Unter der Plakatwand an der Simon-von-Utrecht-Straße lagert regelmäßig eine Gruppe heimatloser Russen. Einer von ihnen liegt langgestreckt auf dem Gehweg in seinem Blut und rührt sich nicht. Eine Passantin mit Zahnlücke und unvorteilhafter gelber Jacke steht dabei. Ich halte an und frage: „Hat schon jemand Hilfe gerufen?“
Sofort umringen mich zwei Russen und bedeuten mir, dies sei noch nicht geschehen. Ich zücke mein Handy. Die Passantin sagt: „Ich finde es gut, dass Sie anrufen. Ich habe ja kein Handy.” Ich wähle 110. Was falsch ist. 112 wäre richtig: die Feuerwehr. Das für alle, die dies lesen und in eine ähnliche Situation geraten. Die Polizei stellt mich durch zur 112. Ich schildere die Lage.
„Atmet der Mann?”, fragt mich eine männliche Stimme.
„Kann ich nicht sagen.”
„Versuchen Sie es festzustellen.”
Ich beuge mich über den reglosen Mann, der mit dem Gesicht in seinem Blut liegt, und stupse ihn leicht an. An der Schulter. Ein flatterndes Blinzeln ist die Folge. Nicht tot: Das ist gut.
„Er blinzelt”, sage ich.
„Atmet er?”
„Hören Sie, wenn er blinzelt, atmet er ja wohl auch.”
„Atmet er normal?”
„Das weiß ich nicht! Warum kommen Sie nicht einfach?”
„Weil ich hier ein Abfrageprotokoll habe, das ich ausfüllen muss.”
Klar, muss er wohl, aber ich zittere vor Aufregung und allmählich auch vor Ärger.
Das Stupsen zeigt Wirkung. Ächzend setzt der Verletzte sich auf. Eine Schliere aus Blut und Schleim hängt ihm zentimeterlang aus der Nase, reißt ab und suppt lautlos auf den Gehweg, wo sie die Lache vergrößert. Sein Kopf sieht aus, als spielte er in „Hostel“ mit, als Opfer. Die Russen um uns herum schimpfen und zetern. Sie brüllen auf ihn ein. Auf Russisch.
„Er hat sich hingesetzt”, informiere ich die 112-Stimme, „das heißt ja wohl, er atmet normal.”
„Bleiben Sie dort und versorgen Sie ihn. Wir kommen.”
„Gut, ich bleibe hier.”
Die Versorgung garantiere ich lieber nicht, doch es ist vielleicht der falsche Zeitpunkt, das zu thematisieren. Ich klappe das Handy zu. „Ich finde es gut, dass Sie angerufen habe“, sagt die Passantin ihren Text auf, „ich habe ja kein Handy. Kommen die?” Ich nicke.
Dann erzählt sie von ihrem epileptischen Nachbarn und davon, dass die Notrufhotline auch mit ihr jedesmal neu das Abfrageprotokoll durchgeht, ehe sie Ärzte losschickt, selbst beim zwölften Anfall. „Ich finde es gut, dass Sie angerufen haben. Ich habe ja kein Handy.”
Zehn Meter weiter ist eine Drogerie, dort hätte sie ja mal Bescheid sagen können, denke ich. Aber ich will hier keine neue Front aufmachen. Dann kommen die Notärzte.
Sie ziehen sich Gummihandschuhe über und nehmen den Mann mit ins Krankenhaus, während sein Blut in der Sonne zu trocknen beginnt.
PS: Das Foto stammt vom Spielbudenplatz, erinnert aber sehr an die geschilderte Szenerie.
Es gibt übrigens noch die Empfehlung, in das Telefonbuch seines eigenen Mobiltelefons, nahe Angehörige unter ICE (In Case of Emergency) oder IN (Im Notfall) abzuspeichern. Wird man nicht ansprechbar in ein Krankenhaus eingeliefert und hat sein Telefon dabei, kann das Personal so leichter einen Angehörigen verständigen, bzw erst einmal herausfinden.
AntwortenLöschenBeispielsweise:
ICE1 Vater 017X xxx
ICE2 Bruder 016 xxx
Das ist allerdings kein Standard.
Als Arzt würde ich wahrscheinlich denken: Warum soll ich bloß einen Zug anrufen?
AntwortenLöschenAber jetzt wüsste ich ja, was das bedeutet. Und ich bin eh kein Arzt.
Jeden Tag ne gute Tat. Gut gemacht.
AntwortenLöschenHallo,
AntwortenLöschendas Notrufabfrageprotokoll mag zwar auf dem ersten Blick sehr seltsam sein erleichtert aber die Arbeit in der Leitstelle. Man kann als Disponent besser herausfinden welches Einsatzmittel man schickt, man kann den Einsatzkräften ne bessere Einsatzmeldung geben und gleich per Telefon Erste Hilfe Anleitungen geben...
