27 April 2017

Stärker als Odysseus!


„Sie beteiligen sich also dieses Jahr am Darwin-Award. Wie genau?“

„Ich stapfe durch den Wald und sammle wahllos Pilze. Irgendein Knollenblätterdings wird schon dabei sein.“

„Und welche Chancen rechnen Sie sich mit dieser Taktik aus?“

„Ach, es wird nicht für die Top 100 reichen.“

„Warum so pessimistisch?“

„Zu viele Smartphonezombies am Start.“

*

Der einleitende Dialog ist natürlich frei erfunden, nicht aber unser jüngstes Ikea-Erlebnis. Wir waren dort, um einige Balkonmöbel zu kaufen, und deshalb lenkte ich einen dieser exorbitant aufnahmefähigen, weil seitenwandlosen Ikea-Schiebewagen durch die Gänge. 

Wie wir alle wissen, geht man zu Ikea gewöhnlich mit einer sehr konkreten Einkaufsliste und verlässt den Laden dann mit der Basisausstattung eines Achtpersonenhaushalts. Plus Speditionsvertrag. 

Wir allerdings erlebten etwas sehr, sehr Sonderbares, ja geradezu Verstörendes: Wir fanden keinerlei genehme Balkonmöbel und auch sonst nix. Sondern lediglich eine kleine Uhr fürs Klo. Kostenpunkt: 0,99 Euro. 

Mit ihr als Bestückung des megalomanischen Ikea-Einkaufswagens rollte ich peinlich berührt gen Kasse. Dort zeigte man sich ungerührt. Nur eine Kartenzahlung war nicht möglich. Aber ich muss zugeben, ich hab’s auch nicht versucht.

Seit diesem Erlebnis fühle ich mich mental viel stärker. Ich habe seither das Gefühl, keinerlei Versuchungen mehr anheimfallen zu können. Wäre ich Odysseus, man bräuchte mich selbst in Hörweite der Sirenen nicht mehr an den Mast zu binden, ich schwör.

Allerdings dürfen Sie mir bitte so was hier nicht vor der Nase baumeln lassen. Dann kann selbst der weltweit glorioseste Ikea-Widersteher von ganz St. Pauli für nichts mehr garantieren.



19 April 2017

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (113)


Home, sweet home.

Entdeckt vor der Aldi-Filiale im Brauquartier.



15 April 2017

Vom Segen der Taubheit (mit Pareidolie 118)

Wien hat die in Deutschland alljährlich so heftig diskutierte Karfreitagsproblematik salomonisch geregelt. 

Da dieser Feiertag ein evangelischer ist, darf jeder Protestant seinem Chef – also dem weltlichen – straflos mitteilen, er bevorzuge einen Gottesdienstbesuch gegenüber der Bürofron, und ohne Diskussion darf er den lieben langen Karfreitag daheim bleiben. Wer aber nichts dergleichen vorbringt, muss halt arbeiten. Die Katholen und alle anderen Nichtevangelen sowieso.

Aus diesem Grund wirkt Wien am Karfreitag unbeeinträchtigt. Die Geschäfte haben geöffnet, die Stadt wimmelt vor Menschen, darunter auch jene, die sich mit der Zusage eines Gottesdienstbesuches einen freien Tag erschummelt haben. Statt erzwungener Bleischwere herrscht der übliche Großstadttrubel. Für uns ein „Segen“, da wir nur drei Tage hier weilen und schon gern ein bisschen was haben möchten von der Stadt.

Der Auftritt unserer Freundin, der Kabarettistin Angelika Niedetzky, findet ebenfalls am Karfreitag statt. In Deutschland würde derlei an diesem speziellen Tag gesetzlich unterbunden, denn die Frau erdreistet sich und macht WITZE! Sie singt und TANZT! Sie ALBERT HERUM!

Damit macht sie uns trübe Tassen wieder munter, denn die Nacht davor war geprägt vom Höllenlärm des Neubaugürtels, einer vielspurigen Rennstrecke, die tagein, nachtaus in nur drei Metern Abstand unser A&O-Hotel zum Beben bringt. Dort waren wir aus Gründen der Preisökonomie abgestiegen, mussten aber erkennen, dass Geiz nicht immer geil ist, sondern manchmal einfach nur hammerhart bestraft wird.

Selbst ein Umzug nach schlafarmer erster Nacht in eine Endetagenbutze, deren Dachluken das Neubaugürtelinferno nicht mehr direkt, sondern nur noch über Eck schallzuabsorbieren hatten, half kein bisschen, weil eine der beiden Luken nicht hermetisch schloss.

