Ich treffe in der Großen Freiheit 36 meinen Freund Mark, ebenfalls Musikjournalist. Wir veräppeln uns manchmal, indem wir uns gegenseitig in Artikeln erwähnen. Er hat mal in der Welt oder im Hamburger Abendblatt geschrieben, ich würde in Puschen bei Konzerten auf dem Kiez auftauchen; ich habe enttarnt, dass er bei der Anhörung eines neuen Oasis-Albums eine Kotzgeste über den Tresen geschickt hat.
Wahrscheinlich steht es zwischen uns ungefähr 4:4. Gestern trafen wir uns, wie gesagt, in der Großen Freiheit 36. Das ist echtes Beatles-Kernland. Um die Ecke war früher der Starclub, im Souterrain residiert noch heute der Kaiserkeller, wo die Beatles einst ihre ersten Hamburger Gigs spielten. Und heute feiert die Große Freiheit 36 ihren 20. Geburtstag.
An der Kasse gibt es erst mal Kommunikationsprobleme, weil die Kirche gegenüber glaubt, ausgerechnet bei meiner Ankunft minutenlang lauthals bimmeln zu müssen. Wenn just die Tür der Tabledance-Institution Dollhouse ein paar Meter weiter offensteht (was sie wegen der einladenden Aussicht öfter tut), dann beeinträchtigen die Glocken jetzt gerade die Taktfrequenz der Striptease-Show.
Alles ist hier eben sehr nah beieinander – die Theater und die Tunten, der Sex und das Sakrale, Gott und GV. Und die Heilsarmee in der Talstraße wird friedlich umlagert von einer Phalanx schwuler Pornokinos. Drinnen in der Großen Freiheit hört man aber keinen Mucks mehr von der Kirche, sondern nur noch die mörderische Euphorie der schwedischen Band Moneybrother, die das letzte Konzert ihrer Tournee nutzt, um St. Pauli zu rocken. Der Saal ist eine Symbiose aus Bühne und vielen Tresen, von der Decke schicken Punktstrahler scharfe Lichtkegel, und in einen davon hält Mark sein Bier, was ein hübsches Motiv abgibt.
Im Foyer mache ich mir ein paar Notizen, und ein Typ Marke Banktresor – so hoch wie tief und breit – starrt mich dumpf an. Ich lächle, aber er verzieht keine Miene. Komisch. Draußen läuft ein Transvestit vorbei, schnappt sich einen der Große-Freiheit-36-Geburtstagsluftballons und bringt ihn zum Zerplatzen. Er lächelt beim Einbiegen in die Schmuckstraße. Ich frage mich seltsamerweise, was seine Eltern gerade über ihn denken. Und ob er manchmal darüber nachdenkt, was seine Eltern über ihn denken. Egal – Parallelwelten. So fern voneinander wie Erde und Mars.
Zwischen Mark und mir steht es weiterhin 4:4. Denke ich mal, denn ich weiß nicht, was er über den Abend in der Großen Freiheit 36 schreiben wird. Jedenfalls habe ich keine Puschen getragen, sondern schwarze italienische Lederslipper.