31 Mai 2010

Wie die Faschisten mit meiner Hilfe doch noch ihr Fett abkriegten



Micah P Hinson kommt aus Abilene, Texas, und er sieht aus wie der gemeinsame Stiefbruder von Woody Allen, Alfred E. Neumann und Elvis Costello: ein dürrer Bursche mit Segelohren und übergroßer Hornbrille.

Außerdem ist er einer meiner liebsten Singer/Songwriter überhaupt, was allerdings keine Mehrheitsmeinung ist, sonst wären heute Abend kaum nur rund 20 Leutchen ins Beatlemania-Museum an der Reeperbahn gekommen, um Hinson spielen zu sehen.


Besonders bewegend finde ich seinen Song „Dying alone“, den er für seine Frau schrieb, die während seines Vortrags still am Fenster saß und sich am Ende des Stücks gewissermaßen selbst beklatschte.


Leider war ich später die Ursache für einen kleinen Disput zwischen den Eheleuten, als ich Hinson fragte, ob der Slogan auf seiner Gitarre wirklich „This machine kills facists“ heißen solle, wobei mir die Vokabel „facist“ völlig unbekannt sei (was aber ü.b.e.r.h.a.u.p.t. nichts heißen will).


Er bekannte, natürlich „fascists“ gemeint zu haben, doch seine Gattin für die Verschriftlichung des Slogans zuständig gewesen und somit verantwortlich für das fehlende s sei. Dann wandte er sich an die Frau, für die er „Dying alone“ geschrieben hatte, und beklagte sich über den Rechtschreibfehler (den er aber ehrlich gesagt auch selbst hätte bemerken können), ehe er sich wieder mir zuwandte, um mir seinen aufrichtigen Dank auszusprechen.


Wenn also bei den
nächsten Hinson-Konzerten, für die ich hiermit eine dringende Besuchsempfehlung ausspreche, der klassische Woody-Guthrie-Spruch korrekt geschrieben auf seiner Gitarre auftaucht und er damit den Faschisten europaweit die Hölle heiß macht, dann ist nur einer dafür verantwortlich: moi.

Und das macht mich „ein Stück weit“ (M. Sammer) stolz.


PS: Da es „facist“ im Englischen (noch) nicht gibt, würde ich hiermit gerne eine Neueinführung initiieren, und zwar mit der Bedeutung „Hackfresse“.


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30 Mai 2010

Lenamanie vor der Haustür



Noch immer schwappen große Wellen Kakophonie ins Wohnzimmer.

Einzelne Elemente sind herausdestillierbar: brüstungerschütternde Bässe, Choräle euphorisierter Betrunkener („Lena, we love you!“ im Wechsel mit „St. Pauli, o-ho-ho!“), indifferentes Gegröle ohne genau bestimmbare Semantik, wildes Wut- und Empörungshupen sowie die Hysterie multipler Notarztsirenen.

Mehrfach im Jahr ist es von besonderem … äh … Reiz, neben dem Spielbudenplatz zu wohnen, doch wenn „wir“ gerade den Eurovision Song Contest gewonnen haben, dann halten auch doppeltverglaste Isolierfenster nur den gröbsten Krach draußen.

Wir sind also jetzt Papst, wir sind 1. Liga, und wir sind Lena. Auf die ein oder andere Weise manifestiert sich so ein Wirgefühl immer besonders heftig auf dem Kiez (außer beim Papst, natürlich). Eigentlich sollte ich jetzt rübergehen, mitten hinein ins Herz der Kakophonie. Einfach damit ich meinen Enkeln später mal erzählen kann, ich sei dabeigewesen.

Moment mal: Ich hab ja nicht mal Kinder.


Trotzdem.

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28 Mai 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (28): Reeperbahn 1



Hier liegen sie noch vibrierend vor Tatendrang herum, die bereits jetzt rostig schimmernden Stangen. Doch schon bald werden sie den tanzenden Türmen innere Stabilität verleihen.

Die Baugrube direkt eingangs der Reeperbahn ist die größte diesseits der Hafencity, und das ist natürlich alles wieder Gentrifizierung etc. pp., aber, meine Damen und Herren, ins Erdgeschoss dieses Hochhausbaus wird wer einziehen?

Der Mojo Club. Tja.

27 Mai 2010

Drei Kopfnüsse, nicht acht



Schon hoch oben von der Balustrade aus hört man, dass der Streit unten in der Zeisehalle nicht von schlechten Eltern ist. Es wird gebrüllt und geschimpft, doch es hallt zu sehr, um einzelne Worte zu verstehen.

Die Quelle des Streits liegt exakt dort, wo mein Fahrrad angebunden ist. Dort lagern nämlich auch dauerhaft drei Obdachlose, und sie scheinen Probleme zu haben. Oder zu machen.

Als ich zum Fahrrad komme, steht ein Sicherheitsmann telefonierend in der Nähe, während die Obdachlosen zetern. Keine Ahnung, worum es geht, doch die Sache scheint ernst.

„Dem verpass ich drei Kopfnüsse“, blökt der einarmige Zauselbart mit den schlechten Zähnen, „dann liegt der tot am Boden!“

Warum er exakt drei Kopfnüsse verteilen will und nicht zwei schon reichen oder es nicht vielleicht sogar acht sein müssen; warum er glaubt, als ungefähr 70-jähriges Hutzelmännchen einem drahtigen Sicherheitsmann aus dem fernöstlichen Sprachraum gefährlich werden zu können: keine Ahnung. Wahrscheinlich Erfahrungswerte.

Die Folgen des Streites werden jedenfalls bereits am Folgetag deutlich: Das Obdachlosentrio musste die Zeisehalle räumen, ihr Lagerplatz (Foto) ist verwaist. Die Hausordnung hatte ihren Aufenthalt eh schon immer untersagt, doch dieses Verbot wurde nie durchgesetzt. Nun aber, nach dem Streit mit dem Sicherheitsmann und der Kopfnussdrohung, wurde aus der Duldung ein Platzverweis.

