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09 Mai 2019

Was Kiezbesucher WIRKLICH befriedigt

Draußen auf der Seilerstraße steigen zwei schrankartige Typen gemeinsam aus dem Auto (Foto) und fallen sich lachend und juchzend in die Arme. 

Der Grund: Es ist spätnachmittags auf dem Kiez, und sie haben einen Parkplatz gefunden. 

Wahrscheinlich werden sie ihn nie wieder aufgeben, und wenn sie für den Rest ihres Lebens Taxi fahren müssen.


22 März 2019

Von Brabblern und Schlenkerern

Wer einst mit sich selbst brabbelnd durch die Stadt lief, hatte entweder einen an der Waffel und/oder Freigang. 

Dann kamen die Headsetleute. Sie hatten möglicherweise auch einen an der Waffel, redeten aber nicht mit sich selbst, sondern wahrscheinlich mit einem anderen Headsetter, der irgendwo anders auf der Welt gerade öffentlich verhaltensauffällig wurde. 

Mit der Zeit habe mich sich derart an dieses grassierende Phänomen der Scheinmonologisten gewöhnt, dass ich die Frau, die mir heute in der Seilerstraße (Symbolfoto) brabbelnd entgegenkam, automatisch dieser trendsetzenden Bevölkerungsgruppe zuschlug. Allerdings trug sie, wie ich beim Vorübergehen erstaunt erkannte, gar kein Headset. Sie brabbelte definitiv mit keinem anderen als sich selbst – und hatte ergo entweder einen an der Waffel und/oder Freigang. Kurz: Diese Frau war mir sofort sympathisch, durchaus auch aus nostalgischen Gründen. 

Das galt nicht für die zwei Jungs, die ich später vom Balkon aus beim Durchschlendern unserer Straße zu Gesicht bekam. Der eine, ein hagerer Schlaks in übergroßen Joggingklamotten aus wahrscheinlich edelstem Polyester schlenkerte überlange Extremitäten durch die Gegend, als seien seine Gliedmaßen gar nicht durch Gelenke miteinander verbunden, sondern nur durch Haut und Sehnen. 

So tänzelte er an den geparkten Autos in der Seilerstraße lang, und bei jedem Wagen, an dem er vorbeikam, testete er ohne stehenzubleiben – also buchstäblich en passant –, ob sich nicht vielleicht die Fahrertür öffnen ließe.

Er hatte durchweg keinen Erfolg, was ihn aber nicht sonderlich zu stören schien. Sein schlenkeriger Gesamtzustand, sein fließender, von schräggestellten Füßen geprägter Gang: All das signalisierte eine gewisse Gelassenheit, die ihn jede einzelne der kleinen Enttäuschungen, die ihm jedes verschlossene Auto nun mal zufügte, ohne Unmut wegstecken ließ. Nein, der Schlaks blieb cool, und weiter ging’s zum nächsten, während sein neben ihm hertrottender Kapuzenkumpel dem Treiben still und stumm und duldsam zuschaute.

Was hätten die beiden Jungs wohl genau getan, wenn unverhofft eine Autotür aufgegangen wäre – erfreut reinspringen, kurzschließen, abdüsen? Oder das Handschuhfach um ein wenig Ballast erleichtern?

Ich muss zugeben: Das hätte ich schon gern erfahren. Und Sie ebenfalls!





27 Februar 2019

Ein Mops namens Matt


Als ich mich gestern auf einer sonnenüberfluteten Alsterbank liebevoll meinem Mittagspausenbrot widmete, drang plötzlich ein herrisches „Thomas: nicht! THOMAS!!!“ an meine Ohren. Ich drehte mich um, um zu schauen, was der angeherrschte Herr wohl angestellt haben möge. Allerdings erblickte ich zu meiner nicht kleinen Überraschung kein Menschenmännchen, sondern einen Hunderüden, eine zottelige Straßenstrichmischung von grundsympathischem Äußeren. 

Das war also Thomas.

Ich dachte mir nicht allzu viel dabei, vermutete ein vielleicht etwas verpeiltes Frauchen, das in Form einer Haustierbenennung vielleicht einer verlorenen Liebe nachtrauerte oder ihr aus Rache ein Hundeego andichtet. Dann widmete ich mich wieder liebevoll meinem Mittagspausenbrot. Und vergaß Thomas.

Heute Mittag saß ich wieder – dem Jahrhundertfebruar sei Dank – auf einer sonnenüberfluteten Alsterbank, als sich eine knautschgesichtige Bulldogge oder so etwas Ähnliches (ich kenne mich damit nicht so aus) nach meinem Geschmack etwas zu sehr für mein Mittagspausenbrot zu interessieren begann. Doch schon erscholl aus dem Off eine Frauenstimme: „Charlotte! Hierher! CHARLOTTE!!!“

Eine knautschgesichtige Bulldogge namens Charlotte also. Okay. Als ich abends Ms. Columbo von diesen beiden Fällen berichtete und andeutete, ich sei da möglicherweise einer ganz großen Sache auf der Spur, nämlich Hunden mit Menschenvornamen, winkte sie nur ab. Das sei ein Trend, der längst thematisiert sei, sogar schon auflagenstark im Spiegel oder dergleichen.

Ich habe also wieder einmal etwas nicht mitgekriegt. Zumindest aber kann ich hiermit diesen Trend, von dessen Allgemeinbekanntheit ich dank Ms. Columbo soeben erfuhr, aus persönlicher Anschauung vollauf bestätigen. Ja, auch an der Alster laufen Hunde herum mit Menschenvornamen. 

Allerdings darf, ja muss man sich schon fragen, was aus bewährten Modellen wie Bobby, Rex oder … ähem … Blondi geworden ist, was diese über Jahrhunderte pass- und zielgenau gewählten Hundenamen denn wohl falsch gemacht haben, dass sie plötzlich durch Thomas, Charlotte oder – Gott bewahre! – Matthias ersetzt werden.

Andererseits: Ein Mops namens Matt hätte ja schon Charme. Da wär ich tolerant.






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24 Januar 2019

Wo ist der Schlurfer?

