit der physischen Kraft seiner Lungen und Stimmbänder überbrücken. Und, meine Damen und Herren, es ist kein Ortsgespräch.


Eine unbekümmert lautstarke Präsenz in der Öffentlichkeit scheint mir unter Mitbürgern nichtdeutscher Genese viel verbreiteter zu sein als – sagen wir – unter Ur-Övelgönnern oder den Fischern aus der Flens-Werbung. Zum Beispiel ein Nachbar von uns: Er ist sichtbar afrikanischer Herkunft und neigt dazu, frühmorgens gegen 5 bei grundsätzlich offenem Fenster hochinteressante Telefonate mit Daressalam o. ä. zu führen – mit einer Stimme, für die Screamin' Jay Hawkins seine Mutter verkauft hätte.


Seine selbst durch unser isolierverglastes Schlafzimmerfenster praktisch ungefiltert dringende Suada scheint stets aus Beschimpfungen, Schmähreden und Wutausbrüchen zu bestehen und wird explosiv hervorgestoßen mit dem souveränen Selbstvertrauen desjenigen, der sich klar im Recht wähnt. Vielleicht ist das aber auch der ganz normale Tonfall, in dem er gewöhnlich zum Geburtstag gratuliert oder Bankverbindungen durchgibt.


Wie auch immer: Ganz St. Pauli erfährt davon, morgens um 5. Sonst ist das aber eine sehr ruhige Familie.


Die heute erwähnten Mitbürger habe ich (natürlich) nicht fotografiert. Dafür aber eine renovierungsbedürftige Fassade in der Beckers Passage. Ein paar Häuser weiter werde ich gleich Andreas abholen, um mit ihm im El Dorado noch einen zu heben. Cheerio.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Lust for life“ von Iggy Pop, „Outsiders“ von Franz Ferdinand und „Helden/Heroes“ von Six By Seven.