Unschön für die drei, doch ein Gutes hat das ja: Der Platz unter der Wendeltreppe wird hinfort von olfaktorisch fragwürdigen Körperausscheidungen verschont bleiben. Dachte ich.

Die heute dort wie üblich anzutreffende taufrische Riesenlache muss wohl als Widerlegung gelten.


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26 Mai 2010

Espressomaschine in gute Hände abzugeben (schluchz)



Möchte vielleicht jemand aus dem geschätzten Blogleserkreis unsere etwa drei Jahre alte Nespresso-Kapselmaschine kaufen?


Es handelt sich um eine außerordentlich famose DeLonghi Cube, die stets klag- und tadellos funktionierte und das mit höchster Wahrscheinlichkeit auch noch sehr lange tun wird.

Dass wir sie (nur in gute Hände!) abzugeben bereit sind, liegt ausschließlich an einer besser ausgestatteten Neuanschaffung, mit der man auch Milch aufschäumen kann.

Aufgerufen sind schmale 80 Euro; für diesen Schnäppchenpreis muss sie allerdings persönlich auf der Rückseite der Reeperbahn abgeholt werden.

Schriftliche Bewerbungen bitte an die Mailadresse da oben rechts. Ob wir nach Chronologie oder Sympathie entscheiden, wird noch intern ausgewürfelt.


25 Mai 2010

Schäuble kann beruhigt in Rente gehen

Bahnsteig Reeperbahn. Ein massiger, mit Tüten beladener Grauschopf von ungefähr 60 (wohl nicht immer leichten) Jahren lässt sich ächzend rechts neben mir auf die Drahtbank fallen, so dass seine Massigkeit leicht über die Lehne lappt.

Beim Hinsetzen hat er sich hüftsteif nach vorn gebeugt und großflächig eine fleckig gerötete Region direkt nördlich seines Podex entblößt. Dabei konnte ich sehen, dass seine Hose von einem einzelnen mittigen Träger vorm Absturz gerettet wird.


Alles in allem kein Anblick, der das Pfingstwochenende ästhetisch retten könnte.

Als er sitzt, beugt er sich sofort zu mir rüber und erzählt von den Staatsschulden, die schon jetzt 1,7 Billionen betrügen („Haben Sie das auch gelesen?“) und im Zuge der diversen „Rettungsmaßnahmen“ (er spricht das Wort aus, als wäre es mit einem grüngelben Schmier bedeckt) in einigen Jahren geradezu zwangsläufig auf 8 Billionen anwüchsen („Verfolgen Sie das Ganze?“).

Der Mann ignoriert fröhlich, dass ich Kopfhörer trage, und die Versuchung ist groß, ihn barsch abzukanzeln, entweder mit einem „Lassen Sie mich in Ruhe, bitte“ oder dem oft erprobten vielsagenden Schweigen inklusive stierem Blick ins Nichts.

Doch ich entscheide mich heute für die dritte Variante, für Ahas und Sosos, für Jas und Hmms und andere einsilbige Knappheiten, die, wie ich hoffe, in ihrer Frequenz und Ausschließlichkeit höflich, doch hinreichend deutlich Desinteresse vermitteln, ohne auch nur einen Zeh aufs gefährliche Feld der Ermunterung zu setzen.

Diese Taktik aber hält ihn keineswegs von weiteren wirtschaftspolitischen Einlassungen ab – und plötzlich sehe ich entsetzt meine rechte Hand den rechten Ohrhörer rausnehmen. Eine Geste, die weit mehr als nur einen Zeh aufs gefährliche Feld der Ermunterung setzt; es ist geradezu ein Sprung mit beiden Beinen mitten hinein in die Botschaft „Erzählen Sie ruhig weiter, ich habe selten so interessante Informationen über die Eurokrise gehört, wissen Sie eigentlich, dass unser Finanzminister siech ist und Merkel wahrscheinlich schon dringend nach Ersatz sucht? Wissen Sie das eigentlich?“.

Und genauso versteht der massige Mann auch meine Geste. Unmöglich kann ich sie jetzt wieder rückgängig machen und den Ohrhörer rechts wieder einstöpseln, denn das liefe umso deutlicher auf ein barsches Düpieren hinaus, was ich ja nun gerade in einem Anfall von Pfingstfriedfertigkeit vermeiden wollte.

Ich hänge also selbstverschuldet in der Falle, ausweglos – doch da kommt zum Glück die Bahn, und er verabschiedet sich wortreich („8 Billionen, denken Sie dran!“), wuchtet sich hoch, zeigt mir zum Abschied noch einmal seinen entblößten unteren Rücken und steigt ein.
Andernfalls, das muss ich zugeben, wäre ich in diese Bahn eingestiegen, obwohl erst die nächste meine war.

Mit meiner rechten Hand muss ich jetzt dringend mal ein ernstes Wörtchen reden.


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23 Mai 2010

Die Stille nach dem Schluss



Ms. Columbo und ich sind mit schuld an diesem Desaster. Denn nur zwei-, dreimal im Jahr betraten wir Real, den supersten Supermarkt von St. Pauli, wenn nicht von ganz Hamburg.

Fußballfeldgroß ruht der Gebäudetrumm am Neuen Kamp wie der Ayers Rock vom Kiez, und jetzt hat er dichtgemacht. Heute war der letzte Tag, der Ausverkauf läuft seit Wochen. Deshalb gab es nur noch die Reste der Reste.

Hier zeigte sich in schonungsloser Offenheit, was die Akteure der Konsumgesellschaft nun wirklich nicht haben wollen, was selbst für Nachlässe von 60 Prozent nicht mehr an den Mann (oder Hund) zu bringen ist.

Zum Beispiel Jever Fun, Matschtomaten, Mülleimerdeo, Punicasaft, der „Sanitas Insektenstichheiler“, Plastikbeißknochen oder die „Pillenbox Vergiss nix“. Auch Bettwäsche des FC Bayern lag bleiern herum, dabei stand doch das Champions-League-Finale noch bevor.

