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26 November 2010
„Muss ich entsorrrgen Ihrrre Müll?“
Hamburg ächzt unter der Last der Schulden, und was tut die Regierung? Rauscht mit dem Mähdrescher durch das eh nicht mehr reich bestellte Feld der hanseatischen Kultur. Was nicht komplett plattgemacht wird, kommt zumindest in den Genuss einer Amputation.
Wie die Hamburger Bücherhallen: weniger Zuschüsse, dafür mehr Personalabbau. Fünf davon sollen sogar ganz dichtgemacht werden.
Das rührt mein Herz, als Bürger dieser Stadt bin ich gefragt, unbürokratische Hilfe ist erforderlich. Und so nutze ich einen Urlaubstag, um zu Hause die Regalwand nach entbehrlicher Lektüre zu durchforsten. Eine großzügige Sachspende soll die Not der hanseatischen Bücherhallen lindern, auf dass ein Teil der wegfallenden Zuschüsse kompensiert werde.
Am Ende der Aussortieraktion beherbergt der größte auffindbare Rollkoffer eine erstaunliche Zahl von Werken u. a. der Weltliteratur. Ich kann ihn kaum mehr anheben; eine Umhängetasche entlastet den Trumm wenigstens soweit, dass ich ihn die Treppen hinabwuchten kann. Danach wird er durch St. Pauli gerollt. Auch kein Spaß, aber machbar.
Als ich nach 20-minütigem Gerumpel leicht erschöpft in der Bücherhalle vorstellig werde, ist meine Vorfreude groß auf die strahlenden Augen, die sie dort gleich machen werden. Hoffentlich fallen mir die Bücherhallenbediensteten nicht vor Freude weinend um den Hals; mit so was kann ich nicht gut umgehen, das weiß ich.
Doch ich nehme mir fest vor, mit souveräner Verlegenheit zu reagieren auf jene umflorte Rührung, die nur Existenzgefährdete aufzubringen wissen, denen in Gefahr und großer Not ein tapferer Altruist zu Hilfe eilt.
Eine ältere Dame tritt zögernd hinterm Tresen hervor und mustert grußlos mein Gepäck. „Guten Tag, ich möchte Ihnen Bücher spenden“, eröffne ich ihr strahlend unter Vermeidung jedes übertriebenen Pathos, während ich den gewaltigen Rollkoffer ächzend auf den Rücken lege.
„Das sind bästimmt viellä“, prognostiziert die Dame. Trotz ihres osteuropäischen Akzents vermag sie eine Skepsis spürbar werden zu lassen, die ich ehrlich gesagt zuallerletzt erwartet hätte. Wo sind die Tränen der Rührung, wo die vorauseilende Dankbarkeit?
Ich öffne den Koffer. Sie schaut, als wollte ich ihr Hedgefondsanteile andrehen. „Da müssen wirrr errst einmal schauän“, murrt sie und beginnt die Bücher in Augenschein zu nehmen. Manche stapelt sie auf den Tresen, andere legt sie zurück in den Koffer.
„Wollen Sie jetzt etwa die Bücher einzeln durchschauen?“, ärgere ich mich. Oh ja, das will sie. „Ich möchte sie aber nicht mehr mitnehmen“, sage ich. „Ich bin schließlich extra hergekommen, um sie zu spenden.“ Die Überbetonung des Verbs ist mein letzter Versuch, doch noch jene Dankbarkeit hervorzurufen, die ich eigentlich als freiwillige (und einzige) Gegenleistung erwartet hatte.
„Dann soll ich brrringen sie zu Altpapier? Muss ich entsorrrgen Ihrrre Müll?“ Ganz klar: Diese Frau verfügt nicht nur über einen osteuropäischen Akzent, sie ist Stalins kleine Schwester.
„Wie bitte? Da ist kein Müll dabei!“, zische ich mit schneidender Ruhe, unter der hoffentlich das Glosen des Empörungsvulkans hervorscheint. Längst fühle ich mich gekränkt und entwürdigt sowie tief verletzt in meiner Altruistenehre.