Immer morgens gegen viertel nach neun stehe ich mit dem Rad an der Mörderkreuzung Alsterglacis/Alsterufer und warte darauf, dass das Heer der Feinstaubförderer widerwilig innehält, um mich die Mörderkreuzung überqueren zu lassen. Und jeden Morgen gegen viertel vor neun, wenn ich dort eintreffe, kommt just ein schiefer, bärtiger Bettler mit Krücke auf dem Grünstreifen zwischen den beiden zweispurigen Rennstrecken herangeschlurft. Sein Job beginnt anscheinend zur gleichen Zeit wie meiner. 

Wenn ich nachmittags gegen viertel nach drei (gelobt sei der Teilzeitjob!) auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung dann erneut aufs Innehalten des Heers der Feinstaubförderer warte, passiert erstaunlicherweise genau dasselbe: Der Bettler schlurft auf dem Mittelstreifen Richtung Ampel – ganz so, als käme er just aus seiner (späten) Mittagspause und nähme seine Arbeit wieder auf. Der schlurfende Humpler und ich: Wir sind offensichtlich verschränkt wie Zwillingstquanten, die der geisterhaften Fernwirkung unterliegen. 

Diese verblüffende Verbindung nahm ich monatelang als gegeben hin, ohne mich groß zu wundern. Wir haben halt beide einen 9-to-3-Job, dachte ich mir, nur halt in unterschiedlichen Branchen. (Und ich könnte nicht mal sicher sagen, wer mehr verdient.) 

Neulich aber verschob sich meine Nachmittagsankunft an der Mörderkreuzung durch Umstände, die hier nichts zur Sache tun, um mehr als eine Stunde. Es war also nicht viertel nach drei, sondern gegen halb fünf, als ich dort eintraf. Und welcher Anblick bot sich mir? Sie ahnen es: Der schiefe, bärtige Bettler schlurfte erneut auf dem Mittelstreifen Richtung Ampel. 

Kam er etwa gerade aus der Kaffeepause, die dann allerdings einen unzureichenden Abstand zum späten Lunch gehabt hätte? War vielleicht die geisterhafte Fernwirkung, die dafür sorgte, dass wir immer gleichzeitig an der Mörderkreuzung Alsterglacis/Alsterufer eintrafen, auf unheimliche Weise realer, als es die Naturgesetze erlaubten? 

Ich war verwirrt, ja fast verstört. Bis mir die Lösung dämmerte. Der fleißige Mann schlurfte nicht etwa nur zweimal täglich immer dann heran, wenn ich mich auf dem Fahrrad ebenfalls dem Ort des Wunders näherte, sondern absolvierte sein Schlurfen auf dem Mittelstreifen unablässig, den ganzen lieben langen Tag lang, immer hin und her. Wenn die Autoschlange zum Halten kam, humpelte er sie bettelnd ab, Wagen für Wagen, und wenn sie sich wieder in Bewegung setzte, schleppte er sich auf seiner Krücke zurück zur Kreuzung – wo er mir ins Blickfeld geriet. 

Es wäre demnach völlig egal, zu welcher Uhrzeit ich dort einträfe: Mir böte sich zuverlässig das immergleiche Bild, solange meine Arbeitszeit kürzer wäre als seine und von dieser zeitlich gleichsam umschlossen würde.

Der Mann arbeitete also hart, tagein, tagaus, wahrscheinlich sogar ganz ohne Mittags- und Kaffeepause. Dass ich ihm arglos solche Vergünstigungen unterstellt hatte, weckt nun in mir ein Gefühl der Scham. Von wegen 9-to-3 – wahrscheinlich 7-to-7! Wenn das mal reichte!

So war also dieses Rätsel gelöst. Doch seit einigen Tagen gibt es ein neues: Der Mann ist nämlich verschwunden. Weder morgens noch nachmittags taucht er auf. Wo ist er bloß – von seinem rumänischen Clan nach Lüneburg versetzt? Erkrankt, verletzt? Oder hat er nach jahrelangem 7-to-7-Einsatz an der Mörderkreuzung Alsterglacis/Alsterufer schlicht seine Schäfchen im Trockenen?

Ich weiß jedenfalls nicht recht, ob ich mich freuen oder sorgen soll. 
Eins aber weiß ich sicher: Diese Kreuzung ist nicht mehr dieselbe. 


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16 September 2018

Aller guten (Blog-)Dinge sind 13


Dass dieses Blog im Lauf der vergangenen zwölf Monate den viermillionsten Besucher begrüßen durfte, ist angesichts der erneut dramatisch eingebrochenen Veröffentlichungsfrequenz schon verwunderlich. Und ein wenig beschämend für den inhaltlich Verantwortlichen. 

Denn was finden Neuankömmlinge hier vor? Vor allem einen Riesenberg Vergangenheit. Das muss anders werden (sage ich mir jedes Jahr). Schließlich passieren hier auf St. Pauli immer noch Dinge. Erwähnenswerte Dinge. Wie neulich beim Kiezbäcker, als ich in der Schlange hinter einem gutgelaunten jungen Mann afrikanischer Provenienz darauf wartete, die im Dauerabonnement vorbestellten Karottenbrötchen abzuholen.

Als der junge Mann mich erblickte, drehte er sich um, hob überraschenderweise die Hand zum High Five und sagte mit einem Strahlen, dessen man wahrscheinlich nur dann fähig ist, wenn man neulich in einem lecken Schlauchboot die Mittelmeerpassage überlebt hat: „Germany is the greatest country in the world – because I’m here!“ Eine Logik, die holperte, aber nur auf den ersten Blick. Ich wusste jedenfalls sofort, was er meinte, und schlug grinsend ein. 

Das war noch vor Chemnitz, und vielleicht ist Germany in puncto Greatness für ihn inzwischen auf Platz zwei  oder drei abgerutscht, aber er freut sich mit Sicherheit noch immer, hier zu sein – und ich freue mich noch immer, mit Typen wie ihm beim Kiezbäcker eine Warteschlange zu bilden. 