Traurig schlichen die Bediensteten durch die Ödnis der Regalreihen, niedergedrückt von einer ungewissen Zukunft. Einer schob mit leerem Blick die letzten Flaschen Rosé zusammen. Einst hatte die Plörre 3,79 gekostet, jetzt 40 Prozent weniger, trotzdem blieb sie unbeachtet.

Leider war der Single Malt Scotch längst weg und die übriggebliebenen Pistazienkerne lediglich um zehn Prozent rabattiert. Statt die Leiche auszuweiden, fotografierte ich also nur ein wenig herum – die Tristesse der leeren Regale, die Traurigkeit am Ende des Tages, die Stille nach dem Schluss.

Vielleicht sieht es so irgendwann mal in allen Supermärkten aus, vielleicht ist Real die düstere Avantgarde, wer weiß das schon.

Hol deine Schäfchen ins Trockene, flüsterte es von irgendwo, doch dieser gute Rat kam nicht aus dem Supermarktradio, dessen terroristisch optimistische Promoterstimmen noch immer irgendwelche Sonderangebote anpriesen, als gäbe es kein Morgen.

Und das gibt es ja auch nicht.


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19 Mai 2010

Die 110-Millionen-Yacht

Eigentlich wollten wir nur über den Panoramaweg spazieren und die Aussicht auf den ins erste Frühlingsabendlicht getunkten Hafen genießen. Doch dann sahen wir dieses Schiff an den Landungsbrücken – und mussten hinabsteigen für nähere Inaugenscheinnahme.

Es handelte sich um die Privatyacht Radiant. Eigentlich gehört so ein Prachtstück gar nicht an die Landungsbrücken, wo sie die Gesellschaft von „König der Löwen“-Fähren erdulden muss. Doch sie ist schlicht zu lang für den Yachthafen.

Jeder Meter dieses atemberaubend schnittigen Gerätes kostet eine Million Euro; die Radiant misst 110 davon. Damit ist sie angeblich die sechstteuerste Yacht, die je gebaut wurde. Ein arabischer Scheich soll sie besitzen, arbeiten lässt er aber augenscheinlich nur Asiaten.

Einer feudelte die putzige Gangway, und er tat das wie einer, der das Feudeln lediglich imitiert, nämlich einhändig. Wahrscheinlich sollte nicht sofort auffallen, dass er gerade gar nichts zu tun hatte und sich einfach nur sonnen wollte in der Aufmerksamkeit von Ms. Columbo und mir. Das gelang ihm freilich nicht, wie der letzte Satz beweist.

Während wir dem Feudler zuschauten, fragten wir uns, ob es wirklich glücklich machen kann, eine 110-Millionen-Euro-Yacht mit zwei Pools, Hubschrauberlandeplatz, Wasserkanone und Feudelimitator zu besitzen.

Nun, ich denke schon.

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18 Mai 2010

Frau M. im Glück



Gestern Nachmittag um zwanzig nach fünf fand ich mitten auf der Clemens-Schulz-Straße in der Nähe der abgebildeten Bausünde (barocker Dunkelholzkitsch an Graffitiklinker – hallo???) eine prallgefüllte Börse.


Geld war bis auf ein paar Münzen keins drin, aber sonst alles, vom Führerschein über Krankenkarte bis zum Adressbüchlein und Sportspaßpass. Alles, nur keine Telefonnummer der jungen Besitzerin, einer gewissen Katarzyna M.

Also rief ich bei Sportspaß an und bat darum,
Katarzyna M. anzurufen, damit sie wiederum mich anrufen und ihre Börse zurückerhalten könne. Es ging schließlich um Minuten: Ich wollte M. ersparen, alle Karten sperren zu lassen und die Börse erst danach unbeschadet zurückzuerhalten. So was ist bei aller Glimpflichkeit ja besonders ärgerlich.

Wenig später rief Sportspaß zurück: Sie hätten eine falsche Nummer, unter diesem Anschluss gäbe es keine Frau M. mehr. Also rief ich bei der BKK Mobil Oil an mit der Bitte, Frau M. anzurufen, damit sie mich anrufen etc. …

„Frau M.“, sagte die Telefonistin der BKK Mobil Oil nach kurzer Datenbankrecherche, „ist schon länger nicht mehr Mitglied bei uns. Bitte zerreißen Sie die Kundenkarte!“ Na klar, ich zerreiße fremdes Eigentum – was denkt die Öl-BKK eigentlich von mir?

Die Telefonistin, der ich das Nichtzerreißen der Kundenkarte vorsorglich verschwieg, versprach umgehend Frau M. anzurufen, und nur wenig später rief mich zwar nicht Frau M., doch immerhin ihre Mutter zurück. Mit perfektem polnischen Akzent schwankte sie wortreich zwischen „Was makt diese Kint nurr immerr!“ und „Ville, ville Dank!“.

Eine Stunde später stand schließlich M. höchstselbst vor unserer Wohnungstür, in Begleitung einer Freundin mit Gipsarm und entzückender Schneidezahnlücke. Glücklich nahm sie ihre Börse wieder in Empfang.

Ihr „Vielen, vielen Dank!“ war völlig akzentfrei. Ein sehr schönes Beispiel für gelungene Integration.


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17 Mai 2010

Whitney, der einsamste Geist der Welt

Kaputte Typen sind interessanter als perfekte. Deshalb habe ich zeitlebens lieber Tom Waits gehört als Celine Dion.

Whitney Houston ist für mich erst interessant, seit sie kaputt ist. Sollen die ganzen Oberschlauen doch zeternd rausgehen und zu Hause Katherine Jenkins auflegen, wenn Whitney die Töne nicht mehr trifft. Sollen sie doch. Ich nicht.