Stalin ist davon völlig unbeeindruckt und weiter am Aussortieren. Mao nimmt sie, Lenin verschmäht sie. Mordillo: weg. Kierkegaards „Gott nötig haben ist des Menschen höchste Vollkommenheit“, gebunden, Furche-Verlag, Berlin, 1939: in ihren Augen Müll. Auch Zola wandert zurück in den Rollkoffer.
Diese postsowjetische Banausin ist offensichtlich noch immer geprägt von der totalitären Willkürherrschaft ihrer Jugendzeit – und hat die ihrer Ansicht nach besten Seiten dieser Methode in die Welt der Bücherhallen hinübergerettet.
Jetzt will sie sogar Mario Puzos „Omerta“ nicht. Meine Güte, Puzo hat „Der Pate“ geschrieben! Alle zehn Finger würde sich die büchervernarrte Kiezjugend lecken nach so einem Fachmann für das auch hier gut organisierte Verbrechen.
„Sie wollen selbst den Puzo nicht?“, frage ich wie erstarrt den Bücherhallendrachen. „Na gutt, könne Sie lägge auf Värschänkdisch“, vernichtet sie mich final. Wie in Trance lege ich den Puzo auf den Värschänkdisch.
Dieser Tag hat eine ganz andere Wendung genommen, als ich erwartet hatte. Die Hamburger Bücherhallen wollen meine Bücher nicht mal geschenkt. Zumindest nicht alle. Ehe ich an Leib und Seele beschädigt wieder hinausrolle mit dem abgelehnten Bücherrest, brumme ich ihr noch ein „Mich sehen Sie nicht wieder“ zu, was die Gulagwärterin mit einem unbeeindruckten „Gutt, gutt!“ abtut.
Ich schmuggle noch heimlich ein Exemplar von Mark Perrymans „1. FC Philosophie. Flach denken – hoch gewinnen“ auf den Värschänkdisch, aus Rache. Denn mein Altruismus ist längst erloschen und hat anderen, dunkleren Gefühlen Platz gemacht.
Auf dem Heimweg drängt es mich aus purer Frustkompensation ins Caffè Latte; einen Trostbrownie gibt’s da für 1,90. Die Hamburger Bücherhallen werden also ausgehungert, sorgen aber im Gegenzug dafür, dass ich dick werde.
Wie nennt man noch mal das Gegenteil einer Win-win-Situation?
Dem Kierkegaard (+1-2 anderen Büchern) könnte ich ein Asyl auf der Vorderseite der Reeperbahn anbieten ;-)
AntwortenLöschenAlle oder keine, das wissen Sie doch!
AntwortenLöschenIch gestehe, ich habe ein wenig geweint.
AntwortenLöschenOb aus Freude über die fein erzählte Geschichte oder darum, weil es für sie so traurig ausgegangen ist, verrate ich allerdings nicht.
... Los-los-Situation kling aber auch zu blöd!
Wenn, dann wenigstens „Lose-lose-Situation“, doch das liest sich schlecht und birgt die Gefahr eines Missverständnisses.
AntwortenLöschenLoss-loss wäre wohl eindeutig.
AntwortenLöschenIch jedenfalls habe im Bücherschrank meiner Großmutter noch eine signierte Ausgabe von „Mein Kampf” gefunden. Mal gucken, ob die Bücherhalle dieses Werk geschenkt haben will.
Genossin Gulagowa wäre bestimmt begeistert.
AntwortenLöschenAltruismus, nicht schlecht ;-)
AntwortenLöschenVll sollten Sie die Bücherreste bei Frl Krise in der Klasse plazieren, gerade der Puzo wird doch wohl an den Mann zu bringen sein!
AntwortenLöschen*Ey voll krass das Teil*
LG von Frau-Irgendwas-ist-immer
Wenn Sie mir die Schule verraten, wo Frl. Krise interveniert, dann bringe ich ihr den Schamott persönlich vorbei.