Klingt komisch ist aber so
Habe ich mir alles auch so zurechtgereimt. Aber wenn du halbpanisch dastehst und willst einfach nur, dass jemand kommt, der davon auch etwas versteht, dann empfindest du das als Spielverzögerung; im Fußball gäbe es dafür die Gelbe Karte.
AntwortenLöschenmoinmoin
AntwortenLöschenals allererstes: fein gemacht!
zweitens: 110 ist nicht falsch, dauert aber länger - falsch wäre nichts tun!
drittens: die in aggression umschlagende verunsichertheit kommt vom adrenalin und ist normal und von der natur gewollt - und wird weniger wenn man das öfter macht
@corax: bis die leute die mir helfen wollen meine PIN raus haben hat vermutlich schon jemand versucht mich anzurufen...
Ich kann Ihren Ärger natürlich verstehen, muß aber auch sagen, daß ich dieses Protokoll recht vernünftig finde. Ich meine, wenn man bei jedem Panikanruf sofort einen Wagen mit Vollbesetzung rausschickte, ohne vorher zu überprüfen, ob das wirklich notwendig ist, käme es zu viel mehr Verzögerung. Und die Leitstelle kann ja beim ersten Hören nicht wissen, daß Sie ein vertrauenswürdiger Mensch sind; auch nicht, ob es sich hierbei wirklich um einen Notfall handelt.
AntwortenLöschenZur Beruhigung sollten Sie sich in den Bloggarten setzen und den blühenden Mandelbaum betrachten.
AntwortenLöschenIch serviere Ihnen dann auch eine Tasse Baldriantee.
Nicht ohne Ihre kühle Umsicht und meisterhafte Souveränität in dieser Situation ausgiebig zu loben.
Anna :-)
Also in aller Regel läuft es so ab, dass sobald man den notfallort genannt hat ein Rettungsmittel losgeschickt wird. Diese Alarmierung wird, für den Anrufer unbemerkt, von einem anderen Mitarbeiter der Leitstelle übernommen!
AntwortenLöschenDas Abfrage Protokoll hat den Sinn dem Anrufer Erste HIlfe Tipps zu geben, und die Situation genauer einzuschätzen (braucht es noch mehr Rettungsfahrzeuge/Polizei/Feuerwehr/ Notarzt)! Während dieser Abfrage ist aber normalerweise schon längst Hilfe unterwegs!
@ Matt,
AntwortenLöschenSie verwirren mich.
@ blondyonly,
es geht nicht um die Leute die Ihnen helfen wollen, das werden wohl hoffentlich geschulte Ärzte sein denen das Telefon herzlich egal ist. Es geht um Leute die Ihre Angehörigen verständigen wollen (Polizisten, Verwaltungsangestellte etc.) Und was soll man zu Leuten sagen, die ein ausgeschaltetes Mobiltelefon mit sich rumschleppen.
PS: Wieso sollte jemand versuchen Sie anzurufen?
@ nobby,
das sollte man zur Beruhigung natürlich allen Anrufern erzählen, wenns auch gelogen ist.
ich arbeite im rettungsdienst und versichere Ihnen dass es keineswegs gelogen ist...das können sie mir jetzt glauben oder nicht, es ist einfach so
AntwortenLöschenKommt ja auch immer auf Art und Größe der Leitstelle und die Uhrzeit an.
AntwortenLöschenUnd welche Einsatzmittel überhaupt zur Zeit zur Verfügung stehen. Nicht jede Leitstelle ist mit mind. 2 Mann besetzt und nicht jede kann aus dem Vollen schöpfen.
Z. Bsp. verfügt auch nicht jede über ein gescheites Notruffax.
Trotzdem kann man den Anrufer ja damit beruhigen.
Das wollte ich eigentlich damit sagen.
Besser ist natürlich nie schlecht.
@Nobby: In Heidelberg, einer recht bekannten Stadt mit unzähligen Universitätskliniken wurde kürzlich eine gestürzte ältere Dame mit Platzwunden, Beckenprellung und Schulterbruch erst nach zwei Anrufen (der Widerholungsanruf nach 20 Minuten brachte dem Hilfegebenden auch noch harsche Worte seitens der Rettungsleitstelle ein) und 35 Minuten Liegezeit auf dem mittlerweile mit Decken und Kissen gepflasterten Gehsteig abgeholt.
AntwortenLöschenDieser Satz war neben der Wartezeit auch viel zu lang - aber noch besser: Sie wurde ins 20 Kilometer entfernte Schwetzingen gebracht. In den unzähligen Kliniken der Stadt war angeblich kein Bett frei...
Ich hoffe, die medizinische Notfallversorgung zeigt sich in HH besser. Auch wenn man kein Handy hat, aber wenigstens einen offenen Laden in der Nähe mit Telefon. Und jemanden, der hinschaut.
@Nobby: Ihr macht einen wahnsinnig harten Job *respect*.