Jede Kunst, sofern sie ein Quentchen Relevanz hat, handelt vom Scheitern. Nichts ist langweiliger als Perfektion. Und wenn Whitney Houston schon nach zwei Stücken schwitzt wie ein Boxer, wenn sie dicklich und aufgeschwemmt und steifärschig über die Bühne walzt, wenn sie verzweifelt anfängt, Autogramme zu schreiben, weil sie einfach nicht mehr genug Luft bekommt, um weiterzusingen, dann ist das tausendmal berührender als jedes perfekt intonierte Gefühl, das sie damals in „I will always love you“ zu empfinden vorgab.

Inzwischen kämpft Whitney Houston, die heute Abend in der O2-Arena am Mikro stand wie der einsamste, bleicheste Geist der Welt, öffentlich um ihre Würde, vielleicht sogar um ihr Leben. Und das hat in seiner ganzen Kaputtheit so was wie: Größe.

(PS: Ok, wahrscheinlich würde ich anders reden, wenn ich 80 Euro bezahlt hätte. Hab ich aber nicht.)


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15 Mai 2010

Fundstücke (81): Deppenleerzeichen galore



Kommentar von Ms. Columbo zu dieser doppeltdepperten Bremer Kirchenschreibweise:

„Die haben offensichtlich das Fragezeichen vergessen.“

14 Mai 2010

Das Kabinett des (Unbe)Hagens

Zwei Tage in Bremen, zwei makabre Tage.

Während unseres gebuchten Rundgangs lenkt der Stadtführer unsere Aufmerksamkeit auf den Bleikeller. Dabei handelt es sich um eine Grabkammer mit der speziellen Marotte, automatisch Leichen zu konservieren.

Irgendwie hat das was zu tun mit Salmiak, fehlender Luft und zuviel Blei; jedenfalls liegen dort Menschen von ledriger Konsistenz aus dem 30-jährigen Krieg herum, die sich zu Lebezeiten bestimmt nicht hätten träumen lassen, irgendwann einmal in Glassarkophagen ihr schlechtes Gebiss herzeigen zu müssen.

Noch drastischer geht es allerdings in der Körperweltenausstellung des Anatomen Gunther von Hagens zu, die wir am Folgetag besuchen. Er hat seine Leichen, wie bestimmt alle Blogleser wissen, mit einem dauerhaft aushärtenden Kunststoff unverwesbar gemacht, was er „Plastination“ nennt.

Dieses Verfahren erlaubt zweifellos faszinierende Einblicke in den Auf- und Abbau unserer Anatomie. Doch von Hagens hat nicht nur didaktisches Interesse an der Laienbildung. Oft nämlich inszeniert er seine gehäuteten, entbeinten Toten als Sportler, Musiker, Wellenreiter; eine Seiltänzerin stemmt ihr komplettes Innenleben in die Höhe, während sie balanciert. Und ein Paar sitzt doch wahrhaftig da und kopuliert (sie rück- und rittlings oben).

Bei soviel rein ästhetisch motiviertem Exhibitionismus wird einem doch mulmig zumute. Hätten diese Menschen, als sie einst den Körperspendeausweis unterschrieben, sich das vorstellen können? Manche stehen sogar frei zugänglich im Raum, man kann ihnen obszön nahekommen, sie anfassen, und es gab Besucher, die entblödeten sich nicht, das auch zu tun.

Mehrfach wird man während des Rundgangs aufgefordert, sich selbst completement zu spenden, damit man später ebenfalls plastiniert, auseinandergenommen, ausgestellt und von Besuchern aus aller Welt begafft und betatscht werden kann.

Mir aber wäre dabei höchst unbehaglich zumute. Hauptsächlich wegen eines imaginierten Dialogs, den meine dunkle Fantasie einfach nicht mehr los wird. Er geht ungefähr so:

von Hagens: Hey, Quasimodo, wir brauchen für die nächste Ausstellung noch einen schlanken und doch muskulösen Mitteleuropäer in den besten Jahren. Ist da jemand in unserer Körperspenderdatei?
Quasimodo: Ja, Boss. Lebt (leider noch) in Hamburg, mitten auf dem Kiez.
von Hagens: Fantastisch, Quasimodo! Sagst du bitte German Psycho Bescheid, wir bräuchten das Exponat in spätestens drei Wochen?
Quasimodo: Klar, Boss. Aber ich würde auch gern selber mal wieder …
von Hagens: Na gut, ausnahmsweise. Aber mach nicht wieder so ne Sauerei wie beim letzten Mal. Da war ja nix mehr von zu gebrauchen.
Quasimodo: Sicher, Boss, ich pass schon auf. Hehehe.

Na ja, und deshalb habe ich mich am Ende doch gegen eine Körperspende entschieden.

Nach soviel morbidem Blogstoff ist ein erheiternder Abschluss Pflicht. Und was wäre besser geeignet, die Stimmung aufzuhellen, als der oben dokumentierte Tippfehler?

Die asiatische Lebensmitte gegen das Kabinett des (Unbe)Hagens: Da geht man doch ganz anders ins Wochenende.

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13 Mai 2010

Fundstücke (80): Lose Zusammengekehrtes



1.
Dem von mir 2008 entdeckten Munch-Baum im Park an der Hospitalstraße hat irgendwer das Maul gestopft. Hoffe, ich war nicht schuld.

2. Wenn die Zahl der Sky-Kunden weiter im gleichen Maße wächst wie im letzten Quartal (plus 1000 …), dann braucht der mitleiderregende Sender fürs Erreichen seiner Zielvorgabe (2,8 Millionen!) nicht wie geplant bis zum Frühjahr 2011, sondern exakt bis Juni 2393. Habe ich gerade ausgerechnet.

3. Kramer gelang heute aus der Lameng ein Aphorismus, der zwar auf meine Kosten ging, doch es absolut wert ist, für die Nachwelt bewahrt zu werden: „Wer sich den Stock nicht aus dem Arsch ziehen kann, muss halt immer stehen!“, entfuhr es überraschend dem gemeinhin als Wuselkopf bekannten Kollegen. Und dann dampfte er aus dem Büro und ließ mich allein mit dem Echo. Hmpf.

