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17 April 2010
Fremdschämen am Schulterblatt
Eins vorweg: Ich fühle mich grundsätzlich wohl unter Menschen, die so alt sind, wie ich mich fühle. Doch gestern Abend im Haus 73 am Schulterblatt war das anders.
Das Haus 73 ist ein Veranstaltungszentrum mitten auf der Schanze, wo Autonome und Hausbesetzer regelmäßig der Polizei überdeutlich guten Tag sagen, wo sich Studenten, Werber, Veganer, Gentrifizierungsgegner und Bachblütenblödis an schönen Tagen auf dem Galaostrich gemeinsam die Sonne auf Designerbrillen, Palästinensertücher und Batikhemden scheinen lassen.
Dort also, im Haus 73, spielten gestern Abend bei kostenlosem Eintritt drei Songwriter, darunter die wunderbare Berliner Folksängerin Julia A. Noack – und alle wurden sie von einer schambefreiten Schanzenmischpoke gnadenlos niedergequatscht.
Einer blökte so lange in sein Headset, bis German Psycho ihn die Kellertreppe hinabstieß – doch leider konnte der so tapfere wie gnadenlose Kämpfer für höfliche Ruhe beim Konzert nicht überall sein. Ein Frauentrupp mit normierter Kurzhaarfrisur etwa erörterte über drei Sesselreihen hinweg, wer wie viel Milch in seinen Latte Macchiato haben möchte; ein Schlabbertyp mit am Kopf festgewachsener Kapuze laberte zurücklabernde Studentinnen an, ein Hornbrillenhornochse kickte Astraflaschen über den Steinfußboden.
Derweil wälzte sich eine unablässige Schlange von Leuten zum Rauchen raus und begegnete an der Tür neben der Bühne einer unablässigen Schlange von Leuten, die gerade vom Rauchen zurückkamen.
Und in diesem heillosen Tollhaustohuwabohu – verursacht von dumpfbräsigen Ignoranten, die sich für die urbane Avantgarde halten – versuchte Julia A. Noack aus Berlin kleine feine Zupfgeschichten von Grizzlymädchen und angelehnten Türen zu Gehör zu bringen. Vergeblich.
Kurzum, Schanze: Ich habe mich selten so fremdgeschämt wie gestern Abend. Und jetzt bin ich irgendwie doch froh, dass du seit dem 1. März 2008 nicht mehr zu St. Pauli gehörst.
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das zeigt doch, dass auch die ach so tolerante aufgeschlossene schanze ihre eigene arroganz besitzt...
AntwortenLöschenmuss ja wirklich schlimm gewesen sein!
AntwortenLöschenIch habe das ja eh immer so empfunden. Es ist ein dreckiger, schlecht angezogener und überheblicher Pöbel, der sich für die Avantgarde hält. Rücksichtslosigkeit wird nur bei anderen angeprangert, Toleranz nur eingefordert, nicht entgegengebracht.
AntwortenLöschenWie es anders geht, zeigte uns vor einigen Jahren das Konzert in der Hasenschaukel.
Für mich der deutlichste Unterschied zwischen Reeperbahn und diesem verlogenen Schanzenpack.
(bin wohl noch leicht angesäuert)
Wir wollen doch nicht generalisiern. (Nur manchmal.)
AntwortenLöschenHaben Sie einmal in die Gesichter der anwesenden geschaut? Ich sah überwiegend satte Jugendliche mit sinnentleertem Blick in den Augen, welche sich selbst am nächsten waren. Man fühlt sich Hip auf der Schanze, gehört zu denen die reaktionär sind, anders als der Mainstream. Das glauben sie, aber sie verstehen es nicht. Es ist nur ein "Imitat"!
AntwortenLöschenSich auf so eine kleine Bühne zu stellen und das Ergebnis seiner eigenen Kreativität und seiner Gefühle vorzutragen, braucht Mut. Die drei Künstler haben Mut und Potenzial.
Sicher wäre einiges anders rübergekommen, wenn die Veranstalter einen weniger lauten und unruhigen Ort als den Eingangsbereich gewählt hätten. Ich wünsche den Künstlern für die Zukunft überlegtere Veranstalter.
Und die Noack war wirklich gut! Sehr schöne Stimme, Hochachtung!
... das Haus 73 ist die Pest für die Schanze. Es zieht nicht nur die ganzen Attitüde-befreiten Wimpster an, sondern am WE auch den adoleszenten Proll-Mob. Ich weiss garnicht, wem ich davon zuerst händisch den Lebensberechtigungsschein lochen möchte ....
AntwortenLöschenMüssen mal wieder gemeinsam pöbeln gehen :-)
Cinema_Noir, wenn man von Ihrem falschen Gebrauch des Wörtchens „reaktionär“ absieht, stimme ich Ihnen in allem zu.
AntwortenLöschenBrandNewWelt, mir war das Haus 73 bisher noch nie negativ aufgefallen, im Gegenteil: Dort erlebte ich einst die erste Bloglesung überhaupt, die zudem großartig war (mit dem legendären poodlepop!).
AntwortenLöschenDoch die Erinnerung spinnt ja bisweilen mit goldenen Fäden, wie Jan Plewka so schön zu sagen pflegt.
Es fällt mir gerade schwer ein anderes Wort dafür zu finden. Aber Sie haben recht, reaktionär passt nicht so.
AntwortenLöschenSie meinen wahrscheinlich „alternativ“.