Wahrscheinlich wird es allerdings eine Weile dauern, bis der neue Mitbürger ausreichend Deutsch gelernt hat, um die denglischen Kalauer zu dechiffrieren, die zurzeit vor allem Foodtrucks befallen wie Wespen heute meinen Tartufobecher in einer Eisdiele in der Stader Altstadt. Zur Beweisführung mögen die hier präsentierten Fotos von Beispielen gelten, die ich allesamt auf dem Spielbudenplatz auf frischer Tat ertappte.

Und jetzt feiere ich den 13. Bloggeburtstag, möglicherweise mit einem mitternächtlichen Ratsherrenpils. High Five!





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12 August 2018

Viermal typisch Kiez


1. 

Vor der Spielhalle Novolino stemmt sich eine verwitterte aschblonde Frau aus ihrem Rollstuhl, dreht sich um und schiebt ihre Hosen runter. 

Dann beugt sie sich nach vorne, stützt die Arme auf den Lehnen ihres Gefährtes ab und entleert sich auf den Gehweg. Ihr  Hintern schimmert kalkweiß in der Morgensonne. Später sitzt sie wieder in ihrem Rollstuhl und kümmert sich ausgiebig um ihr rechtes Bein. Der Fuß fehlt. 

2. 

Ein Polizist jagt per pedes einen fliehenden jungen Mann mit blonden Haaren über den Gehweg an der Seilerstraße. Der Peterwagen, aus dem der Polizist zwecks Verfolgung heraussprang, braust rückwärts die Straße runter Richtung Hamburger Berg, den beiden hinterher. 

Als hätte ich eine funktionierende Kristallkugel, so sehe ich vorm geistigen Auge schon voraus, was unweigerlich gleich kommen muss und dann auch exakt so kommt: In dem Moment, als der Wagen auf Höhe des Fliehenden ist, stürzt der Mann blind vor Panik zwischen zwei parkenden Autos hervor auf die Straße – und wird vom Polizeiauto umgefahren. Er fliegt hart auf den Asphalt und bleibt regungslos liegen, zusammgekrümmt wie ein Säugling. 

Der Verfolger beugt sich über ihn und ruft irgendetwas, sein Kollege springt aus dem Wagen und stellt sich dazu. Alles Weitere entzieht sich meiner Kenntnis. 

3. 

Bei der Verlosung des Rechts, eine Dauerkarte für den FC St. Pauli erwerben zu können, bin ich wie jedes Jahr leer ausgegangen. Also checke ich kurz vor Beginn des Heimspiels gegen Darmstadt 98 vorm Millerntorstadion die Schwarzmarktpreise. 

Anbieter sind paradoxerweise meist jene, die ein Schild „Suche Karte“ hochhalten. Mit zweien davon komme ich ins Gespräch, beide flüstern. Einer will 70 Euro, ein anderer 80. Ich mag meinen Sky-Decoder. 

4. 

Irgendjemand spielt im Innenhof dumpf pumpenden Techno, und zwar mitten in der Nacht, es ist bereits nach zwei. Einige Minuten lang liege ich da und warte darauf, dass der stoisch monotone Beat aufhört. 

Schließlich steige ich genervt aus dem Bett und taste mich im Dunkeln zum Schlafzimmerfenster, um das Oberlicht zu schließen. Doch es ist bereits zu. 


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13 März 2018

Der belagerte Hauseingang

Immer mal wieder machen es sich Menschen vor unserer Haustür bequem, die nicht zu den Bewohnern dieses Hauses gehören. Nicht nur das: Sie versperren uns auch den Aus- und Zugang. Am Sonntagmorgen war es erneut so weit. 

Schon aus dem Hausflur sah ich die außen an die Glastür gelehnte Tasche. Als ich die Tür öffnete, fiel sie mir halb entgegen, und zwei Männer in ihren Zwanzigern versperrten mir den Weg. Sie saßen auf den beiden Stufen vor der Haustür und waren gerade dabei, Utensilien auszupacken. „Danke“, sagte ich, als sie aufstanden, um mich durchzulassen. 

Für eine tiefergehende Ansprache oder gar eine Ermahnung sah ich keinen Anlass, wahrscheinlich war dieser Ruheplatz nur ein temporärer, und wenn ich vom Brötchenholen zurückkäme, sähe man bestimmt nur noch ihre Hinterlassenschaften (bei deren Provenienz allerdings einige unschöne Möglichkeiten abgedeckt werden konnten; ich möchte jetzt nicht ins Detail meines Erfahrungsschatzes gehen). 

Zehn Minuten später, als ich vom Kiezbäcker zurückkam, saßen die beiden allerdings immer noch da. Sie hatten es sich sogar gemütlich gemacht. Ich sah unter anderem ein kleines Klappmesser auf der obersten der beiden Stufen liegen; zu welchem Behufe auch immer. „Sie können hier nicht bleiben“, sagte ich, „das ist ein Hauseingang, hier wollen immer wieder Leute rein und raus.“

Der eine, ein braunhaariger Zausel mit gebeugtem Kopf, entschuldigte sich sofort. „Sie haben Recht, das stimmt, wir gehen, alles klar.“ Er räumte mit rundem Rücken seine Tasche beiseite, alles an ihm signalisierte Deeskalation. „Wir wollen keinen Ärger, alles klar“, schob er nach. 

Ich stand da und sah ihm beim Zusammenräumen zu, als ich bemerkte, wie der andere mich von der Seite anstarrte. Er war blond, sein Gesicht hager und hart, er hielt den Kopf oben. „Gehen Sie durch“, sagte er. 

„Wir wollen keinen Ärger, wirklich nicht“, sagte der andere. „Gehen Sie durch“, sagte der Blonde noch einmal. 

Während sein Kumpel Unterwürfigkeit simulierte, entströmte dem Blonden die Aura unterschwelliger Aggressivität. Wahrscheinlich waren die beiden Junkies. Mit Junkies ist bisweilen nicht zu spaßen. Manchmal müssen sie auf Teufel komm raus Handlungsprioritäten setzen, die einem verständnisvollen gesellschaftlichen Miteinander abträglich sind. 

