29 August 2017

Auf dem Kiez wird eskaliert


In St. Pauli (Symbolbild) liegen die Nerven blank. Dafür sprechen zwei Vorfälle innerhalb eines Tages. 

Vorfall 1, morgens kurz vor neun: Draußen schreit eine Frau. Sie steht unten vor der Postfiliale in der Fahrertür ihres Mittelklassewagens, mutmaßlich eines VW Golf, und ihr Geschrei gilt einem älteren Radfahrer mit Strohhut in Begleitung eines ebenfalls mit Fahrrad versorgten Kindes, der neben ihrem Auto steht. 

„Warum schlägst du mein Auto?“, schreit sie den Mann an. Der verweigert die Aussage und fährt lieber weiter, ebenso das Kind. Inzwischen hat ein weiterer Wagen angehalten, und dessen Fahrerin klagt die Empörte nun ihr Leid. „Der hat mein Auto geschlagen!“, ruft sie, „voll auf die Scheibe!“

Aus der Balkonperspektive wirkt das Glas indes unversehrt. Natürlich ist es eine Verletzung der sozialen Distanz, ja geradezu der Intimsphäre, gegenüber einem Wagen handgreiflich zu werden, doch in meiner Welt ist so was besser, als die Hand gegenüber der Fahrerin selbst zu erheben. 

Die Ursache von all dem bleibt im Dunkeln. Doch die Empörung dieser Frau über eine Hand auf ihrer Scheibe, die Vehemenz, mit der sie den halben Kiez zusammenschreit, und die Ungerührtheit, mit der der Strohhutträger samt Kind den Schauplatz verlässt: All das hat sich mir eingeprägt, wenngleich nicht so tief, dass ich mich – sagen wir – zu Weihnachten noch daran erinnern könnte. Deshalb schreibe ich es hier auch auf. Ebenso wie Vorfall 2. 

Vorfall 2, nachmittags, kurz nach drei: An der Kreuzung Glacischaussee/Feldstraße warte ich am Fahrradweg auf die Grünphase. Gegenüber tut dasselbe ein junger Mann Marke Punk: spidderige Gestalt, schwarzes Motto-T-Shirt mit einem Spruch, den ich nicht lesen kann, Kopfhörer auf. Zwischen uns rollt ein Wagen zentimeterweise Richtung Kreuzung, der Fahrer scheint ungeduldig ob der allzu langen Rotphase.

Als wir Grün kriegen, fährt der Punk los und wird fuchtig. Er radelt sehr nah an der Kühlerhaube des zu weit vorgerollten Wagens vorbei und keift dabei den Fahrer an: „Bleib ma hinter der Linie stehen, du Hurensohn, ey!“

Dieser Satz in dieser Situation überrascht auf gleich mehreren Ebenen. Zum einen erstaunt die sich unvermittelt Bahn brechende bürgerliche Attitüde dieses Burschen. Irgendetwas sagt mir, dass er sonst in seinem Alltag eher mal Fünfe gerade sein lässt, als vor jeder seiner Handlungen erst mal sorgsam deutsche Gesetzestexte zu memorieren. Aber hier lässt er plötzlich den StVO-Kapo raushängen. Überraschend, wie gesagt.

Und dann auch noch dieses altbackene „Hurensohn“. Ich meine: Wie kann man als jemand, der outfitoptisch einen alternativen Lebensstil nahelegt, Prostituiertenkinder dissen, und das auch noch auf St. Pauli? Das ist Sexworkshaming, du Honk!

Was mich an beiden Vorfällen aber am meisten irritiert, ist die Eskalationsbereitschaft aus dem Nichts. Wenn schon in solchen harmlosen Alltagsmomenten sonisch und semantisch die ganz große Keule ausgepackt wird, was tun diese Menschen dann, wenn sie mal wirklich einen Grund zum Ärgern haben – den anderen mit einer Kettensäge filetieren?

Auf St. Pauli liegen jedenfalls die Nerven blank. Durch so was leider auch meine. Man reiche mir die Kettensäge.



27 August 2017

Mal kein Dreck unter den Fingernägeln

Auf dem Spielbudenplatz ist Winzerfest, ganz St. Pauli umlagert die Stände, trinkt und swingt und fühlt sich super. Wir auch. 

