Es ist der Sonntag des Halbmarathons (Foto). 15 Minuten auf der Reeperbahn zum Brötchenholen reichen mal wieder, um sich mit einer kompletten Wochenration an schrägen Typen zu versorgen.
An der S-Bahn Reeperbahn nähert sich ein ungefähr 50-jähriges Kiezoriginal – lange Haare, Schiebermütze, Schnauzbart, Lederklamotten und ein Bauch wie Otti Fischer – einem Polizistenquartett. „Wie komm ich da rübä?“, fragt der Mann zwischen zwei Zügen an der Selbstgedrehten.
Er möchte die Reeperbahn überqueren, doch die ist gesperrt, wegen des Halbmarathons. „Durch die Unterführung“, sagt einer der Polizisten. „Was, ächt?“, staunt der Schnauzbart. „Aber die Rollträbbee is doch kaputt!“ Die Polizisten zucken mit den Schultern. Sie haben andere Prioritäten.
Das Kiezoriginal sieht, dass es hier nicht weiterkommt, und stakst hinter mir die Treppe runter – unablässig „So’n Scheiß!“ fluchend angesichts der Gewissheit, dass es drüben seine Ottifischerwampe auf unzumutbare Weise wieder auf Reeperbahnniveau hochwuchten muss, ausschließlich mit Hilfe von Willens- und Körperkraft statt einer Rollträbbee.
Drüben steht ein Mann im Kurzarmhemd schwankend auf dem Gehweg vor zwei leeren Bierflaschen. Eine willkommene Gelegenheit für das Kiezorginial, Kontakt aufzunehmen. „Na, bissdu übägeblieben von lättser Nacht, sach mal?“ Die Antwort fällt anscheinend zufriedenstellend aus, denn es entspinnt sich sofort ein trautes Zwiegespräch.
Wenige Meter weiter, am Hamburger Berg, steigt eine knapp 70-jährige Berufsjugendliche in schwarzen Lederhosen und rosa Jäckchen aus einem Taxi. Ihr blondierter Kurzhaarschnitt ist forsch, die Bierflasche in ihrer Hand halbgefüllt. „Fahr los, du Arschloch!“, ruft sie dem Fahrer zu, während sie mit Karacho die Taxitür zuschlägt. Der Fahrer beugt sich rüber und brüllt „Hau bloß ab!“ oder so ähnlich; seine Stimme dringt nur gedämpft aus dem geschlossenen Wagen.
Sie wankt davon, 70 und noch immer auf Krawall gebürstet. Als ich vom Brötchenholen zurückkomme, steht sie vor einer Stripbar an der Reeperbahn. Plötzlich springt sie behende auf ein Frauentrio zu. Alle tragen einen schwarzen Tschador, der ihre Haare verbirgt, offenbar Moslems.
„Kinderficken gut?“, ruft die Alte mit pseudodevoter Verbeugung und dem typisch schiefen Lächeln der Betrunkenen. „Ja“, sagt eine der Frauen; bedingungslose Affirmation als automatischer Abwehrreflex. Alle drei lächeln freundlich und beeilen sich, an der merkwürdigen Rentnerin vorbeizukommen. „Gut!“, jubiliert die Alte und tänzelt bierflaschenschwenkend zurück zum Eingang der Stripbar. Irgendeinem Pflegeheim in der Umgebung stehen bald lustige Zeiten bevor, das ist schon mal sicher.
An der Postfiliale ist ein multikulturelles Trüppchen unterwegs. „Sag, Achmed“, spricht ein augenscheinlich afrikanischstämmiger Brocken seinen Kumpel an, „warum du nicht auch Marathon? Du immer Arbeit, Arbeit, Arbeit!“
Achmed bleibt gelassen. „Laufe, laufe, laufe“, antwortet er, „isse auch Arbeit, Arbeit, Arbeit.“
Und dann bin ich wieder zu Hause. Sonst wäre das noch ewig so weitergegangen.
Herr Wagner, was auch immer Sie an schlechtem Karma für Ihre gestern geäusserte Häme angesammelt haben: durch diesen wunderbaren Ausschnitt aus dem prallen Leben dürfte das Konto mehr als ausgeglichen sein.
AntwortenLöschenPuh, das erleichtert mich aber.
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