4. Seit ungefähr zehn Jahren besuche ich Konzerte in der Fabrik, filme und knipse lustig mit – und entdecke nun ein genau dieses Verhalten strikt untersagendes Verbotsschild am Eingang. Jetzt weiß ich, wie sich ein rückwirkendes schlechtes Gewissen anfühlt. Na gut, eigentlich doch nicht.

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12 Mai 2010

Fundstücke (79): Immer schön scho(h)nen

Nach „Coffee to go“ (statt zum Trinken!) sowie einem kompletten „Café to go“ gibt es mitten auf St. Pauli (nämlich in der Paulinenstraße) jetzt auch einen „Gebetsteppich to go“.

Seine Zusatzfunktion als „Schuh Schohner“ erschließt sich mir nicht sofort, aber vielleicht ja den Schoschonen.

PS: Ein echtes Killerprodukt wäre hingegen ein „Gebetsteppich to fly“. Aber den baut mal wieder keiner.

11 Mai 2010

Warum Jonathan Jäger nie Nationalspieler wird



Gewidmet der verehrten Frau Nihilistin


Neulich vertrat eine ansonsten nicht sonderlich mit Fußballfachwissen gesegnete junge Frau mir gegenüber die These, Kicker mit Tiernamen hätten größere Chancen, in die Nationalmannschaft berufen zu werden als andere.

Eine verblüffende These, über die ich noch nie nachgedacht hatte. Beim ersten Check fielen mir allerdings sofort aktuelle Belege ein, Leute wie Adler, Butt oder Schweinsteiger.

„Hummels“, ergänzte die Frau. Das ist zwar nur ein Perspektivspieler, aber verdammt: Sie hat Recht. Selbst im zunächt unverdächtigen Namen Jérôme Boateng versteckt sich bei näherem Hinsehen eine Riesenschlange.

Bei anderen ist es kein Wunder, dass sie nicht spielen, denn knapp daneben ist auch vorbei, nicht wahr, die Herren Hunt (Bremen) und Pander (Schalke)? Das gilt leider, leider auch für einen erst 20-jährigen Mittelfeldmann meines FC St. Pauli, nämlich Dennis Daube.

Der Frankfurter Dauerläufer Patrick Ochs hingegen dürfte
ein Mann mit Perspektive sein, während Hendrik Hahne (Hannover 96), Christian Fuchs (Bochum) und Andreas Wolf (Nürnberg) zwar nominal zu den schönsten Hoffnungen Anlass gäben, doch das Gesamtumfeld einfach nicht stimmt.

Im Lichte dieser Betrachtungen ist natürlich auch völlig klar, warum ein begabter Fußballer wie der Freiburger Jonathan Jäger unter einem Trainer Löw (!!!) niemals eine Chance kriegen wird.

Übrigens wird mir jetzt gerade bewusst, dass Messi doch nicht der beste Spieler der Welt ist. Sondern selbstverständlich …

… ROBBEN!


(Hausfassade entdeckt an der Langen Reihe in St. Georg)


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10 Mai 2010

Die Aufstiegsparty

Hunderttausend Fans sollen heute auf dem Kiez den Aufstieg des FC St. Pauli gefeiert haben. Viele davon zeigten sich vom gestrigen Blogeintrag erleichtert und starteten den Tag mit dem Düngen der Botanik.

Am Ende aber läuft so ein Tag, so wunderschön wie heute, natürlich immer auf Tomatensoße hinaus. Doch der Reihe nach …












09 Mai 2010

Manche Leute verstehe ich einfach nicht (4): Pissoirdesigner



Bereits mehrfach wurde an dieser Stelle Kiezpinklern mit grobem Unverständnis begegnet.

Mehrfach verwies ich – wengleich ohne Hoffnung auf Gehör bei der angesprochenen Klientel – mahnend auf die inzwischen in fußläufigem Abstand erreichbaren Pissoirs entlang der Reeperbahn, die es auch Männern, die unter Druck stehen, mühelos ermöglichen, auf sozial kompatiblem Wege innere Entspannung zu finden.

Seit gestern aber bin ich etwas kleinlauter. Da saß ich nämlich auf der Reeperbahn im Bus und im Stau. Wir hielten direkt neben einem der angesprochenen Pissoirs, und der Blickwinkel aus meinem Fenster war derart, dass ich direkt hineinschauen konnte.

Drinnen stand ein unbescholtener Mann vorm Rinnbecken, der alle Hände voll zu tun hatte. Als wenn er meinen Blick im Rücken gespürt hätte, drehte er sich plötzlich um und schaute mich an. Ein peinlicher Moment, für uns beide.

Während er fahrig vorne herumnestelte, füllte sich sein Blick mit Scham und Verzweiflung; er schaute wie ein Bischof, den der Papst gerade beim Onanieren erwischt hat. Und das mit Recht: Immerhin beobachtete nicht nur ich ihn gerade beim Pieseln, sondern eine ganz Breitseite Busgäste.

Meine bisherige Begeisterung über diese Pissoirs hat sich seitdem stark abgekühlt. Ich habe ihre Milchglaskonstruktion heute noch einmal als Fußgänger in Augenschein genommen und festgestellt: Man kann wirklich auch vom Gehweg aus reinschauen, ohne sich besonders verrenken zu müssen.

Während man die ganz normalen Haus-und-Zaun-Bepinkler wenigstens noch mit genussvoller Empörung verdammen kann, bleibt einem bei den armen exhibitionierten Wichten im Glaspissoir nur verkniffene Fremdscham, und das ist ein sehr viel unschöneres Gefühl.

Wer hat diese Dinger eigentlich designt – ein Spanner?