Am Stand des Weinguts Edelhof Minges aus dem pfälzischen Kirrweiler nippen wir an der sehr, sehr trinkbaren Weißburgunderspätlese. Dafür nehmen sie hier pro Schoppen sechs Tacken, was auf der Onlineseite des Weinguts die ganze Flasche kostet, aber so ist das nun mal. Sie haben ja auch immense Kosten zu stemmen zwischen Kirrweiler und Kiezwinzerfest. 

Neben uns lehnt ein junges Paar Anfang 20 am Tresen von Edelhof Minges. Er interpretiert miit seinem Outfit unverkrampft die Hippieära: nackenlange Locken, Fünftagebart, ein weißes, luftiges, über der Shorts getragenes Leinenhemd mit hochgeschlagenen Ärmeln, dazu Turnschuhe. 

Sie wirkt ein wenig wie eine Businessfrau im Freizeitmodus: Bubikopf, lange Kunstwimpern, grauer Wollpulli über wadenlangen Leggins; dazu ebenfalls Turnschuhe. 

Während wir also an der Weißburgunderspätlese nippen, sagt er unvermittelt jenen Satz, ohne den dieser Blogeintrag jetzt hier nicht stünde. 

„Du bist das erste Mädchen beziehungsweise die erste Frau“, kriegt er nämlich mit leicht verlegenem Lächeln gerade noch so die Gendersprechkurve, „für die ich mir je die Fingernägel gesäubert habe.“ (Hervorhebung von mir.)

Ein Geständnis, das zwar einen bestürzenden Blick in seine generellen Vorstellungen von Körperhygiene erlaubt, seine Begleitung aber gleichwohl zu hingerissenem Giggeln animiert. Hier hat jemand offensichtlich den richtigen Ton getroffen. 

Der Ausblick auf gewisse Details des eventuell bevorstehenden Beziehungsalltags ist zwar aus meiner Sicht ein eher trüber, doch so weit scheint der schwer geschmeichelte Bubikopf hier, im Lampionschummer einer weinseligen Kiezsommernacht, nicht zu denken. 

Ich prophezeihe dieser Liaison ewige Dauer, vielleicht sogar mehr als drei Monate. 

Das St.-Pauli-Winzerfest auf dem Spielbudenplatz endet übrigens heute – für den Fall, dass Sie sich auf die Suche nach noch nie gehörten Killerkomplimenten begeben und diese von überteuerten, aber schmackhaften Spätlesen flankiert sehen möchten.


 

26 August 2017

Pareidolie (123)

Wenn ich schon so viel gehört und gesehen hätte wie dieser Konferenztisch – tja, dann würde ich wahrscheinlich auch so gucken.


19 August 2017

„Wir sind hier nicht beim Hallenhalma“

Fein, endlich ist wieder Fußballbundesliga! Neben rasantem Ballsport wird es nach den Spielen allerdings auch wieder die üblichen Interviews geben, bei denen Trainer und Kicker ihre in PR-Seminaren auswendig gelernten Sprüche runterleiern. Bekannt und gefürchtet ist dieser Stil als „Lahmsprech“. 

Die Herausforderung für uns, denen man dieses inhaltsarme Deppengedengel aus der Semantikvorhölle zumutet, besteht nun eine weitere Saison lang darin, aus dem automatisch Dahergesagten das wirklich Gemeinte herauszufiltern. 

Hier folgen daher einige Handreichungen, um wenigstens ein paar der windelweichsten Floskeln dieser Aufsagroboter in kurzen Hosen dechiffrieren zu können.

