In St. Pauli (Symbolbild) liegen die Nerven blank. Dafür sprechen zwei Vorfälle innerhalb eines Tages.
Vorfall 1, morgens kurz vor neun: Draußen schreit eine Frau. Sie steht unten vor der Postfiliale in der Fahrertür ihres Mittelklassewagens, mutmaßlich eines VW Golf, und ihr Geschrei gilt einem älteren Radfahrer mit Strohhut in Begleitung eines ebenfalls mit Fahrrad versorgten Kindes, der neben ihrem Auto steht.
„Warum schlägst du mein Auto?“, schreit sie den Mann an. Der verweigert die Aussage und fährt lieber weiter, ebenso das Kind. Inzwischen hat ein weiterer Wagen angehalten, und dessen Fahrerin klagt die Empörte nun ihr Leid. „Der hat mein Auto geschlagen!“, ruft sie, „voll auf die Scheibe!“
Aus der Balkonperspektive wirkt das Glas indes unversehrt. Natürlich ist es eine Verletzung der sozialen Distanz, ja geradezu der Intimsphäre, gegenüber einem Wagen handgreiflich zu werden, doch in meiner Welt ist so was besser, als die Hand gegenüber der Fahrerin selbst zu erheben.
Die Ursache von all dem bleibt im Dunkeln. Doch die Empörung dieser Frau über eine Hand auf ihrer Scheibe, die Vehemenz, mit der sie den halben Kiez zusammenschreit, und die Ungerührtheit, mit der der Strohhutträger samt Kind den Schauplatz verlässt: All das hat sich mir eingeprägt, wenngleich nicht so tief, dass ich mich – sagen wir – zu Weihnachten noch daran erinnern könnte. Deshalb schreibe ich es hier auch auf. Ebenso wie Vorfall 2.
Vorfall 2, nachmittags, kurz nach drei: An der Kreuzung Glacischaussee/Feldstraße warte ich am Fahrradweg auf die Grünphase. Gegenüber tut dasselbe ein junger Mann Marke Punk: spidderige Gestalt, schwarzes Motto-T-Shirt mit einem Spruch, den ich nicht lesen kann, Kopfhörer auf. Zwischen uns rollt ein Wagen zentimeterweise Richtung Kreuzung, der Fahrer scheint ungeduldig ob der allzu langen Rotphase.
Als wir Grün kriegen, fährt der Punk los und wird fuchtig. Er radelt sehr nah an der Kühlerhaube des zu weit vorgerollten Wagens vorbei und keift dabei den Fahrer an: „Bleib ma hinter der Linie stehen, du Hurensohn, ey!“
Dieser Satz in dieser Situation überrascht auf gleich mehreren Ebenen. Zum einen erstaunt die sich unvermittelt Bahn brechende bürgerliche Attitüde dieses Burschen. Irgendetwas sagt mir, dass er sonst in seinem Alltag eher mal Fünfe gerade sein lässt, als vor jeder seiner Handlungen erst mal sorgsam deutsche Gesetzestexte zu memorieren. Aber hier lässt er plötzlich den StVO-Kapo raushängen. Überraschend, wie gesagt.
Und dann auch noch dieses altbackene „Hurensohn“. Ich meine: Wie kann man als jemand, der outfitoptisch einen alternativen Lebensstil nahelegt, Prostituiertenkinder dissen, und das auch noch auf St. Pauli? Das ist Sexworkshaming, du Honk!
Was mich an beiden Vorfällen aber am meisten irritiert, ist die Eskalationsbereitschaft aus dem Nichts. Wenn schon in solchen harmlosen Alltagsmomenten sonisch und semantisch die ganz große Keule ausgepackt wird, was tun diese Menschen dann, wenn sie mal wirklich einen Grund zum Ärgern haben – den anderen mit einer Kettensäge filetieren?
Auf St. Pauli liegen jedenfalls die Nerven blank. Durch so was leider auch meine. Man reiche mir die Kettensäge.