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08 Mai 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (27)



Der Hamburger Hafen ist meines Wissens das weltweit einzige Geburtstagskind, dessen Wiegenfest immer auf ein Wochenende fällt. Und zwar jedesmal auf das verregnetste Maiwochenende seit Störtebekers Ableben.

Diesmal wieder. Deshalb gibt es heute zur Aufmunterung ein Foto der Landungsbrücken aus besseren Tagen.

Genau an dieser Stelle ist zurzeit übrigens kein Durchkommen mehr, trotz des kältesten Maiwochenendes seit Störtebekers Ableben.

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07 Mai 2010

Handys sind großartig – aber aus anderen Gründen

Nicht weit weg vom Levantehaus (Foto) in der Mönckebergstraße wühlt eine Frau, die buchstäblich so breit ist wie hoch, barhändig tief in einem Mülleimer. Doch was auch immer sie sucht, sie wird nicht fündig.

Dann wendet sie sich umstandslos einer offenen Telefonzelle direkt neben dem Mülleimer zu – und nimmt mit der gleichen Hand, die gerade noch tief im Müll steckte, den Telefonhörer ab, ehe sie (vergebens) nachschaut, ob Münzgeld im Ausgabefach vergessen wurde.

Der überragende Nutzen der Inidividualtelefonie ist mir noch nie so klargeworden wie in diesem Moment.


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06 Mai 2010

Wie Mediamarkt den Konkurrenten Medimax auskontert

Aus der Mopo fällt mir am Montag der neue Medimaxprospekt entgegen. Er offeriert die Blu-ray-Version des zauberhaften Pixarfilms „Oben“ für noch zauberhaftere 12 Euro, und ich begebe mich schnurstracks ins Mercado nach Ottensen, um ihn zu erwerben.

Im Laden finde ich ihn nicht und wende mich an den Kassenmann. Beim Stichwort „Oben“ sackt er merklich in sich zusammen – wie jemand, dem man diese Frage heute nicht zum ersten, sondern zum hundertsten Mal stellt.

„Leider schon ausverkauft“, antwortet er erschöpft. „Dienstag oder Mittwoch kommt er wieder rein.“ Zeit für eine Belehrung. „Aber Sie bewerben das Produkt doch in Ihrem Prospekt“, sage ich, „dann sollten Sie ihn auch in ausreichenden Mengen vorrätig haben. Andernfalls“, demonstriere ich gesundes Halbwissen im Wettbewerbsrecht, „wäre das ein Lockvogelangebot.“

Der Medimaxmann sackt noch tiefer in sich zusammen, was bei seiner hageren Statur und dem farblosen Teint beinah mitleiderregend wirkt. Doch mir gelingt es ganz gut, die aufkeimende Empathie niederzukämpfen. „Wie gesagt“, seufzt er, „Dienstag oder Mittwoch.“

Na gut, dann eben nicht. Also gehe ich mal schauen, was der Mediamarkt um die Ecke zur „Oben“-Frage sagt. Unter O ist die Blu-ray aber nicht zu finden. Ich spreche einen Verkäufer an. Er sucht, blättert und findet „Oben“ schließlich ganz hinten unter P.

„Hier“, sagt er und reicht mir die Scheibe mit der gelangweilten Lässigkeit desjenigen, der einen anderen zur eigenen Freude bei einer lässlichen Dummheit ertappt hat. Ich schaue aufs Preisschild. Dort steht 22,99 Euro. Zweiundzwanzigneunundneunzig.

„Bei Medimax“, trumpfe ich unter geflissentlichem Verschweigen ihres dortigen Ausverkauftseins auf, „gibt’s die für 12.“ Weiterhin erstaunlich gelangweilt schaut mich der Verkäufer an. „Kein Problem“, sagt er, „dann eben 12.“

Ich bin sturzverblüfft und reiche ihm den Film, als er mir wortlos fordernd die Hand entgegenstreckt. Wir gehen zu Kasse. „Wissen Sie“, erläutert er beim Klappern auf der Tastatur, „wir sind da sehr kulant. Sobald die den Prospekt rausbringen, passen wir sofort die Preise an.“

Er zuppelt das 22,99-Schild vom Cover und reicht mir die Disc. „Im System ist der neue Preis auch schon drin. Kein Problem.“ Ich trotte zur Kasse, der Scanner blinzelt über den Strichcode, und das Display zeigt wahrhaftig 12 Euro an, nicht 22,99.

Medimax legt der Mopo also für einen wahrscheinlich fünfstelligen Betrag ein Riesenfaltblatt bei – und generiert damit wegen dilettantischer Einkaufspolitik Umsätze beim größten örtlichen Konkurrenten.

Manchmal liebe ich den Kapitalismus.

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05 Mai 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (26)

Dies möge als erster Versuch einer Frühlingsbeschwörung gelten. Und hoffentlich als letzter.

Zu sehen: der Palmenplatz am Pinnasberg mit Blick auf die Docks.

04 Mai 2010

Die richtige Entscheidung



Am Samstag wollte ich in Köln die Chance nutzen und spontan das letzte Saisonheimspiel des 1. FC gegen Freiburg besuchen. Dem Geißbockverein nämlich hänge ich seit Jahrzehnten bedingungslos an, in guten wie in bösen Zeiten. (Kölnfans wissen, welche Zeiten zuletzt überwogen; sie wissen aber auch, wie charakterbildend es sich auswirkt, in diesem Schicksal gefangen zu sein. Bayernfans werde das niemals begreifen.)

Das Maritim hatte für die Teilnehmer der Pressereise zwar eine Führung durch den Dom (Foto) organisiert, doch ich dachte mir, in einer Stadt mit genau zwei überzeitlichen Kulturdenkmälern – dem Dom und dem 1. FC – sei es im Grunde egal, für welches ich mich entschiede. Also schwänzte ich den Dom, schlich mich stattdessen in die Straßenbahn und landete kurz vorm Anpfiff an der Haltestelle Rhein-Energie-Stadion, wo mich nach menschlichem Ermessen bereits eine Armada Schwarzhändler mit Offerten hätte behelligen müssen.