Ich sah das Klappmesser auf der obersten der beiden Stufen. Es war aufgeklappt. „Wir wollen wirklich keinen Ärger“, sagte der Unterwürfige. Der Blonde starrte mich an, gerade und aufrecht. Er trug eine hellblaue enge Daunenjacke. 

Und dann ging ich durch, hoch in den zweiten Stock, in eine ganz andere Welt.


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20 November 2017

Rechtsruck in Swinemünde

Speisen in Polen: Das ist ein ganz eigenes Kapitel. Gestern wählte Ms. Columbo aus der Vitrine im sehr empfehlenswerten Swinemünder Lokal La Trompa  einen optisch sehr ansprechenden Kuchen aus, dessen Name nur auf Polnisch angegeben war. Der Lokalchef, ein Deutscher, übersetzte ihn, während er uns über den Rand seiner Lesebrille hinweg neugierig musterte: „Das heißt Zigeunerbrüste.“ 

So etwas hätte es in Deutschland inzwischen schwer. Eine denkbare Variante namens „Sinti-und-Roma-Brüste“ wäre als Vermeidungsstrategie nicht mal die wahrscheinlichste, sondern eher die vorauseilende Flucht in eine garantiert von keiner beleidigungs- und empörungsfähigen Minderheit anmahnbare Umbenennung. Vielleicht „Hügeltorte“ …? 

Unterhaltsam wird es auch, wenn die Swinemünder Gastronomie sich ans deutsche Touristenzielpublikum ranwanzen will. Eine Süßspeise aus der Pommestüte zum Beispiel nennen sie hier „Wuffel“; das ist schon sehr putzig. Allerorten sorgen zudem Karten und Schilder für kleine Entertainmentmomente – einfach nur dadurch, dass beim ungelenken Versuch, sich entgegenkommend des Schriftdeutschen zu bedienen, diese komischen Tüddelchen über den Vokalen fehlen („Brathahnchen“).

Auch in unserem Hotel hakt es überall ein bisschen, aber nirgends so sehr, dass man es deswegen mit Liebesentzug bestrafen müsste. Das hoteleigene Internet etwa schenkt uns seine Gunst nur sporadisch, glänzt dann aber mit Geschwindigkeiten von 217 Mbit/s. Von so was kann ich zu Hause auf dem Kiez nur träumen, o2! 

Im Bad ist derweil die Klobrille locker und kippt – konform zur momentanen polnischen Regierung – stark nach rechts, so dass jede Sitzung zu einem Balanceakt mit ungewissem Ausgang wird. Vom Vorhang vor der Balkontür, der einen knappen Meter überm Boden unversehens endet und Passanten interessante Wadenblicke bietet, berichtete ich ja gestern schon.

Der Swinemünder sieht das eben alles nicht so eng. Wer sich an solchen Petitessen stört, wandert halt ein paar Kilometerchen weit zum Soundtrack der Brandung über den festen Sandstrand nach Norden, wo ihn alsbald das urdeutsche Seebad Ahlbeck willkommen heißt.

Und dort – darauf würde ich eine ganze Wuffelladung verwetten – kippelt keine einzige Klobrille.



19 November 2017

Der Meister aller Chuzpeklassen

Auf dem riesigen Polenmarkt in Swinemünde, der auch im Wind und Regen der Nachsaison unermüdlich durchgeführt wird, inspizieren wir interessiert eine Funktionsjacke von Wellensteyn. Es gibt hier Hunderte davon, und alle sind günstig, aber sind sie auch echt?

Wahrscheinlich will man uns hier Fälschungen andrehen, das ist bekannt. Also heißt es auf dem Quivive sein. Zur Sicherheit haben wir kurz gegoogelt und herausgefunden, woran man echte von gefälschten Wellensteyn-Jacken unterscheiden kann: besonders an den Knöpfen und Reißverschlüssen, auf denen der Firmenschriftzug ebenfalls eingeprägt sein sollte. Diese Aufgabe scheint Fälschern zu komplex zu sein, weshalb sie sie sich gerne sparen. Sie setzen einfach darauf, dass der gemeine Kunde so genau nicht hinschaut, sondern sich von den applizierten Buttons blenden lässt. 

Wir wähnen uns nach dieser Recherche also gut genug gerüstet, um uns von den Händlern auf dem Polenmarkt von Swinemünde nicht übertölpeln zu lassen. Ja, mehr noch: Im Verkaufsgespräch werden wir sie gegebenenfalls mit unseren Erkenntnissen konfrontieren und somit schwer zum Schwitzen bringen. Wahrscheinlich werden sie sodann unter der Last der vorgebrachten Beweise zusammenbrechen und auf Knien schwören, hinfort nicht mehr zu sündigen wider die heilige Markenhoheit der Hersteller. 

Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen wir an einem Klamottenstand auf dem Polenmarkt in Swinemünde interessiert eine Funktionsjacke von Wellensteyn inspizieren. Vor allem schauen wir uns die Knöpfe an. Und siehe da: Es gibt weder Wellensteyn-Logo noch imprägnierten -Schriftzug – das Teil ist gefälscht! Der noch arglose Händler schichtet in der Nähe Kleider auf und schaut nicht herüber. Er ahnt noch nichts vom hochnotpeinlichen Kreuzverhör, dem wir ihn gleich unterziehen werden. Doch er kommt uns zuvor. 

„Bittä nicht guckän Knepfe“, sagt er, „ist alläs nachgemacht.“ 

Ein Satz wie aus dem Nichts, einer wie ein nasser Waschlappen, der einem links und rechts um die Ohren gehauen wird. Wir sind komplett entwaffnet, unsere ganze Google-Munition löst sich in Luft auf. „Auch bei Ihren Kollegen?“, fasst sich Ms. Columbo als erste, während ich noch schwer an meiner Verdatterung zu knabbern habe. 

„Nadirrlich“, sagt der Meister aller Chuzpeklassen, während er einen weiteren Kleiderstapel von A nach B packt, „alläs nachgemacht.“

Ich glaube, es gibt kaum etwas Verblüfferendes als fehlendes Unrechtsbewusstsein, das auch noch offensiv vertreten wird. Eine ganz frische Erkenntnis, für die ich Swinemünde von jetzt an sehr dankbar sein werde.

