2007 lief auf Spiegel TV eine Reportage über die Penny-Filiale auf der Reeperbahn, die zum medialen Dauerbrenner geworden ist, nicht nur im Fernsehen, wo sie immer und immer wieder läuft, sondern auch im Internet. Auf YouTube etwa haben die mundgerecht portionierten 25-Minuten-Häppchen des abendfüllenden Films kumuliert zig Millionen Zugriffe.
Die Faszination dieser Reportage liegt natürlich an den Figuren, die sie vorstellt. Es sind vor allem Arme und Armselige, Gestrandete und Obdachlose, Verhaltensauf- und -ausfällige aus den lichtlosen Ecken des Biotops St. Pauli – und typischen Mittelschichtlern (wie uns) liefert der Film die kostenlose Gelegenheit, sich diesen Menschen mit einer Mischung aus Grusel, Mitleid und Empathie zu widmen. Wir dürfen uns kopfschüttelnd fragen, wie man so leben und überleben kann, mitten in Deutschland, mitten in der Ersten Welt. Und wir dürfen uns gut fühlen, weil wir bei manchen dieser Drop-outs das wärmende Bedürfnis verspüren, sie zu knuddeln (sofern sie nicht allzu streng riechen).
Man kann nur hoffen, dass die Macher dieser Reportage damals, vor vierzehn Jahren, von allen Porträtierten und Vorgeführten ordnungsgemäß Einwilligungen zur Ausstrahlung eingeholt haben – und dass alle Porträtierten und Vorgeführten sich wenigstens halbwegs darüber im Klaren waren, was diese Einwilligung für sie und ihr künftiges Leben bedeuten würde. Nämlich wenig Gutes.
Einige von ihnen wird man wohl nicht mehr danach fragen können. Für die schon damals (auch von uns) gut frequentierte Penny-Filiale auf der Reeperbahn aber war diese – wie nennt man das heutzutage? – „Kultreportage“ ein Segen ohnegleichen. Sie wurde zum Touristenmagneten, wie der Michel oder die Elbphilharmonie: Komm, lass uns vorm Musical noch mal rüber zu Penny, Kiezfreaks gucken!
Das ist natürlich auch der Marketingabteilung des Discounters irgendwann aufgefallen. Und sie beschloss, diesem unverhofften Nimbus auch endlich konzeptuell gerecht zu werden. Statt die Billigwaren weiter lieblos in Kisten und Kästen zu kübeln, weil es dem armen und armseligen Stammpublikum natürlich null auf die Optik, sondern nur auf den Tiefstpreis ankommt, hat man den Laden jetzt großzügig aufgehübscht – und weil die Touristen (wenn sie denn wieder kommen dürfen) nun mal wegen des Rotlichtflairs über die Reeperbahn pilgern, besorgt es ihnen Penny jetzt aber mal so richtig.
Denn die Filiale ist zur blitzsauberen Hölle aus schlüpfrigen Kalauern geworden, mit Olivia Jones als Testimonial, klar. Ich weiß nicht, welche Hafencityagentur sich hier austoben durfte, aber ich sehe sie vor mir, die coolen Kreativen in ihren Rollkragenpullis (Klischee, ich weiß), wie sie sich juchzend auf die Schenkel klopfen, als ihnen als Name für die Metzgertheke „Frischfleisch“ einfiel oder „Heiße Teile“ für Brot und Brötchen. So geht das Gang für Gang, Regal für Regal – siehe unten. Die Puffs haben zu, aber Penny nicht.
Und wem haben wir diesen neonbunten Overkill aus den abgedroschensten Kiezkalauern seit Erfindung des Koberns zu verdanken? Den Armen und Armseligen, Gestrandeten und Obdachlosen, Verhaltensauf- und -ausfälligen von 2007, damals von Spiegel TV hervorgezerrt aus den lichtlosen Ecken des Biotops St. Pauli und seither ausgestellt im Fernsehen und im Netz.
Zig Millionen YouTube-Klicks! Ich meine: Wer so was nicht irgendwann monetarisieren will, der hat auf dem Kiez nun mal nichts verloren. Nur der Kiez selbst hat fast alles verloren, nicht nur dank Corona. Alles hier auf St. Pauli scheint inzwischen nur noch die folkloristische Widerspiegelung dessen zu sein, was einst mal ein echtes Rotlichtviertel war.
Und nichts verkörpert das brutaler, schonungsloser als die neu gestaltete Penny-Filiale auf der Reeperbahn.
Update 04.12.2021: Spiegel TV hat Penny schon wieder thematisiert.