  1. Der Spieler sagt: „Ein Riesenkompliment an die ganze Mannschaft.“
    Was er damit sagen will: „Trotz der Rumpelfüßler um mich rum hab ich zwei geile Buden gemacht – und es wären mindestens vier geworden, wenn diese heillos überbezahlten Vollhorste mehr könnten als nur rammdösig geradeaus laufen.“
  1. Der Trainer sagt: „Der Knackpunkt war die Rote Karte.“
    Was er damit sagen will: „Wenn der Horsti nicht mal in der Lage ist, seinen Gegenspieler hinterm Rücken des Schiri amtlich ins Spital zu grätschen, dann kammer halt nicht gewinnen. Isso.“
  1. Der Trainer sagt: „Wenn unser Neuner den macht, ist das Spiel gelaufen.“
    Was er damit sagen will: „Wieso unser taubblinder Spodi diese Flasche leer überteuert von einem slowenischen Zweitligisten losgeeist hat, weiß wahrscheinlich nicht mal Didi Beiersdorfer.“
  1. Der Spieler sagt: „Dass ich das Tor gemacht habe, ist völlig zweitrangig. Wir haben alle gemeinsam gewonnen.“
    Was er damit sagen will: „Hoffentlich hat Kloppo die Übertragung gesehen.“
  1. Der Trainer sagt: „Zum Schiedsrichter äußere ich mich nicht.“
    Was er damit sagen will: „Ich weiß, wo seine Karre steht. Und wie gut sie brennt.“
  1. Der Spieler sagt: „Nach dem null zwo war bei uns die Luft raus.“
    Was er damit sagen will: „Ich kriege pro Woche 100.000 Tacken, und mein Vertrag läuft noch drei Jahre. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“
  1. Der Trainer sagt: „Gegen so einen Gegner musst du über den Kampf ins Spiel finden.“
    Was er  damit sagen will: „Meine von einem Speditionsmilliardär zusammengestückelte Gurkentruppe hat die Technik eines Spülkastens – und leider auch Calli Calmunds Laufbereitschaft.“
  1. Der Spieler sagt: „Wir sind hier nicht beim Hallenhalma.“
    Was er  damit sagen will: „Wegen dem bisschen Schultereckgelenkssprengung soll die Pussy sich mal nicht so anstellen. Er lebt doch noch, oder? Also.“

Soweit ein erster (natürlich untauglicher) Versuch, den gleichgeschalteten Verbaldefensivkünstlern die Masken von der Diplomatenfresse zu reißen. Was ziemlich schwer ist, denn gegen tiefstehende Gegner ist es nie leicht. 

Aber wenn wir kompakt stehen und ihre Räume eng machen, dann Gnade ihnen Kahn!



                                                                                

15 August 2017

The walking dead

John Lennon hielt einst die Beatles für größer als Jesus. Allerdings hatte er einen übersehen: den größten Star aller Zeiten. Vor 40 Jahren starb Elvis Presley. Doch er könnte kaum präsenter sein.


Da steht er, im weißen Glitzer der späten Jahre. Der Kragen ist riesig, scheint zu wachsen und bald zu einem großen wehenden Weiß zu werden, das ihn umfließen wird wie Supermans Cape oder wie die Flügel für die Himmelfahrt. Eine Elvis-Fantasie. 

Viele begegnen ihm auch real. Immer wieder Sichtungen – in einem McDonald’s in Oklahoma, einer Bar in Tel Aviv (die er selbst betreibt), auf einem Kneipenklo in Nürnberg, als Tramper am Berliner Ring. 

Jeden Tag sieht ihn irgendwer irgendwo. Er sieht gut aus für einen, der seit 40 Jahren tot ist, und meist hat er einen Sinnspruch parat und ein trauriges Lächeln, ehe er verschwindet wie ein Windhauch.

Elvis Presley, ein Lastwagenfahrer aus East Tupelo in Mississippi, ist der einzige globale Geist, den Amerika je hervorgebracht hat. 

Er ist immer noch derart übergroß, dass man glauben könnte, er habe nie existiert, sondern sei eine Kunstfigur, ein früher Avatar. Es ist, als habe sich die Verehrung der Massen, die Analyselust der Kulturwissenschaftler und die Bedeutung, die Elvis gewann für jeden Aspekt des kulturellen Amerika und der Popkultur schlechthin, als habe sich all das zu einer großen festen Masse verdichtet, die ihn einerseits hinaufhob wie ein Gebirge, das sich auftürmt durch die Gewalt der kollidierenden Erdplatten, und ihn andererseits auf dem Gipfel einschloss in einen Kokon, der am Ende immer mehr einer Gummizelle ähnelte.