PS: Gespart hat auch unser Hotel, nämlich an der Länge der Vorhänge (Foto). Man könnte von gegenüber also unsere Waden bewundern, aber dort steht nur eine unbewohnte Ruine.



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28 Oktober 2017

Sympathisch derangiert

Der Hein-Köllisch-Platz im Südwesten von St. Pauli mit seinem buckligen Pflaster und den Kneipen und Restaurants, die ihn malerisch umsäumen: Das wäre durchaus eine Wohnlage, die wir uns auch vorstellen könnten – sofern die Wege dorthin nicht so diskutabel wären. 

Wenn man etwa den Platz von Osten her erreichen möchte, muss man durch die Bernhard-Nocht-Straße – und somit Bock darauf haben, durch eine Phalanx afrikanischer Dealer zu huschen, die einem manchmal ein erwartungsarmes „Hallo“ zuraunen. 

Und wenn man von der Reeperbahn kommt, gilt es zunächst die von trunkenen Kieztouristen heimgesuchte Silbersackstraße heil zu überstehen, ehe ein rechts abzweigender Pfad namens Silbersacktwiete uns an einem von dunklen unheimlichen vollgepissten Hecken flankierten Sportplatz entlangzwingen möchte. 

Beide Varianten sind unschön, doch wenn man eine davon schadlos absolviert hat und erst einmal angekommen ist auf dem Hein-Köllisch-Platz, dann entfaltet sich rotlichtferne St.-Pauli-Gemütlichkeit in ihrer ganzen Pracht. Vor allem an jedem letzten Freitag des Monats, wenn im Stadtteilzentrum Kölibri ein sogenanntes Küchenkonzert stattfindet.

Das geht so: Bemühte Amateure, über die sich ob ihres von jedwedem Können ungetrübten Eifers sofort ein Füllhorn mitleidsgetriebener Publikumsovationen ergießt, geben ihr Bestes (was nicht viel ist), derweil ehrenamtliche Kräfte schmackhafte vegetarische Speisen zubereiten und über den Tresen reichen. Gestern war es zum Beispiel Kürbis mit Bulgur, bestreut mit Koriander, und als Nachtisch Windbeutel mit Himbeeren. Fürs Essen wird so wenig ein Preis erhoben wie für die Musik (was auch noch schöner wäre!), aber Spenden für beide Angebote sind willkommen, fürs Essen werden sogar Richtwerte genannt. 

Im Kölibri hält man sich übrigens trotz des alternativen Anstrichs penibel an die Gesetze. Als ich bei der höchstens 16-jährigen Thekenkraft ein Wasser und einen Wein bestellte, rief sie eine erwachsene Kollegin herbei mit den Worten: „Machst du ein Glas Wein? Ich darf doch keinen Alkohol ausschenken.“ Hier dürfen 16-Jährige also nicht nur ordnungsgemäß keinen Stoff trinken, sie dürfen ihn nicht einmal einem Gast zu trinken geben

Das nicht immer in Würde gealterte, optisch sofort als gewerkschaftsnah zu identifizierende Kölibri-Publikum  wirkt überdurchschnittlich derangiert, doch auf äußerst sympathische Weise. Es sind Menschen, die jederzeit „Refugees welcome“-Schilder hochhielten, die natürlich gegen die Elbvertiefung sind und auch noch der flachsten künstlerischen Darbietung bis an die Gestade der Euphorie wohlgesonnen gegenüberstehen, solange sie nur gutgemeint ist.

Kurz: Nichts, aber auch gar nichts spricht dagegen, an jedem letzten Freitag des Monats gutgelaunt und hungrig im Kölibri aufzuschlagen. Natürlich werden Sie weiterhin auch uns dort regelmäßig antreffen – sofern wir den Hein-Köllisch-Platz unbeschadet erreichen.


14 Oktober 2017

Unterwegs mit einem Bolzenschneider

Wie langjährige Leser und Leserinnen wissen, sind mir bereits acht Fahrräder entwendet worden, sieben davon auf dem Kiez. Wer die Chronik der traurigsten dieser Vorfälle noch einmal nachlesen möchte, kann das hier, hier, hier, hier, hier und hier tun.  

Heute aber wurde mal keins geklaut, sondern es geschah so etwas Ähnliches wie das Gegenteil: Irgendein Witzbold nämlich hatte Ms. Columbos Rad, obgleich es bereits mit ihrem eigenen Faltschloss ans Geländer gekettet war, mit einer zusätzlichen Kette dort befestigt (Foto oben), allerdings ohne den Schlüssel da zu lassen. Das Fahrrad war also immobil. 

Um meinen Ruf als der weltweit erfolgreichste Ermöglicher unserer Haushaltes zu festigen, erbot ich mich, das Problem zu lösen, und suchte den Fahrradladen um die Ecke auf, um mir einen Bolzenschneider zu leihen. Nach einer kurzen Schilderung der Umstände und aufgrund meines ehrlichen Gesichts sowie eines 20-Euro-Scheins als Pfand drückte man mir das Werkzeug in die Hand. „Aber sagen Sie vorher der Polizei Bescheid“, riet mir der Kollege noch. Eine gute Idee – das fand man auch auf der Davidwache. 

„Wenn Sie in der Seilerstraße mit einem Bolzenschneider rumwerkeln“, sagte der Diensthabende, „stehen sofort drei Polizeiwagen da.“ Nun, dachte ich im Stillen, während meine acht Räder entwendet wurden, hätte ich mich schon über das Auftauchen eines einzigen gefreut, aber gut. Schnee von gestern. 

Die Freunde und Helfer der Davidwache erklärten sich zu meiner Freude bereit, mich zu begleiten, sogar in Gesellschaft eines polizeieigenen Bolzenschneiders. Das Gerät, welches aus der Waffenkammer hervorgeholt wurde, verhielt sich zu dem, das ich bei mir führte, wie der Hulk zu einem Heinzelmännchen. 