@corax
AntwortenLöschenich bin ja nich blöd
wer bitte soll denn meine familie verständigen, wenn nicht die leute die mir helfen?!
mein handy ist auch im eingeschalteten zustand durch pinabfrage geschützt, da es durchaus leute gibt die fremde handys nutzen.
im übrigen gibt es genug gute gründe das handy manchmal abzuschalten z.B. dort wo mobiles telefonieren verboten oder unangebracht ist.
-lesen-denken-verstehen-antworten-
nur in dieser reihenfolge sinnvoll
blondyonly
@corax:
AntwortenLöschenzu P.S. meine angehörigen?!
Keine Hemmungen.
AntwortenLöschenVorher darüber im Klaren sein, was ich mitteilen will!
Wissend, dass bei 110 oder 112 eingehend Gespräche
unmittelbar auf Tonträger aufgezeichnet werden, kurz den
Sachverhalt schildern.
Nicht unterbrechen lassen!
Ohne Ängstlichkeit nach eigener Lagebeurteilung einen
Notarzt anfordern.
Im obigen Falle:" Mein Name ist Wagner, ich befinde mich vor
dem Haus xy-Stasse 4. Hier liegt Hilflose / verletzte Person in Blutlache.
Ich kann keine Atmung mehr feststellen.
Bitte dringend Notarzt"!
Wenn jetzt der 110-Mensch sagt, er verbinde weiter:
"Nein, ich leiste jetzt erste Hilfe!"
Gespräch beenden.
Alle Daten liegen jetzt auf Band mit Uhrzeit vor.
Glaubt mir, der Zettelmensch wird sofort handeln.
1. Notarzt kommt.,
2. Es entstehen dem Anrufer keine Kosten,
3. Eine Fehlbeurteilung /Dramatisierung des Zustandes durch
Passanten gehört zur Lebenserfahrung.
oldman, Ihr Ratschlag ist wirklich verblüffend praktikabel - danke!
AntwortenLöschenVon 43 Dienstjahren 12 im Führungs- und Lagezentrum zugebracht.
AntwortenLöschenGlaubt mir, dort setzt sich keiner über die Vor-Ort-Beurteilung eines Bürgers hinweg. Aus lauter Schiss, Verantwortung für das Nichtreagieren übernehmen zumüssen.
Und das ist auch gut so.
Weil's ein ernstes Thema ist, noch ein Nachsatz:
AntwortenLöschenBei verworrenen (betrunkenen)Menschen kommt auf jeden Fall ein Streifenwagen mit Sondersignal um den Sachverhalt abzuklären.
Notarzt wird in diesen Fällen vorab informiert und besetzt schon mal sein Fahrzeug.
schon zwei tage kein eintrag, wasn los?
AntwortenLöschen@ blondyonly,
AntwortenLöschenSie haben angefangen zu einem ernsten Thema (Notfallnummern) flappsige Bemerkungen zu machen, ich habe lediglich in der gleichen Art nachgefragt. Also kein Grund mir hier das Nachdenken nahezulegen.
Zu:
Wer wenn nicht die die helfen wollen?
Als Helfer würde ich medizinisches Personal sehen und als diejenigen mit Interesse Ihre Angehörigen zu verständigen evtl. die Krankenhausverwaltung also Bürokraten.
Zu: Das mit PIN im eingeschalteten Zustand kann ich ja nicht riechen. Im Allgemeinen Sprachgebrauch ist mit PIN bei Telefonen der Aktivierungscode für die SIM-Karte gemeint und ohne Eingabe ist ein Telefon nun mal nicht funktionsfähig. Im Gegensatz zu einer Code-geschützten Tastensperre, mit der man bei eingeschaltetem Telefon unbefugten Zugriff verhindert. Ich geh mal davon aus das diese gemeint war.
Dann ist es natürlich auch erfolgversprechend Sie anzurufen, im Gegensatz zu dem Fall von dem ich ausging, dass Ihr Telefon meistens ausgeschaltet ist.
Womit auch Ihr PS beantwortet ist.
Also beim nächsten mal bitte etwas deutlicher formulieren, und nicht gleich beleidigend werden, dann klappts auch mit den Nachbarn.
Glück auf!
moin
AntwortenLöschen@corax:
ich habe hier keineswegs flappsige bemerkungen gemacht!
ich war auch nicht beleidigend!
helfer sind alle die die helfen, egal wie - genau wie matt.
wenn du solche sachen nicht riechen kannst und durch nachdenken auch nicht gleich drauf kommst - lass wenigstens dumme bemerkungen oder andeutungen wie die über leute die ihr handy ausgeschaltet mit sich rumtragen.
blondyonly
Wer schreit ...
AntwortenLöschendie tante hatte bestimmt doch ein handy mit prepaidcard und hat sich gedacht, 'och, nööö, is immer so teuer, und die nummer vom krankenwagen hab ich jetz au nicht in meiner kontaktliste. is auch grad schlecht, weil mein freund wollte ja noch anrufen...'
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