Sollten Sie also weder über juvenile Generaltoleranz gegenüber jedweder Umgebungsunbill noch über segensreiche Stocktaubheit verfügen, dann legen wir Ihnen als Übernachtungsalternative das A&O-Schwesterhotel am Hauptbahnhof ans Trommelfell. Die Preise sind identisch, doch dort gibt es sogar die Chance, das zur Verfügung gestellte Bett auch funktionsgerecht nutzen zu können.

Auch in Wien stieß ich beim Flanieren natürlich auf eine Pareidolie, wie es mir wohl überall auf der Welt gelänge, vielleicht abgesehen von der Wüste Gobi. Und schon hatte ich eine Bebilderung für diesen Text.

Wie sich immer wieder alles fügt, es ist erstaunlich.



12 April 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (112)




     Allmählich wird das mit dem Frühling, auch hier in Südschweden. 

    Entdeckt im Alsterpark.

05 April 2017

Free Deniz – aber schreibt ihm auch!

Am Palmenplatz – oder wie es im Tourismusbehördensprech heißt: Park Fiction – fand heute am frühen Abend eine Kundgebung aus Solidarität mit dem in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel statt. 

Es war arschkalt da oben über der Elbe, was aber letztlich gut passte zum Objekt unserer Solidarität, welches die Rednerin Silke Burmester nämlich für „arschcool“ hält. 

Ihre Einschätzung stützte sich dabei vor allem auf das bereits ikonografische Yücel-Porträt, das ihn zeigt mit wildem Haar, Rebellenschnauzer und Fluppe im Mundwinkel. Der Che Guevara des 21. Jahrhunderts! Und das hat der eher Koran- als Popkultur-affine Erdogan wahrscheinlich nicht bedacht, als er Yücel wegen eines Witzes und einer ungenehmen Interviewfrage in den Knast werfen ließ.

Auch Yücels Schwester Ilkay war erschienen. Erst vorgestern hat sie ihn im Gefängnis in Istanbul besucht und konnte berichten, dass er momentan a) wieder schreiben und b) wieder rauchen dürfe. Seine Texte allerdings dürften das Gefängnis nicht verlassen, und lesen dürfe sie auch keiner.

Die Resonanz der St. Paulianer und Hamburger Bevölkerung auf die „Free Deniz“-Kundgebung war übrigens betrüblich. Vor allem, wenn man das mal in Relation setzt – zum Beispiel zur Zuschauerzahl des HSV-Spiels gegen den 1. FC Köln am vergangenen Wochenende, wohin es 57.000 Menschen zog, die dafür sogar noch Eintritt bezahlten. (Ich gehörte dazu.)

Die Yücel-Solidaritätskundgebung auf dem Palmenplatz hingegen war umsonst und lockte dennoch nur eine dreistellige Zahl Interessierter aus der Komfortzone. Darunter übrigens keine Vertreter der großen Hamburger Medien, wie Silke Burmester mit deutlich vernehmbarer Bitterkeit in der Stimme anmerkte. 

Dabei geht es um einen Kollegen, es geht um die Pressefreiheit, es geht darum, den üblichen Erstanwendungen von Diktatorenanwärtern früh entgegenzutreten: der Schwächung von Justiz und Presse. 

Hoffentlich war wenigstens die Welt da, für die Deniz Yücel ja als Korrespondent in Istanbul arbeitete, als er ins Visier der Staatsmacht geriet. Morgen wissen wir (hoffentlich) mehr. 

Die taz, auch ein ehemaliger Arbeitgeber des Inhaftierten, hatte Postkarten drucken lassen, darauf praktischerweise die Knastadresse von Deniz Yücel. Wie es hieß, freue sich Yücel über jedes Schreiben – und sei es nur deswegen, weil es die Poststapel, die ihm nicht ausgehändigt werden, anwachsen ließe und dies wiederum vielleicht den einen oder anderen Schergen ins Grübeln brächte.

Die Adresse lautet folgendermaßen:


Bitte schreiben, bis der Kuli streikt. 
Dem Diktator sollen die Augen flimmern.

04 April 2017

Die beste Show der Reeperbahn ist kostenlos

Die Penny-Filiale auf der Reeperbahn darf seit einigen Jahren nicht mehr an sieben Tagen die Woche ihren Betrieb am Laufen halten, sondern muss leider sonntags dicht bleiben. 

(Ob sich für diese Zwangsmaßnahme die Gewerkschaften oder die Kirche dereinst vor ihrem Schöpfer verantworten müssen, ist mir entfallen. Wahrscheinlich war es eine Koalition der beiden.) 