Noch ganz benommen von diesem Eindruck stieg ich mit zwei Uniformierten, einem Mann und einer Frau, in den Streifenwagen. Wir kamen allerdings nicht direkt durch, obwohl die Seilerstraße praktisch gegenüber der Davidwache schon anfängt. Auf dem Hamburger Berg nämlich taumelte uns ein zirka 60-jähriges Faktotum mit Fusselbart, Piratenkopftuch und Jeansweste vors Auto und verlangte die Aufnahme einer sofortigen Anzeige. 

Vorm Penny, keuchte der Mann in höchster Erregung, habe ihn so’n Typ mit Glatze und ganz, ganz komischen Augen irgendwie am Ohr erwischt und zudem damit gedroht, ihm auffe Fresse zu hauen, dabei „hab ich seine Frau gor nich annemacht!“. Die Polizistin schickte ihn auf die Wache, ihr Kollege murmelte „Spinner“, und wir fuhren weiter. 

In der Seilerstraße angekommen, trat der nächste Passant auf uns zu. Ach, man sei im Einsatz? Er wolle aber dringend eine Meldung machen, und zwar habe er im Lauf der Woche beobachtet, wie jemand dort drüben – er zeigte ins Ungefähre – haufenweise Steine gehortet und deponiert habe, wer weiß, zu welchem Behufe. 

Als auch dies registriert worden war, widmeten wir drei uns Ms. Columbos festgesetztem Zweirad. Mit ihrem Fahrradpass und durch Aufschließen des Faltschlosses hatte ich mich vorher als Bevollmächtigter der Eigentümerin legitimiert. Sonst könnte ja jeder kommen und sich von der Polizei beim Fahrraddiebstahl helfen lassen.

Zunächst probierte der Polizist es mit meinem Zwergenbolzenschneider, vergeblich. „Vielleicht doch der große?“, regte ich an, begierig darauf, das Monster im Einsatz zu sehen. Der Mann war einverstanden, doch das Billigschloss erwies sich als ungeahnt zäh. Oben zog die Polizistin die Kette stramm, unten ich, und in der Mitte nagte der von kräftiger Bullenhand geführte Bolzenschneider wütend und verzweifelt am längst freigelegten Drahtgeflecht.

Wir mühten uns gewiss fast zehn Minuten ab mit diesem zähen Miststück, ehe es endlich knack machte und die Sache erledigt war. Danach suchten wir noch längere Zeit nach der Rahmennummer, um sie mit dem Fahrradpass abzugleichen; mir traten schon die ersten Schweißtröpfchen auf die Stirn, und nicht nur, weil dieser goldene Oktobertag sich so sommerlich gerierte.

Das zerbissene Schloss entsorgte ich im Mülleimer. Wer eine Theorie hat, wieso man fremde Fahrräder irgendwo ankettet, möge hervortreten und sie darlegen. Ich bin neugierig. Als ich den kleinen Bolzenschneider wieder zurück in den Laden brachte, fragte mich der Verleiher, während er mir die 20 Euro zurückgab, ob alles geklappt habe. „Nö“, sagte ich. „Aber der kriegt sonst eigentlich alles durch“, antwortete er.

Aus diesem Erlebnis habe ich mehrerlei gelernt. Erstens: Auch mit einem Bolzenschneider vom Ausmaß eines Laubbläsers braucht man zu dritt außerordentlich lange, um ein Popelschloss zu knacken. Mir als Dieb wäre das zu nervenzerrend, ich nähme lieber eine Flex. 

Zweitens: Aus einem Polizeiwagen kann man nicht aussteigen, ohne dass jemand von außen die Tür aufmacht. Selbst wenn man nicht verhaftet ist.

PS: Ein ähnlicher Fall ist mir schon mal passiert. Und er ging so aus.



17 Mai 2017

Meine Hilfe ist unerwünscht

Immer wenn ich eine Nachricht von Kalle Schwensen im Posteingang habe, durchzuckt es mich bang. Denn es droht die Gefahr einer Begegnung mit ihm, und die hat gewöhnlich Folgen für meine körperliche Integrität, gerade dann, wenn Kalle Schwensen einem grundsätzlich freundlich gesinnt ist. 

Diesmal lud er mich ein, und zwar zu seinem „Hardcore-Fight-Event“ am 10. Juni. Wobei Kalle Schwensen unter „Einladung“, wie sich rasch herausstellte, etwas anderes versteht als der gemeine Durchschnittsbürger. Der gemeine Durchschnittsbürger nämlich hebt bei diesem Begriff erfreut die Braue, erwartet Freigetränke, ein von kurzberockten Promomodels dargereichtes Flying Buffet und generell einen Abend, an dem man auf die Mitführung von Bargeld getrost verzichten kann.

Nicht so bei Kalle Schwensen. Seine „Einladung“ bestand darin, dass ich für 600 Tacken seinem Freistilboxereignis hätte beiwohnen dürfen. Ich lehnte mit dem Argument ab, dazu sei ich zu zart besaitet. Außerdem habe ich gerade genug von Leuten, die K.O. gegangen sind. So wie neulich auf dem Tschaikowsky-Platz.

Ich war gerade dort eingebogen, als ich zwei Räder herumliegen sah, daneben zwei Menschen. Der eine war weiblich und saß verstört auf dem Boden, der andere, ein behelmter, etwas teigig wirkender Mann, lag einige Meter entfernt augenscheinlich bewusstlos auf Bauch und Gesicht und gab jämmerliche Stöhnlaute von sich.

Mehrere Personen stürzten herbei, ich zückte mein Telefon, wählte die 112 und meldete einen Fahrradunfall mit Verletzten. Man komme sofort, hieß es. Inzwischen war die Frau hinübergerobbt zu ihrem Kontrahenten, der wieder erwacht war und sich in eine sitzende Position gehievt hatte. Seine Beine lagen flach auf dem Pflaster des Tschaikowsky-Platzes, die Füße kippten nach außen.

