17 Oktober 2015

Bedingungslos lydonsfähig



Gestern Abend traf ich erstmals den Mann, der mir mit 17 das Leben gerettet hat. Na gut, er hat es mir damals zumindest enorm erleichtert. Und ich traf ihn auch nicht persönlich, sondern befand mich nur mit ihm in einem Raum, gemeinsam mit ein paar Hundert anderen. Aber immerhin.

Verdammt, ich war am selben Ort auf diesem Planeten mit JOHNNY ROTTEN!

Seit dem Ende der Sex Pistols heißt er wieder bürgerlich John Lydon, aber was macht das schon? Für mich wird Johnny immer Rotten bleiben – also der Mann, der mir einst das Leben rettete. Na gut, fast.

Damals war ich ein Teenager vom Dorf, der nach der Mittleren Reife unter Fremdeinfluss (Eltern!) den Fehler seines Lebens begangen und eine Lehre bei der Sparkasse angefangen hatte. Morgens um 8 musste ich antanzen, in Anzug und Krawatte, das war schon schlimm genug für einen 17-Jährigen, dessen Freunde sich gerade die Haare wachsen ließen. Und dann noch die Verarsche durch ein sadistisches Kollegenensemble – wie man’s halt so macht mit Azubis vom Dorf.

Nachmittags kam ich fertig nach Hause und schob den Rest des Abends Horror vorm nächsten Tag. Bis diese Platte erschien: „Never mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols“. Ich hatte in der damals coolsten Musikpostille Sounds die Kritik gelesen und rannte bei nächster Gelegenheit in den Plattenladen. Shit, die LP war jeden Pfennig des Azubigehaltes wert!

Der Sänger, ein (wie ich aus der Sounds wusste) dürrer Typ mit irre aufgerissenen Augen und einem Grinsen von triefender Verachtung, kreischte hysterisch, dazu verprügelte irgendjemand Saiteninstrumente und Drums, alles explodierte …

Diese hyperventilierenden Schreihälse aus England taten also genau das Gegenteil von dem, was ich tagtäglich tat. Was ich tagtäglich tun musste. Ihre Hemmungslosigkeit lag exakt am unerreichbaren anderen Ende der Skala meiner sparkassenbedingt immens eingeschränkten Handlungsoptionen. „Never mind the Bollocks“ war eine radikale Utopie. Aber eine greifbare: Sie kreiste mit 33,33 Umdrehungen auf dem Plattenteller und veränderte die Welt.

Ich liebte diese Platte. Abends hieß es: Schlips in die Ecke und „Holidays in the Sun“ auf Lautstärkelevel 10. „No feelings“ bis zum Kollaps. Stress relief vom Allerlautesten. Die Wände meines Jungszimmers wackelten unter der Urgewalt der Sex Pistols, das ganze Haus vibrierte.

„God save the Queen“, geiferte Johnny höhnisch, „she ain’t no human being“, und diese Einschätzung schien mir auch eine außergewöhnlich treffsichere Beschreibung meines Filialleiters zu sein.

Bis plötzlich alles erstarb.
Meine Mutter hatte oben die Sicherung rausgedreht.
Fuck!

Später halfen mir auch Nick Drake und Joy Division durch die alles überwölbende Tristesse der Sparkassenjahre, doch die kathartische Kraft von „Never mind the Bollocks“ blieb unerreicht. Johnny Rotten, diese an beiden Enden brennende menschliche Fackel der entfesselten Aggression, war die monumentgewordene Antithese. Das habe ich ihm nie vergessen. 

Und gestern, Jahrzehnte später, war ich erstmals in meinem Leben mit ihm in einem Raum. Er spielte mit seiner Band PiL im Berliner Columbia Theater. John Lydon trug ein schwarzes Kurzarmhemd und wirkte darin ziemlich stämmig. Statt hysterisch zu kreischen, verfeinert er inzwischen eine selbst entwickelte Technik des Jaulens und Heulens.