Jetzt halt nur noch von Montag bis Samstag läuft dort jedenfalls die beste Show auf dem Kiez, und sie ist auch noch kostenlos. Es ist eine Freakshow, und je später der Abend, desto freakiger. 

Zum durch die Gänge defilierenden Kundenensemble gehören Teenies mit verschmiertem Lippenstift, Plappertransen aus der Schmuckstraße, tätowierte Testosteronsammelstellen mit dem Willen zum Billigbier, eher nicht nach Hermès duftende Pfandflaschenzausel, gegelte Hugo-Boss-Typen mit zu engen Kurzsakkos, teigige Prolls in Schnellfickerhosen, die Dicke von nebenan, ältere türkische Herren auf dem Weg zum Kültürverein oder der heimlich Avocados (zer)drückende Hausmann.

Alle sind sie da. Und alle treffen sich spätestens in den zuverlässig langen Schlangen vor den Kassen. Selbst die Leute, die in dieser Penny-Filiale arbeiten, sind bisweilen eher … nun ja, ungewöhnlich. Keine Ahnung, ob sie speziell dahingehend gecastet wurden oder sich im Lauf der Zeit allmählich – Penny-Jahre sind Hundejahre, meine Damen und Herren! – ihrer Klientel annäherten. 

Man darf dabei eins nie vergessen: Jeder, der diesen Laden betritt, wird unweigerlich selbst Bestandteil der Freakshow, ob er will oder nicht. Doch was immer man tut, wie immer man sich verhält, keinen hier kümmert’s auch nur die Bohne – selbst wenn man 30 Tafeln Schokolade auf einmal zunächst aufs Transportband und wenig später in eine Eastpak-Umhängetasche kübelt, nur weil der Einzelpreis heute dramatisch von 1,29 Euro auf 85 Cent abgesackt ist.

Leider selbst getestet.



02 April 2017

Wanderung mit (nur einem) Hindernis


Der Plan war eigentlich super, weil sowohl dem frühlingshaften Wetter wie unseren körperlichen Voraussetzungen adäquat: mit dem Zug nach Timmendorferstrand fahren und von dort immer an der Ostsee lang die ungefähr 13 Kilometer nach Travemünde wandern, von wo aus die Heimfahrt nach Hamburg angetreten würde. Natürlich nicht ohne vorher in Niendorf und möglichst noch einmal auf der Hermannshöhe einschlägige kulinarische Versorgungsstationen um süßschnabelkompatible Leckereien zu erleichtern.

Ein super Plan, wie gesagt, der allerdings bereits auf den ersten Metern zu scheitern drohte. Denn rotweiße Absperrbänder und daneben postierte, nicht selten adipöse Wachtposten in neongelben Wichtig-wichtig-Westen verwehrten uns bereits am Start in Timmendorferstrand den Zugang zur Strandpromenade – und zwar weil sich ebendort Hunderte mehr oder weniger tauglicher Körper keuchend und ohne Not dem Diktat eines sogenannten „Sparkassen-Ostsee-Laufes“ unterwarfen.

Wie ich später auf der Webseite dieser skandalösen Veranstaltung erfahren sollte, war sie sogar entgegen der ursprünglichen Planung eigens auf heute verlegt worden, nur um uns den Sonntag zu vergällen. 

Doch nicht mit uns! Wir wählten bis Niendorf – also ungefähr vier Kilometer lang – eine (leider meerblicklose) Parallelstrecke und schwenkten dann zurück auf die angepeilte, nun von x-beinigen Nummerntrikotträgern nicht mehr kontaminierte Strandroute, von der uns auch bis Travemünde nix und niemand mehr verscheuchen konnte.


Dieser Wanderweg – das glaube ich auch in Unkenntnis von ca. 99 Prozent aller einheimischen Wanderwege sagen zu können – gehört zu den wahrscheinlich zehn schönsten in ganz Deutschland, was vor allem für das Brodtener Steilufer gilt.

Denn links unten in der Tiefe schimmert die Ostsee silbrig unter den Frühlingswolken, während man streckenweise durch einen lichten Laubwald tänzelt, der erfüllt ist von Algendüften, Möwengekreisch und dem Beat der Spechte.

Das ist derart wunderbar, dort werden wir bald wieder langlaufen. Aber nicht ohne vorher im Netz nachzuschauen, ob vielleicht irgendeine dahergelaufene Sparkasse wieder mal die Promenade absperrt.

Man lernt ja dazu.