Presleys Bedeutung liegt nicht nur an seinem Erfolg, essenziell ist auch sein Untergang. Elvis’ Leben und Sterben – es steht für Größe und Tragik, für die seither zum Klischee geronnene Erkenntnis, dass es verdammt einsam ist dort oben, es steht fürs Umschwirrtsein von geldgeilem Geschmeiß, für vollkommenes Verlorensein inmitten grenzenloser Umsorgtheit.

Die ganze Dimension des Pop steckt in diesem Leben und Sterben, und es war von geradezu lächerlicher Logik, als Michael Jackson, entrückter Herrscher von Neverland, Lisa Marie Presley heiratete, die Tochter des Kings von Graceland. Ein Fest für Freudianer.

Elvis Aaron Presley, dieser Fernfahrer aus East Tupelo, war bei den Sun Studios vorbeigefahren, um schnell eine private Single für seine Mutter zu besingen. Und danach musste er den Himmel durchschreiten und die Hölle hintendrein, und wer kann schon sagen, ob das eine schwerer war als das andere.

Jedenfalls musste er da durch, ganz allein und als Erster überhaupt – für uns alle, für das ganze 20. Jahrhundert. Seine Mission ging tödlich aus und verschaffte ihm und uns doch etwas schrecklich Kostbares: die säkulare Version des ewigen Lebens.

Gestern hat ihn wieder jemand gesehen, in einem Schuhladen in Hull. Es war mittags, Elvis fragte nach blauen Wildlederschuhen. Dann lächelte er ein trauriges Lächeln und verschwand wie ein Windhauch.


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07 August 2017

Männer sind seltsam

Vor einigen Wochen sah ich in der Umkleidekabine meines Fitnessclubs einen Mann, der sich vorm Spiegel minutenlang dabei beobachtete, wie er sich versonnen das Schamhaar fönte. 

Heute stand dort einer (womöglich derselbe) in Unterhose, der mit Hilfe desselben Spiegels ein Ganzkörperselfie herstellte. 

Sind Männer seltsam? Ja, das sind sie. Dafür gibt es auch außerhalb meines Fitnessstudios Beispiele sonder Zahl; ja, dafür muss ich nicht mal den Blick über das Bestiarium der Seltsamkeiten, St. Pauli, schweifen lassen.

Vergangene Woche während meiner Mittagspause, die ich stets auf einer Bank an der Außenalster mit dem Verzehr von Käsebroten und Tomaten verbringe – was einige von Ihnen sicherlich ebenfalls recht seltsam finden dürften –, beobachtete ich einen Alsterdampfer auf Rundfahrt. 

Die Karten für dieses Vergnügen sind nicht ganz billig; gleichwohl stand an der Reling ein Mann mit gesenktem Kopf, der die ganze Zeit, während er sich samt Dampfer in meinem Sichtfeld befand, auf sein Smartphone starrte und nicht ein einziges Mal auf den Liebreiz der Alsterumgebung. 

Das hätte er, mit Verlaub, auch zu Hause auf dem Klo haben können. Sogar kostenlos.

Auf einer der besagten Alsterbänke, die mir allmittäglich einen Sitzplatz zur Verfügung stellen, ist übrigens bereits seit dem vergangenen Jahr ein Meinungsstreit konserviert. Das Liebesherz von Max und Johann wurde um die Forderung „LEGALIZE GAY!“ ergänzt (wobei das Gaysein gar nicht verboten ist, aber darum geht es jetzt nicht), was jemand, der zufällig einen schwarzen Filzstift dabeihatte, zu der Reaktion „Scheiß Homos!“ bewog.

Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich dabei um einen Mann. Einen sehr seltsamen.

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24 Juli 2017

Die Falle der Mönche

Selbstverständlich sollte man im mittelalterlichen Brügge unbedingt das Biermuseum besuchen, gerne auch am hellichten Nachmittag. Allerdings sollten Sie, die Sie dies beim nächsten Brüggebesuch erwägen, eines wissen: Zum krönenden Abschluss werden drei Biersorten zum Verkosten gereicht. 

Ich nahm naiverweise an, es handele sich dabei um schnapsglaskleine Probierportiönchen, doch der belgische Zapfmann schenkte forsch aus; das tendierte alles deutlich in Richtung Kölschgröße. Dreimal nullzwo, das sind ja schon nullsechs. Wie gesagt, am hellichten Nachmittag. 