„Der Notarzt ist gleich da“, sagte ich zu den Opfern, um ihnen in all ihrem Leid eine hoffnungsvolle Perspektive zu bieten. Die Frau schaute hoch. Am Kinn hatte sie eine Schürfwunde so groß wie ein Ein-Euro-Stück. „Nicht nötig“, sagte sie, „ich bin Ärztin.“

Das konsternierte mich. Wie konnte sie, auch wenn sie Ärztin war, wissen, was dem Mann fehlte – hätte er nicht über ein Schädel-Hirn-Trauma, einen Lungenriss, gebrochene Rippen oder derlei verfügen können? Und wer weiß, was sie selbst außer der Wunde am Kinn noch alles abgekriegt hatte. So was merkt man unterm Einfluss der unfallbedingten Adrenalinflut ja oft erst später.

„Aber der Notarzt sollte sich das schon einmal anschauen“, beharrte ich auf das übliche Procedere. Der Mann schüttelte kraftlos den Kopf, während er ins Leere starrte. „Nein, schon gut“, hauchte er. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, sagte die Ärztin mit nunmehr verärgertem Unterton und – zu dem Mann gewandt –: „Das ist bestimmt nur der Schreck, nicht wahr?“

Er nickte. „Vor allem für meine neue Hüfte.“

Anscheinend verstand diese Jüngerin Aeskulaps unter ärztlicher Sorgfaltspflicht etwas entschieden anderes als der gemeine Durchschnittsbürger, den ich dort, auf dem Tschaikowsky-Platz, bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit zu repräsentieren die Ehre hatte.

Aber was sollte ich machen? Mir blieb nur die Hoffnung, dass der Notarzt einträfe, ehe die Ärztin ihren hüftoperierten Schicksalsgenossen vom Ort des Geschehens weggeschafft hatte. Denn wahrscheinlich – so die Vermutung von Ms. Columbo, als ich ihr die Geschichte erzählte – trug sie die alleinige Schuld am Unfallgeschehen und wollte sich keiner Investigation stellen.

Aber wahrscheinlich werden wir das niemals erfahren, denn ich überließ die beiden ihrem Schicksal. Auch mein Fass hat Grenzen.

Foto: kalle-schwensen.de


06 Mai 2017

Die Unerträglichkeit meines Raschelns

Nach Fitnesskurs und Saunagang legte ich mich auf eine Liege und las die FAZ. Gerade war ich beim Feuilletonteil angelangt und wollte mich einem Text über Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ widmen, als sich jemand vor mich stellte und auf mich einzureden begann.

Zunächst zweifelte ich kurz daran, überhaupt gemeint zu sein, was mich den Anfang seiner Suada verpassen ließ. Weder kannte ich diesen Menschen, noch vermochte ich ihm – da gedanklich gerade der Welt Heimito von Doderers verhaftet – zu folgen. 

Doch er schaute mich beim Reden stier an, und sein Blick war alles andere als freundlich. Im Gegenteil: Mühsam gebändigter Ärger schimmerte ihm aus buschig überwölbten Augen, und sein fratzenartiges Eislächeln war blutrünstig.

Der Mann war, wie ich jetzt wahrnahm, ein über und über tätowierter Muskeldeutscher, rothaarig, mit Vollbart und Brilli im Ohr. Sozusagen die Hipstervariante von Arnold Schwarzenegger. Und nach und nach kristallisierte sich für mich auch so etwas wie Semantik aus seinem feurigen Bramabarsieren.

Es ging ihm nämlich um die Art, wie ich Zeitung las. Ich hatte, wie er mir in hastigen Wortkaskaden vorhielt, beim Umblättern geraschelt, und zwar unentwegt. 

Das konnte zwar so nicht ganz stimmen, denn immerhin hatte ich mich manchem FAZ-Text – zum Beispiel jenem Kommentar, der sich kritisch mit Erdogans Todesstrafenreferendumswunsch auseinandersetzte – durchaus längere Zeit gewidmet, in dieser Phase also durchaus wenig geraschelt. Aber sonst schon; schließlich war ich bereits im Feuilleton angelangt. Allerdings erschloss sich mir nicht sofort, warum mein raschelndes Blättern ein Problem sein sollte.

Er erklärte es mir in hochgradiger Aufregung. Mein Rascheln sei „unerträglich“, hielt der Muskelhipster mir vor, schließlich sei das hier ein „Ruheraum“, und wie ich es denn wohl meinerseits fände, wenn er plötzlich anfinge, Karaoke zu singen.

Die Situation schien mir recht absurd, die Diskrepanz zwischen seiner optischen Erscheinung und der Feinfühligkeit hinsichtlich des Umgebungsschalls fast komisch. Das wollte ich dem vor Ärger fast platzenden Bi- und Trizepswunder aber aus deeskalierenden Erwägungen so nicht unbedingt erläutern. Stattdessen machte ich ihn auf den Lautstärkeunterschied zwischen Rascheln und Karaokesingen aufmerksam, der doch recht beträchtlich sei.

Eine beschwichtigende Wirkung hatte dieser Einwand kaum, zumal er nicht mal richtig hinhörte. Er wolle mir „das nur mal sagen“, erregte er sich; gemeint sei das „nur mal so als Hinweis“ auf meine Rücksichts- und Gedankenlosigkeit. 

Dann warf er sich adrenalingetränkt auf seine Liege und ich hatte plötzlich keine Lust mehr auf Heimito von Doderer. Dafür umso mehr auf Sibylle Berg, die mich, was mir dank der heutigen Begegnung wieder einfiel, in ihrem Newsletter mal zärtlich „Raschelhufer“ genannt hatte. 

So nahm alles wieder mal ein versöhnliches Ende.


04 April 2017

Die beste Show der Reeperbahn ist kostenlos

Die Penny-Filiale auf der Reeperbahn darf seit einigen Jahren nicht mehr an sieben Tagen die Woche ihren Betrieb am Laufen halten, sondern muss leider sonntags dicht bleiben. 

(Ob sich für diese Zwangsmaßnahme die Gewerkschaften oder die Kirche dereinst vor ihrem Schöpfer verantworten müssen, ist mir entfallen. Wahrscheinlich war es eine Koalition der beiden.) 