AntwortenLöschenKann man so stehen lassen. Obwohl ich eher so etwas wie die APO im gedanklichen Zusammenhang hatte.
AntwortenLöschenDie APO verstand sich aber als genau das Gegenteil von reaktionär.
AntwortenLöschenDas ist wahr. Ich bin da wohl mit den Begriffen durcheinander geraten.
AntwortenLöschenDieses ewige "Dagegen" empfinde ich wohl als reaktionär.
Aber im Kern verstehen wir uns ja, darauf kommt es an.
so'n Kellertreppenschubsertyp gehörte in jede Veranstaltung.
AntwortenLöschenNeulich vor ein paar Monaten erlebte ich Dummquatscher im Übel & Gefährlich ("Archive") und kaum hatte ich mich von dem einen Laberpärchen davon gerobbt, stieß ich auf das nächste.
Was soll das? Also, das Reden während eines Konzerts, jetzt.
Nun bin ich ja neugierig geworden und hab mir Frau Noack mal bei Lastfm angehört... wirklich ein Tipp. Gefällt mir ausgesprochen gut.
AntwortenLöschenEin erster Schritt zur Ehrenrettung Hamburgs!
AntwortenLöschenMir schwillt schon der Hals wenn ich das lese. Nun könnte man natürlich argumentieren, dass freier Eintritt auch immer jede Menge Honks anzieht, die sich nicht die Bohne für den Künstler interessieren. Allerdings ist mir diese Spezies auch auf teureren Konzerten schon negativ aufgefallen, wenn auch nicht ganz so geballt. Bei einzelnen Personen hab ich mit einem einfachen "Halts Maul oder geh raus" gute Erfahrungen machen können.
AntwortenLöschenIch versuche es meist zunächst mit beißender Höflichkeit („Entschuldigen Sie, haben Sie Eintritt bezahlt? Ja? Und warum hören Sie dann nicht zu?“).
AntwortenLöschenAllerdings ist mir beim letzten Mal, als ich diese erhebliche Steigerungsmöglichkeiten zulassende Methode anwandte, ein schmiedeeiserner Hocker auf den Fuß gefallen. Das war nicht schön.
Früher™ kamen die Quatscher ja meist von der Gästeliste oder aus dem Plattenfirmen-Kontingent. Das waren Gruppen, die man bequem und entspannt hassen konnte. Heute ist der Hass meist eher undifferenziert auf fast das gesamte Publikum verteilt. Jedesmal sage ich mir wieder: "Nächstes Mal bleibe ich aber zuhause und höre mp3!"
AntwortenLöschenMatt, wie froh bin ich, dass wir am 8.05. Chumbawamba in unserem kleinen Kulturfenster in Heidelbörg erleben können. Dort wird es weder Hass, noch Nöligkeiten geben. Und keinen hyperelitären Kindergarten.
AntwortenLöschenKeine Vorschusslorbeeren bitte! Erst mal abwarten …
AntwortenLöschenKein Vorabverdruss aus Hamburg nach Heidelbörg bitte - wer bei uns ins Kulturfenster geht, hat ein Publikum. Deswegen sollte Katja Werker auch dahin. Schirmherr des dortigen "Schöner Lügen"-Festivals war übrigens Ihr verschimpfter van Veen.
AntwortenLöschenMit Ihrem schnippischen Schlussabsatz haben Sie mich gerade ein wenig getroffen. Ich wohne ja in der Schanze - in dem Teil, der schon seit immer zu Altona gehörte. Und gefühlt war das auch schon seit längerem der angenehmere Teil der Schanze.
AntwortenLöschenZur Ehrrettung meines Viertels möchte ich anführen, dass die Leute, die Ihnen bei uns im Viertel unangenehm auffallen, hier genau so wenig zuhause sind, wie diejenigen auf dem Kiez leben, die mir auf dem Hamburger Berg aufstoßen. Denn in seiner eigenen Nachbarschaft pisst man wohl kaum in die Hauseingänge etc.
Aber Leute, die bei Kulturveranstaltungen Ihre Hornbrillen als den eigentlichen Hauptact sehen, die könnte ich auch manchmal die Treppe runterstoßen. Ehrlich.
Nur zu …! ;-)
AntwortenLöschenDiese Frau Noack klingt wirklich gut!
AntwortenLöschenUnd ihre Stimme hat eine unglaubliche Ähnlichkeit mit der von Aimee Mann.. http://www.youtube.com/watch?v=8eK8Edl-Htg
Es scheint sich aber wirklich um ein Haus 73-Problem zu handeln, bzw. um eine Marotte des dortigen Publikums. Am vergangenen Freitag sah ich im Hamburger Politt-Büro den Berliner Kleinkünstler und Comiczeichner Fil (einigen vielleicht bekannt durch die "Didi und Stulle"-Comics) und das Publikum war recht gesittet und lachte an den richtigen Stellen. Als ich nun aber einem Kollegen einen Auftritt des Herrn Fil bei youtube zeigen wollte, mussten wir feststellen, dass beim dort dokumentierten Auftritt im Haus 73 auch dem armen Fil immer wieder Leute rein quatschen. Seltsam, nicht wahr, aber so steht es geschrieben.
AntwortenLöschenDas Problem scheint an vielen Orten zu bestehen.
AntwortenLöschenOder käme es sonst zu diesem Schild?
http://oddlyspecific.com/2010/04/07/funny-signs-shut-up/