Auch das wäre noch kein Problem gewesen, das man als gestandener Hanseat nicht bewältigen könnte, hätte sich unter den Verkostungsproben nicht eine befunden, die auf den Namen La Trappe Quadrupel hörte.

Dass bereits der Name dieses Getränks an das englische Wort für Falle gemahnt, hätte bei uns sofort sämtliche Alarmglocken schrillen lassen müssen. Was bei uns arglosen Hamburger Hascherln allerdings nicht geschah.

Dieses Bier also, das La Trappe Quadrupel, wird von Zisterziensermönchen gebraut, die umgangssprachlich auch Trappisten genannt werden, und wenn man schon unbedingt nach einer Existenzberechtigung für das Christentum suchen möchte, dann liefert dieses Getränk das bislang überzeugendste mir vorliegende Argument.

Denn es ist verdammt noch mal das beste Bier, das ich in meinem ganzen Leben getrunken habe. Allerdings bedauerlicherweise auch das stärkste. 

Mit gewaltigen zehn Volumenprozenten überfällt es einen hinterrücks – und unter tätiger Beihilfe der anderen beiden Bierproben karriolt man ergo nach Abschluss der Veranstaltung hackedicht durch Brügge. Vor allem Ms. Columbo, die ja nix gewohnt ist, traf das La Trappe völlig unvorbereitet.

Das Foto oben zeigt einen noch zuversichtlichen Blogbetreiber in jenem Augenblick, als das Unglück seinen Lauf zu nehmen begann. Der Rest ist Geschichte.




23 Juli 2017

Die Spur der Steine


Natürlich haben Gegenstände oder Orte aus sich heraus keine „Aura“. Ein Stein ist ein Stein ist ein Stein, auch noch 5000 Jahre, nachdem er auf einen anderen gelegt wurde.

Gegenstände, Steine oder Orte gewinnen ihre Ausstrahlung – wenn alles gut läuft – erst durch denjenigen, der sie betrachtet. Sie entsteht in seinem Inneren. Doch er hat das Gefühl, es sei genau umgekehrt. 

Diese Ausstrahlung ist also eingebildet, sie ist eine Schimäre. Aber eine, die das Erlebnis, vor einem Stein zu stehen, der vor 5000 Jahren auf einen anderen gelegt wurde, zu einem sehr emotionalen werden lässt.

Das gilt vor allem in Stonehenge. Gerade selbst getestet.


15 Juli 2017

Kein Sterbenswörtchen über den Schlagermove

Beim Wettbewerb um die widerlichste regelmäßige Großveranstaltung auf St. Pauli hält der Schlagermove (Archivfoto) seit Jahren konstant eine Spitzenposition unter den Top drei – ästhetisch, musikalisch, sonisch und generell zivilisatorisch. 

Umso großartiger, dass wir ihn dieses Jahr wegen eigener Abwesenheit verpassen, und zwar – vielleicht gibt es ja doch einen Gott – rein zufällig. 

Denn ohne dieses Event aus dem Terminkalender des Teufels überhaupt auf dem Schirm zu haben (das menschliche Gedächtnis versucht ja, die schlimmsten Erinnerungen am schnellsten abzulegen, und zwar im Unterbewusstein unter einem Rubrum namens „Trauma“), buchten wir im Januar arg- und sorglos eine Urlaubsreise. 

Diese startet ausgerechnet am heutigen Sonnabend – also genau an jenem Tag, an dem die im Verlauf der Veranstaltung zuverlässig zu unkontrollierbarer Inkontinenz tendierenden Hossahorden unseren Kiez heimzusuchen planen.

Deshalb habe ich diese Jahr nicht den winzigsten Grund, irgendetwas zu dieser Veranstaltung aus der Vorhölle zu sagen. Wir sind ja nicht da. Ich kann mich jeder Bemerkung enthalten. Kein Wort, nicht das kleinste, wird heuer hier stehen über Miniplimarodeure, Perückenpaviane und „Marmor, Stein und Eisen bricht“-Vomitierer.

Ich kann und werde den Schlagermove 2017 deshalb komplett so was von ignorieren. Er wird diesmal hier auf der Rückseite der Reeperbahn einfach totgeschwiegen.

