09 Juni 2014

„19 …?“


Was gibt es eigentlich Langweiligeres als noch ein Bahnbashing? Das ist doch seit Jahren Volkssport in deutschen Blogs. Dennoch soll auch hier in der gebotenen Kürze nicht unerwähnt bleiben, wie engagiert das ehemalige Staatsunternehmen in Abwicklung sich darum bemühte, unsere Pfingstreise nach Paris zu beeinträchtigen. 

„Die Abfahrt verspätet sich um einige Minuten“, „Wir sind außerplanmäßig in einem Tunnel zum Halten gekommen“, „Oberleitungsstörung“, „Betriebsstörung“ etc. pp.: Diese einst recht vorzeigbare Transportfirma mit längst institutionalisiertem Handicap fuhr während beider Fahrten das ganze guterprobte Arsenal leicht zerknirscht klingender Ansagen auf, um die linear wachsenden Verspätungszeiten wenigstens begrifflich halbwegs einzuhegen. 

Das Unternehmen scheint zu einer vollmaroden Klitsche verkommen zu sein, in der es überall klappert, hakt und zwickt und lediglich die leicht zerknirschten Verspätungsbegründungsansagen noch tadellos funktionieren – auch wenn natürlich eine Floskel wie „… sind außerplanmäßig zum Halten gekommen“ keine Begründung darstellt, denn das hatten wir auch so bereits bemerkt. 

Von der Zeit, die wir in Paris verbringen wollten, forderte die Bahn jedenfalls schon auf der Hinfahrt einen außerplanmäßigen Tribut von zweieinhalb Stunden, und dafür werden wir sie mit einem Erstattungsantrag kräftig bluten lassen, versprochen. 

Doch wir sind angekommen in Paris, und das ist ja die Hauptsache, nicht wahr. Beim Flohmarkt am Samstag am Porte du Vanves biss ich mir die Zähne aus an einer Verkäuferin, der ich zwei mit je zehn Euro ausgepreiste Hemden von Christian Lacroix und Donna Karan zum Mengenrabatt abkaufen wollte. Ich begann also mit 14, woraufhin sie „No, 20“ sagte. „Okay, 15“, machte ich ein Angebot zur Güte, was sie mit „No, 20“ konterte. 

Schon jetzt schien mir der Zeitpunkt gekommen, sie daran zu erinnern, wo wir uns gerade befanden: auf einem Flohmarkt nämlich, einer Veranstaltung also, der Handeln und Feilschen gleichsam wesenseigen sei. Dann bot ich 16. Sie sagte „No, 20“, ich: „Okay: 18!“, sie „No, 20“, ich – fassungslos zu Ms. Columbo – „Mann, die ist ja bockelhart!“ und dann zu ihr, nur noch pro forma und mit bereits erstorbener Verve „19 …?“ 

Sie schüttelte den Kopf und lächelte melancholisch: „20.“ Zur Wahrung meiner Restwürde entschloss ich mich zu einer dual abgestuften Rückzugsstrategie, kaufte ihr das Lacroix-Hemd für den geforderten Zehner ab und hängte das Karan-Hemd zerschmettert wieder zurück. Über das seither nagende Gefühl, es lieber in meinem Besitz zu haben, tröstet mich auch die Tatsache nicht hinweg, zehn Euro mehr in der Geldbörse zu wissen.

Was es sonst noch gab in Paris (Auswahl): 

gegen Mitternacht ein famoser Gitarrentsunami der legendären Shoegazerband Slowdive (Foto) im Parc de la Villette

– eine merkwürdig holprig konzipierte Van-Gogh-Ausstellung im Musée d’Orsay

– eine durch Abwesenheit glänzende Duchamp-Schau im Centre Pompidou (die nämlich – anders, als es das blöde Internet behauptet – erst ab Oktober läuft)

– herumkrakeelende Jugendliche unterm Fenster unserer Wohnung im 12. Arrondissement, die nachts um 1 von einem gottgeschickten Regenguss nach Hause gespült wurden

– den schönen Kalauernamen „L’or ange“ für einen Saft

Und ab jetzt wieder Kiez. 
Moin.


5 Kommentare:

  1. Diese Frau weiß, was ihre Sachen wert sind. Oder wie hoch die Standmiete ist. Oder wer hinter ihr steht. Oder daß Sie beides wirklich wollen. Oder daß Deutsche selten handeln. Oder sie war zum ersten Mal auf einem Flohmarkt.

    Ich hätte abschließend sicher genauso gehandelt (ein eher ungewolltes Wortspiel), aber vielleicht gegen Ende des Besuchs einen Strohmann vorbeigeschickt, der mir das fehlende Hemd für den Zehner kauft. Oder ihr eine 10-Baht-Münze als 2-Euro-Stück untergejubelt. Oder mir das Hemd teurer über's Internet bestellt. Oder mir das Hemd anschließend gekauft und so getan als wär in der Brusttasche noch ein Fünfer gewesen. Oder es nach dem Kauf an einen vermeintlichen Passanten verschenkt (der es mir - ohne, daß sie es sieht - wieder zurück gibt). Oder nach dem Kauf einen Katalog gezückt und zur Begleitperson gesagt: "Top, das bringt bei eBay mindestens 90 Euro!".

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  2. Also Raoul, Ihre ablauforganisatorische Fantasie übersteigt meine bei weitem, das muss ich neidvoll zugeben. Ich glaube, ich engagiere Sie demnächst als meinen Flohmarktedelstrohmann.

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  3. Gerne. Wir machen dann zwar keinen Gewinn, sorgen aber im günstigsten Fall für Irritation.

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  4. … und was kann man vom Leben mehr verlangen?

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  5. Olaf aus HH26.06.14, 00:39

    Herr Matt,
    seien Sie doch beide lieber froh, daß man von Ihnen keinen Zuschlag für längere übermäßige Sitzpolsterbenutzung etc.verlangt hat...
    Beste Grüße aus 22767 Hamburg

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