Manchmal hob John wie segnend die Arme (die Karikatur eines Papstes des Punk!), und manchmal musste er die Brille (!) abnehmen, um die auf einem Stehpult parat liegenden Songtexte lesen zu können. Auch an ihm, dem Helden meines Jungszimmers, sind die Jahre eben nicht spurlos vorübergegangen. Noch etwas, was uns beide verbindet – und was mich, wenn Sie mir diesen Kalauer verzeihen, weiterhin bedingungslos lydonsfähig macht.

Neben mir stand eine junge Asiatin mit streichholzdünnen Beinen, vielleicht 18 oder 19, und als John „This is not a love song“ jaulte und heulte, sang sie jede Silbe mit. Das trieb mir endgültig die Tränen in die Augen. Na ja, fast.

Wenn Sie das lesen und gerade die Mittlere Reife in der Tasche haben: Bitte hängen Sie das Abi hinten dran. Studieren Sie. Aber machen Sie unter keinen Umständen eine Sparkassenlehre! 

Denn keiner kann Ihnen garantieren, dass wieder zufällig ein Johnny Rotten zur Hand ist, um Sie mit einer einzigen Platte aus den Händen jener zu befreien, die keine menschlichen Wesen sind.




26 September 2015

Fundstücke (206)


„Sonst“, bemerkt Ms. Columbo ganz richtig, „sieht man so etwas nur in Mafiafilmen. Dann liegt das Gesicht allerdings in einem Teller Spaghetti.“

Das war hier allerdings nicht ganz der Fall. Woher sollte im ICE zwischen Hamburg und Koblenz auch ein Teller Spaghetti kommen?

Die Dame wachte übrigens trotz bedrohlich eingeschränkter Frischluftzufuhr irgendwann wieder auf.

Aber da hatte ich mein klammheimliches Bild schon im Kasten.

24 September 2015

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (98): Messehalle B7


Zwar strahlt die Messehalle B7 in ihrer schieren Größe und Höhe grundsätzlich eine typisch messehallenmäßige Kühle und Unbehaustheit aus, doch das gerade dort stattfindende selbstorganisierte Gewusel macht sie zur momentan gemütlichsten Ecke des Viertels.

Vor B7 landen Unmengen von Spenden für die Flüchtlinge an (sogar Betten???), drinnen werden sie sortiert, verteilt und schließlich ausgegeben. 
Helfende Hände sind stets willkommen, auch stundenweise, man kommt und geht völlig unbürokratisch, aber auf eigenes Risiko – das ist ja kein echter Arbeitsplatz, sondern nur ein freiwilliger.

Ich will nicht behaupten, dass diese Sachgebiete für alle Zeiten zu meinen Fachgebieten gehören werden, doch ich weiß inzwischen ziemlich viel über Damenjacken und Kinderschuhgrößen. 

Schauen Sie doch auch mal vorbei. Sie werden nirgends nettere Menschen treffen.



20 September 2015

Abgespritzt und abgehauen

Selbstverständlich hat jeder Mensch ein Recht auf Rausch. Körperchemie ist ohne jede Frage Privatsache. 

Und das gilt auch für den Junkie, der sich vergangene Nacht in unserem Hauseingang einen Schuss setzte.

Wofür mir allerdings weitgehend das Verständnis fehlt, ist das anscheinend schlagartig nach dem Abdrücken einsetzende Desinteresse des Protagonisten für seine Utensilien.

Warum lässt man eine blutige Spritze in einem fremden Hauseingang liegen? Zehn Meter weiter ist ein Mülleimer. Für diesen kurzen Gang hätte das Verantwortungsbewusstsein selbst eines halbwegs zivilisierten Junkies des 21. Jahrhunderts eigentlich ausreichen müssen.

Stattdessen ging er (Verzeihung, wenn ich die weibliche Hälfte der Bevölkerung hier sprachlich diskriminiere) das Risiko ein, dass jemand hineintritt, ein Hund sich dran die Schnauze piekst oder ein Kind damit herumspielt.

Liebe Hamburger Entsorgungsbetriebe: Im oben erwähnten Mülleimer liegt jetzt eine benutzte Spritze unbekannter mikrobiologischer Provenienz, und ich bin dafür verantwortlich.

Bitte seien Sie vorsichtig.