Und wenn wir wiederkommen, in einer Woche, werden mit Sicherheit sogar die letzten breitflächigen Kotzlachen der vereinigten Helene-Fischer-Chöre längst derart eingetrocknet sein, dass sie uns höchstens noch optisch zu beleidigen vermögen, aber nicht mehr olfaktorisch.

Also wie gesagt: diesmal kein Sterbenswörtchen über den Schlagermove. Denn wir sind nicht da. Hossa!






09 Juli 2017

G20: Nachlese eines Desasters


Ich weiß nicht, ob das Gerücht stimmt, aber in den Tagen vorm Gipfel sollen Leute aus der autonomen Szene die oben abgebildeten Plakate mit dem Text „NO G20 – SPARE OUR STORE“ verteilt haben – aber nur an manche, offenbar politisch genehme Ladengeschäfte. Was im Umkehrschluss bedeuten hätte, dass jene, die kein Plakat erhalten hatten, zum Abschuss freigegeben waren. So eine Art umgekehrtes Judensternprinzip also.

Wie gesagt: Keine Ahnung, ob das stimmt. Keine Ahnung, ob eine Art linksautonomes Gremium eine Selektion des Einzelhandels vorgenommen hat. Die Plakate sah man jedenfalls in den Tagen vorm Gipfel in vielen Geschäften. Heute hingen immer noch viele auf dem Kiez und in der Schanze; an unversehrten Scheiben.


Andere hatten keine „SPARE OUR SHOP“-Plakate abgekriegt, und weil sie nicht mal ein Shop waren, bastelten sie sich panisch selber welche. Die Kita in der Bernhard-Nocht-Straße zum Beispiel. 

Das Gebäude, in dem sie untergebracht ist, wurde erst vor einigen Jahren im typischen Klinker-Glas-Mix errichtet, und das macht es wohl – durch den Tunnelblick eines Pflastersteinwichtes – zum zerstörungsprädestinierten Palast des Raubtierkapitalismus. Zumindest scheint die Kita-Leitung diesen Verdacht gehegt zu haben – und appellierte vorauseilend auf schier verzweifelte Weise ans Mitleid der Randalierer. 

Ob es die Schilder waren, die wirkten, oder der Schwarze Block gerade keine Wurfgeschosse zur Hand hatte, als er durchs Viertel marodierte: Wir werden es nie erfahren. 




Mindestens einer von ihnen aber hatte zumindest eine Spraydose dabei. Und schaffte es, beim Verschönern einer Klinkerfassade in der Taubenstraße gleich zwei Rechtschreibfehler in einen einfachen Hauptsatz einzubauen. Möchte man wirklich, dass solche Leute irgendwann mal das Sagen (und Schreiben!) haben? Auch nur ein winziges Bisschen? Nope, Sir.


Eingangs des Schulterblatts brachte die Gluthitze der brennenden Barrikaden den Asphalt zum Schmelzen. Er erstarrte danach wieder zu einem welligen, grobporigen, buckligen Etwas, das nun von Baustellenmarkierungen eingezäunt ist. 

Ein paar Dutzend Meter weiter haben Anwohner des Schanzenviertels eine Wäscheleine gespannt und Zettel drangehängt, auf denen sie ihre Wut (nicht nur auf die potenziellen Mörder, sondern auch auf unseren Ersten Bürgermeister Olaf Scholz) und ihren Stolz darauf, anders zu sein als die Marodeure, aufgeschrieben haben. 

Drumherum sitzt alles bereits wieder in den Kneipen, Restaurants, auf Bänken und Gehwegen. Es ist viel passiert, aber nichts davon verdirbt ihnen dauerhaft Durst und Appetit – nimm das, Autonomer.






Den ganzen Sonntag über räumten die Schanzenbewohner ihr Viertel auf, und heute Abend sah es schon beinah wieder so hübsch abgeranzt aus wie immer – wenn man von den vielen blinden Fensterlöchern absieht, hinter denen nun Bretter und Spanplatten befestigt sind. 

In der Seilerstraße sind die grotesk wirkenden, weil in dieser Gegend eigentlich nicht überlebensfähigen Parklücken inzwischen wieder verschwunden. Das Foto unten konserviert aber die atemberaubende Ausnahmesituation für die Ewigkeit – damit die Enkelgeneration es uns auch glaubt.