AntwortenLöschen"glosen" - es gibt wenig seiten im netz, die so vergnüglich meinen wortschatz erweitern, dafür vielen dank!
AntwortenLöschenIccch chabe auch aufgebaut einen Värschänkdisch. Darauf können Sie deponieren all Ihre Weihnarrrchtsgäschänke fürrr mirch.
AntwortenLöschen(Hihi, vielleicht klappt's ja?)
Müsse auch sacken, wo, Arrrrnuschka!
AntwortenLöschenVärschänkgäschänkdisch steht in Nisch von Bloggarte! Einfach hingehen, lege Sie alles drrrauf und gehen wegch.
AntwortenLöschenArrrnuschka chümmert sich um die Chrest. Babuschka?
Borschtsch! Abär Wodka nich drinkä in eine Rrrrutsch, sonst dickes sibirrrisches Tigärkatär.
AntwortenLöschenAbramczcszßczzzik!
AntwortenLöschenGehen chlar! Icch bin sparrrrsam mit Wodka wie chrussischer Hafenarrrbeiter in Sommär bei 40 Chrad in Leninchrad..
*chrchrchrrr*
Stilbruch!
AntwortenLöschenEinfach abgeben bei einem der Recyclinghöfe und in kürze steht der Lenin vielleicht schon im HVV-Bus im Leih-Regal. Und als ich, zugegeben weniger aus Altruismus denn aus Platzgründen, meine Spende direkt im Ladengeschäft in HH-Bahrenfeld übergab, schütze mich nur der Tresen vor wilden Umarmungsorgien.
Sonst böte sich vielleicht an, die Bücher einzeln in Kneipen im Briefkartenregal unterzubringen. Neben Edgars Karten mit Kondomen drauf und die nächsten Stunden auf einem Platz verbringen, von dem aus das Regal einsehbar ist. Das bringt nicht nur Ihnen Unterhaltung, sondern sicher auch veröffentlichbare Erkenntnisse.
Ist es bloß ein Zufall, dass just in dieser Woche auch der Spiegel die ausgehungerte Hamburger Kulturlandschaft problematisierte?
AntwortenLöschenNein, es liegt an der ausgehungerten Hamburger Kulturlandschaft, dass sie zwangsläufig von mehreren Medien thematisiert wird, darunter auch Blogs oder Spiegel. Man sollte das Pferd nicht von hinten aufzäumen bzw. nicht Ursache und Wirkung verwechseln.
AntwortenLöschenAnonym 20:00: kein schlechter Vorschlag. Vielleicht eine echte Alternative zum Altpapiercontainer.
Arrrrrnuschka, Sie sind gar keine Russin! Und wissen Sie, woran ich das gemerkt habe? Im Sommer werden es in Leningrad nie, nie, nie 40 Grad. Sie können also rauskommen aus Ihrer Erdkuhle, Sie sind enttarnt.
AntwortenLöschen@Matt: Dann alle ;-)
AntwortenLöschenZu spät: Altpapier … Den Kierkgaard habe ich allerdings vorher wieder rausgeholt.
AntwortenLöschenGut, dass ich hier mal reingucke: Bitte nicht!
AntwortenLöschenWas soll ich mit BÜCHERN?
Habe ich schon genug so Staubfänger in Klassenzimmer! Stehen da nur zur Verzierung, damit Eltern denken, Kinder sind in richtiger Schule! (Buchattrappen würde ich nehmen, die reichen völlig.....)
Für Sie trenne ich auch vorher die Seiten raus, kein Problem.
AntwortenLöschenIch hätte alle Bücher wieder eingepackt und dann geschlossen in der Alster versenkt.
AntwortenLöschenhttp://www.bookcrossing.com/
AntwortenLöschenHätte ich nach meinen Erfahrungen mit der Bücherhalle nicht anders erwartet.
AntwortenLöschenMich bekümmert's kein bisschen, dass sie weniger Geld bekommen. Vielleicht strengt sich der Verein dann ja an, Kundenfreundlich und -orientiert zu werden. Falls nicht, stärkt's die Konkurrenzbestrebungen...