Der Maritim-Rezeptionist hatte mir noch geraten, nicht direkt an der Haltestelle zu kaufen, sondern eher am Stadion: „Ist billijer.“ Doch hier standen nirgends konspirativ dreinschauende Dunkelmänner mit hervorblitzenden Ticketbündeln herum, mit denen ich in Last-Minute-Verhandlungen hätte eintreten können.

Am Stadion allerdings auch nicht, aber dafür Markus, ein FC-Fan von Mitte 20, dessen Blick bereits jetzt, um 15:25 Uhr, kölschvernebelt war. Er wollte ebenfalls auf den letzten Drücker noch Karten, und wir wurden sofort ein Team. Markus erzählte mir mit einer Stimme, die seinem Blick kongenial enstprach, so was hätte er noch nie erlebt. Normalerweise stünden hier immer Schwarzhändler, und 20, 25 Euro hätte er auch ausgegeben. So aber bliebe uns nur noch eine Sky-Kneipe.

Als er hörte, ich sei aus Hamburg, steigerte sich seine Begeisterung ins Unermessliche. „Aus Hamburg?“, jubelte er lauthals, „dat jibt’s nit: Meine Freundin is aus Hamburg!“ Wie sich herausstellte, stimmte das geografisch nicht ganz, sie kommt nämlich aus Ahrensburg, und das liegt in Schleswig-Holstein. Vom Rhein aus betrachtet ist das aber wahrscheinlich alles Südschweden.

Wie auch immer: Von nun an hatte ich bei Markus mindestens so viel Steine im Brett, wie der FC diese Saison Auswärtspunkte geholt hat. „Dat jibt’s nit: Du kommst aus Hamburg? Wie meine Freundin!“

Wir schlingerten zur Kneipe, wo bereits einige Dutzend Kölnfans vorm Flachbildfernseher standen, Kölsch tranken und auf ihre Mannschaft schimpften. Natürlich lief nicht die Konferenz, sondern das Kölnspiel. Bald nach unserer Ankunft fiel das 1:1 für Freiburg, was die Stimmung insgesamt verschlechterte.

Nicht so bei Markus. „Wat han wir ’n Glück, dat wir die 20, 25 Euro jespart han!“, grölte er mir freudestrahlend ins Ohr. „Dat is doch viel schönor, hier jemütlich Kölsch zu schlabborn!“ Wo er Recht hat.

Vom Spiel bekam ich nicht viel mit, denn immer wieder musste Markus seiner Begeisterung über meine Herkunft ekstatisch Ausdruck verleihen. „Dat jibt et nit, aus Hamburg!“, rief er, als müsse er eine halbe Fußballplatzlänge sonisch überbrücken, dabei sorgte er während des kompletten Spiels für eine maximale Distanz von acht Zentimetern zwischen seinem Mund und meinem Ohr.

Dann orderte er noch zwei Kölsch. „Aus Hamburg!“ Er schüttelte fassungslos den Kopf und umarmte mich ungelenk, während im Hintergrund das 1:2 fiel und das Schimpfen der Fans kurz aufwogte, um alsbald paralytisch zu verebben.

Kurz vor Schluss schoss Freis den Ausgleich. Jubel, Trubel, noch ’n Kölsch. Zwischendurch wurde ich immer wieder von Markus’ Beileidsbekundungen wegen des Ausscheidens des HSV aus der Europa League überschüttet. „Dat tut mir soooo leid, ächt“, sprühnebelte Markus.

Ich hatte es nach drei vergeblichen Versuchen aufgegeben, ihm noch einmal zu erklären, dass man als St.-Pauli-Fan auf eine HSV-Niederlage nicht gerade mit äußerster Bestürzung reagiert. „Aber für den deutschen Fußball ist dat schlächt“, hatte Markus beharrlich eingewandt, und natürlich hatte er Recht.

„Aus Hamburg, wie meine Freundin, dat jibt’s nit!“, sagte er plötzlich wieder und wollte das wiederholt mit einer Runde Kölsch begießen, doch ich wand mich aus der allmählich bedrohlichen Promillespirale mit dem wahrheitsgemäßen Argument, ich müsse abends noch auf eine Weinprobe.

„Eine Weinprobe! Is dat jeil!“, schrie Markus mir aus acht Zentimetern ins Ohr. Er hingegen, gelang es mir semantisch aus seinen weiteren Ausführungen herauszudestillieren, werde jetzt auf eine Tour durch die Brauhäuser der Altstadt gehen. Kösch schlabborn.


Im Hotel war die Weinprobe zum Glück nur eine Option. Ich entschied mich stattdessen kölschvernebelt dafür, dem Koch dabei zuzusehen, wie er 30 lebende Flusskrebse in siedendes Wasser warf.


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03 Mai 2010

Erblasser gesucht



Unfassbar wahr: Mein FC St. Pauli steigt nach dem Sieg in Fürth in die erste Liga auf! Das ist da, wo die Bayern spielen und nicht Paderborn.

Ab August werden unsere Stadtteilkicker also nun Robben an die Kette legen, Lahm live aufm Platz erklären, was Nomen est Omen übersetzt bedeutet, und Ribéry vorm Spiel aus teuflisch-taktischen Gründen die Standorte der attraktivsten scheinbar 17-jährigen Huren stecken (Davidstraße; aber nicht petzen).

Dieser Aufstieg ist praktisch noch schöner als das längst legendäre 3:1 im Schnee gegen Bremen. Prophylaktisch wurde daher heute Abend die Reeperbahn gesperrt, dabei weilt die Mannschaft noch in Franken. Was am kommenden Sonntag ab 17 Uhr nach dem letzten Heimspiel hier los sein wird, mag man sich gar nicht ausmalen. Für Kiezbewohner gibt nur zwei Möglichkeiten: fliehen oder mitfeiern. Mal sehen, was Ms. Columbo zu dieser Auswahl sagt.