Auf dem Spielbudenplatz hatte noch jemand eine Botschaft für alle, die es angeht. Eine ohne einen einzigen Rechtschreibfehler. 






04 Juli 2017

G20: Haut Trump die Elphi kurz und klein?


Für zwei hochkarätige Teilnehmer des G20-Gipfels verspricht das Konzert in der Elbphilharmonie am Freitagabend besonders aufregend zu werden. 

Recep Tayyip Erdoğan etwa wird bass erstaunt darüber den Kopf schütteln, dass dieser einst als Trainer in der Türkei erfolglose Teufelskerl Jogi Löw neuerdings sogar in der Lage ist, ein Sinfonieorchester zu dirigieren (Bild). 

Donald Trump hingegen wird sich mächtig aufregen über die dargebotene „Fake music!“, weil das Fraud-Media-Programmheft böswillig verschweigt, wer das von Jogi Löw dirigierte Stück namens „Beethoven“ in Wahrheit schuf – nämlich der große amerikanische Komponist Chuck Berry.

Viel Konfliktpotenzial also am Wochenende. Bleiben Sie lieber zu Hause oder in Travemünde.

Quelle: Hamburger Abendblatt, 28.06.2017


01 Juli 2017

Neues aus St. Pauli


  1. In der Taubenstraße legt ein Kleinwagenfahrer bei erstaunlich geringem Tempo direkt neben uns einen perfekten U-Turn hin und erfreut sich diebisch an unserem Schreck; einen Augenblick lang sah es nämlich so aus, als sei der Gehweg für uns keineswegs die momentan sicherste Region auf ganz St. Pauli.

  2. In der Wohlwillstraße kracht, als wir gerade auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorübergehen, ein Blumentopf auf den Bürgersteig und verfehlt nur knapp zwei Passantinnen. Das erinnert mich unschön an einen Vorfall von circa 1997, den ich hier aus gutem Grund noch niemals geschildert habe. Damals fiel neben uns kein Blumentopf vom Himmel, sondern ein Frauenkörper. Einzelheiten vielleicht irgendwann. Wenn ich soweit bin.

  3. Ein Nachbar aus einem Haus an der Reeperbahn, dessen Rückseite wir vom Balkon aus sehen, präsentiert sich der Öffentlichkeit mit Deutschland- und Totenkopfflagge. Was die Frage aufwirft, was er im September wohl wählen wird – AfD oder Die Linke? Die Welt ist kompliziert geworden. Und St. Pauli ebenfalls.

  4. Durch die Seilerstraße traben vier Pferde mit Polizisten obendrauf. Irgendwie beruhigend, dass man selbst in Zeiten von Hightechwaffen noch immer parallel – wie dereinst Dschingis Khan und Sitting Bull – auf die einschüchternde Präsenz der Gattung Equus setzt.

  5. Inzwischen sind die Hotels bekannt, in denen die G20-Teilnehmer absteigen. St. Pauli hat keinen Staatschef abgekriegt, sondern nur Journalisten – die Russen hausen im Hotel Hafen Hamburg, der Rest im Empire Riverside. Vladimir Putin belegt samt Entourage das Park Hyatt in der Innenstadt, wo ich 1999 mal Patricia Kaas interviewt habe, deren erste Single Gerard Depardieu finanzierte, der später ein Freund Vladimir Putins wurde. Die Welt ist klein, Kreise schließen sich. Patricia Kaas sagte damals den Satz: „Ich bin ziemlich naturelle, aber eben auch gerne sophistiquée.“ Das erinnert mich an den Nachbarn von gegenüber, den mit den zwei widersprüchlichen Flaggen. Aber dafür kann La Kaas natürlich nicht das Geringste.

20 Juni 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (118)






Während im Rest der Welt der Hype um die fotoverfremdende Prisma-App längst wieder abgeflaut ist, nutze ich sie weiter täglich – immer in der Mittagspause, die ich auf einer Bank an der Außenalster verbringe, im Angesicht von Wolken, Himmel, Seglern, Dampfschiffen und Picknickern.

Quod erat demonstrandum.