Jetzt halt nur noch von Montag bis Samstag läuft dort jedenfalls die beste Show auf dem Kiez, und sie ist auch noch kostenlos. Es ist eine Freakshow, und je später der Abend, desto freakiger. 

Zum durch die Gänge defilierenden Kundenensemble gehören Teenies mit verschmiertem Lippenstift, Plappertransen aus der Schmuckstraße, tätowierte Testosteronsammelstellen mit dem Willen zum Billigbier, eher nicht nach Hermès duftende Pfandflaschenzausel, gegelte Hugo-Boss-Typen mit zu engen Kurzsakkos, teigige Prolls in Schnellfickerhosen, die Dicke von nebenan, ältere türkische Herren auf dem Weg zum Kültürverein oder der heimlich Avocados (zer)drückende Hausmann.

Alle sind sie da. Und alle treffen sich spätestens in den zuverlässig langen Schlangen vor den Kassen. Selbst die Leute, die in dieser Penny-Filiale arbeiten, sind bisweilen eher … nun ja, ungewöhnlich. Keine Ahnung, ob sie speziell dahingehend gecastet wurden oder sich im Lauf der Zeit allmählich – Penny-Jahre sind Hundejahre, meine Damen und Herren! – ihrer Klientel annäherten. 

Man darf dabei eins nie vergessen: Jeder, der diesen Laden betritt, wird unweigerlich selbst Bestandteil der Freakshow, ob er will oder nicht. Doch was immer man tut, wie immer man sich verhält, keinen hier kümmert’s auch nur die Bohne – selbst wenn man 30 Tafeln Schokolade auf einmal zunächst aufs Transportband und wenig später in eine Eastpak-Umhängetasche kübelt, nur weil der Einzelpreis heute dramatisch von 1,29 Euro auf 85 Cent abgesackt ist.

Leider selbst getestet.



23 März 2017

Ohne Worte

Eine Mail von DHL: Mein Paket sei bei einem Nachbarn abgegeben worden, und zwar in Chikos Kiosk, Seilerstr. 45. Unter Nachbar verstehe ich normalerweise jemand im gleichen Haus oder wenigstens in dem daneben, DHL scheint das allerdings ein wenig laxer zu sehen. Aber hundert Meter sind ja mühelos zu bewältigen. Auch vorm Rückweg ist mir nicht bange, denn ich erwarte keine Zwölferkiste Sauvignon Blanc, sondern nur eine Probebrille.

Also auf zu Chikos Kiosk, der mir bislang unbekannt war. Kein Wunder: Die kleinen Läden auf St. Pauli kommen und gehen, man sollte sich besser an keinen von ihnen gewöhnen, das lohnt sich nicht. 

Neben dem An- und Verkaufsladen für gebrauchte Weiße Ware geht es ein zwei, drei Treppen runter ins Souterrain. Ich betrete den winzigen Laden, in dem sich kein Kunde aufhält, aber alter Rauch ruhig weiter vor sich hin erkaltet. Mein Handy zeigt die Mail von DHL. Damit möchte ich bei Bedarf meine Legitimation nachweisen können. 

Ein sehr unrasierter, mit lichtem Haar geschlagener Mann hinter der dominanten gläsernen Vitrine sieht mich, und noch ehe ich den Sachverhalt vortragen kann, ruft er „Chiko!“, statt zu grüßen.

Was an meinem Auftreten verriet nur diesem gewitzten, jedoch nur rudimentär mit sozialen Skills ausgestatteten Menschenkenner, dass nicht er, sondern ausschließlich Chiko mir mit meinem Anliegen, was immer es auch sei, weiterhelfen können wird? Theoretisch hätte ja auch eine Tasse Filterkaffee das Ziel meiner Souterrainträume sein können.

Nach dem Ruf nach dem Chef widmet er sich jedenfalls nicht mehr mir, sondern irgendwelchen Tätigkeiten hinter der Vitrine, während ich warte und mich ein wenig fehl am Platze fühle, so mitten im winzigen Raum, umschwängert von kaltem Rauch. 

Dann aber Auftritt Chiko. Wortlos tritt er ein aus einem Hinterzimmer. Ein nicht großer, nicht kleiner Mann von schwer zu schätzendem Alter, jedenfalls unter 40. Parka, Fünftagebart, die Augen leicht zusammengekniffen, indifferenter Gesichtsausdruck. Und sagt kein einziges Wort. Chiko schaut nur. 

„DHL hat hier ein Päckchen für mich abgegeben“, sage ich und halte ihm das Smartphone hin, „für Wagner.“ Er schaut flüchtig aufs Display und verschwindet im Hinterzimmer. Wortkargheit scheint hier das Geschäftsmodell zu prägen. 

Wobei: Von Wortkargheit könnte man ja erst reden, wenn überhaupt welche fielen, also Worte. Ihre Anzahl ließe sich dann in mathematische Beziehung setzen zur Gesamtdauer der Kommunikation, und wenn man das Ergebnis vergliche mit einem handelsüblichen Durchschnittsdialog, so ergäbe sich in Relation etwas, was unter Wortkargheit kategorisierbar wäre. 

Schweigen allerdings ist mit solchen Kategorien nicht zu fassen. 
Du kannst nichts durch null teilen.

Chiko kommt zurück, in der Hand das Päckchen für mich, den „Nachbarn“. Er hält es mir hin, ich nehme es ihm ab. „Muss ich noch etwas unterschreiben oder so?“, frage ich unsicher. Schließlich muss man immer was unterschreiben, sonst bekäme DHL ein Problem, sonst könnte ich ja behaupten, ich habe das Päckchen gar nicht erhalten, ich könnte straflos Ersatz fordern, und am Ende hätte ich zwei Probebrillen. Oder zwei Zwölferkartons Sauvignon Blanc.

Chiko schließt für eine Millisekunde die Augen, während er mit der linken Hand eine winzige wegwerfende Geste macht. Dann dreht er sich um und verschwindet wortlos wieder im Hinterzimmer. 

Ich werde wohl niemals erfahren, wie Chikos Stimme klingt. 
Wahrscheinlich weiß das nicht mal DHL.