Für mich allerdings tropft ins Meer der Euphorie der seit Jahren übliche Wermutstropfen: Ich werde auch für die kommende Saison keine Dauerkarte bekommen.

Wer also vererbt mir eine? Bitte nur ernstgemeinte Angebote.

Foto: FC St. Pauli


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02 Mai 2010

Das Beinahende der Oliver-Pocher-Show



Erbte ich zufällig eine Hotelkette, so böte ich direkt nach Bett, Klo und Dusche als viertes Killerfeature jedes Zimmers freies WLAN an, und zwar noch vor Minibar und Pornos.

Da ich die Maritim-Kette zufällig noch nicht geerbt habe, ist das hier aber anders, und das Hotel räumt T-Mobile die Lizenz zum Schröpfen ein. Acht Euro pro Stunde will der rosa Wucherer fürs drahtlose Web – und kriegt sie natürlich nicht, zumindest nicht von mir.

Beim Maritim hat man schlicht noch nicht begriffen, dass viele Gäste ihr Hotel danach aussuchen, ob sie nach Lust und Laune im Internet surfen können. Doch auch dieses altehrwürdige Familienunternehmen wird irgendwann im 21. Jahrhundert ankommen, da bin ich mir sicher.

Lautsprecher neben dem Bett gibt es jedenfalls längst, und die wurden vergangene Nacht gegen halb 3 hochaktiv. Zunächt gab es einen Alarmton, der uns aus dem Tiefschlaf unvermittelt in eine kerzengerade Sitzhaltung zwang. Dann sagte eine Stimme ungefähr das:

„Es gibt ein technisches Problem, bitte verlassen Sie SOFORT das Hotel. Benutzen Sie NICHT die Aufzüge.“

Wortlos zogen wir uns an, trotteten raus auf den Flur und folgten schweigend einem vierschrötigen HipHop-Fan mit Kapuzensweatshirt, weil er den Weg zum Treppenhaus zu kennen schien.

Draußen röhrten die Sirenen. Als wir ins Atrium kamen, wo die Leute zusammenströmten, rasten drei Feuerwehrautos im vollen Ornat heran. Vorm Hotel versammelten sich die Gäste in illustren Kombinationen. Manche (die von der Tanz-in-den-Mai-Party) im kleinen Schwarzen, andere (die dem Tiefschlaf entrissenen) im Bademantel.

Die Feuerwehr stürmte das Hotel, lief mal hier-, mal dorthin, beriet sich flüsternd mit Sicherheitsleuten und kam schließlich zu dem Schluss: Fehlalarm. Ein übereifriger Feuermelder, der auch mal was sagen wollte.

Die mit dem kleinen Schwarzen trollten sich, die mit den Bademänteln auch, und wir erst recht. Als wir die Rolltreppe nach oben betraten, kam uns Oliver Pocher samt Entourage entgegen. Reichlich spät, Junge, dachte ich. Wäre es kein Fehlalarm gewesen, gäbe es im deutschen Fernsehen jetzt eine Lateshow weniger.

Ob das ein Verlust wäre, müssen andere entscheiden.

PS: Das Foto zeigt ein dekoratives Spargelfeld in der Umgebung – am Morgen, nachdem das Maritim Köln doch nicht abgebrannt ist.

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01 Mai 2010

Unter Vollprolls gen Köln



Als das knappe Dutzend Jungs lautstark unser Zugabteil entert, weiß ich sofort, dass die Fahrt gelaufen ist.

Schon beim Einsteigen balancieren sie ihr Gepäck aus – mit Bierflaschen. Alles was sie sagen, tun sie so, als müssten sie sich gegen eine Armada Presslufthämmer durchsetzen.

Wenn sie singen (was sie oft tun), handelt es sich um Lyrik à la „Whiskey und Kümmer-/ling-e-ling-e-ling“, und wenn sie nicht singen, dann grölen sie, und zwar „Olic! Olic! Olic!“.

In Osnabrück registrieren die Jungs durchs Fenster vergnügt eine Gruppe Mädchen mit Instrumenten auf dem Bahnsteig. „Boah“, staunt einer, als müsste er einen Presslufthammer übertönen, „die können Geige spielen!“ „Besser wäre Flöte“, ruft einer seiner Kumpel. So viel schlüpfrige Schlagfertigkeit hätte ich ihm gar nicht zugetraut, ehrlich gesagt.

Nach etwa der Hälfte der Strecke hat der Säugling auf dem Sitz vor uns genug vom Vollprollterror – und hält mit Schreien dagegen. Alles kein Ambiente, um unterm Kopfhörer ein Album von Owen Pallett zu hören oder einen Roman von Michel Houllebecq zu lesen (oder wie immer der geschrieben wird).

Unsere gemeinsame Fahrt mit den Jungs und dem Säugling dauert drei Stunden. Danach wanken wir aus dem Zug wie nach dem Ironman oder zwei schlaflosen Nächten oder beidem. Jetzt muss Köln uns retten, wo wir auf Einladung der Maritim-Kette das Wochenende verbringen.

Das Hotel liegt praktisch am Rhein und in Fußweite zum Dom. Verurteilte man mich zufällig zu lebenslänglich und dürfte ich mir aussuchen, wo ich die Strafe absitzen wollte, so wäre diese Mischung aus lichtdurchflutetem Atrium mit Mall (Foto) und Hotel drumherum gewiss nicht die letzte Wahl.

Da wir beide bisher noch nicht zu lebenslänglich verurteilt wurden, gehen wir nach dem Einchecken gleich mal die Gegend erkunden – und landen in einer Eisdiele, wo eine Frau zu einer anderen sagt: „Ich geh kurz bei Schlecker!“.

„Kölsch“, wird ein paar Stunden später der Maritim-Marketingdirektor Thomas Schüpstuhl uns mit einem Glas in der Hand erläutern, „ist die einzige Sprache, die man trinken kann.“ Und was soll ich sagen: Der Mann hat Recht.

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