23 August 2020

Warum ruft er bloß die Bullen nicht?


Nach dem Ausbruch der Coronakrise hatte die Rabatzfrequenz unterm Balkon deutlich abgenommen. Aber ganz allmählich zieht sie wieder an. Heute Nachmittag zum Beispiel: Rabatz unterm Balkon! Also Blick über die Brüstung.

Unten flitzt ein junger Mann die Seilerstraße (Archivbild) lang, überholt ein gemütlich dahin karriolendes Fahrrad, klammert sich am Lenker fest und zwingt es so zum Halten. Auf dem Rad sitzt ein kompakter, ansatzweise ergrauter Typ in seinen Vierzigern, mit Shorts und Übergrößen-T-Shirt. Aus der Brüllorgie, die der Jüngere ihm unter Missachtung aller Abstandsregeln ins Gesicht fetzt, schließe ich rück, dass Letzterem gerade das Fahrrad geklaut wurde. Und zwar von dem kompakten Typ, der darauf sitzt.

Ein Dieb wird in flagranti erwischt, in aller Öffentlichkeit der Tat bezichtigt und geht am Ende der Beute verlustig: Das erlebt man auch auf St. Pauli eher selten. Bisher eigentlich noch nie.

Zunächst aber bleibt der Mann auf dem Sattel einfach stumm sitzen und hört sich an, was der Jüngere noch so alles zu brüllen hat, zum Beispiel: „Steig endlich ab!“ Schließlich löst sich der Mann aus seiner Lähmung und kommt diesem Ansinnen nach. In aller Ruhe steigt er vom Rad, nimmt noch etwas Kettenartiges vom Lenker (das scheint definitiv ihm zu gehören, denn der Jüngere interveniert nicht) und schlurft gelassen davon.

„Kannst froh sein“, schreit der Fahrradeigentümer ihm hinterher, „dass ich nicht die Bullen rufe!“, und ich frage mich augenblicklich: ja, warum denn eigentlich nicht? Warum rufst du nicht die Bullen? Was um der Davidwache willen wäre falsch daran? Endlich könnten die – statt immer nur hoffnungslose Anzeigen aufzunehmen – mal einen der sonst so verlässlich Davonkommenden hopsnehmen. Stattdessen schlurft der Dieb gelassen davon und widmet im Vorübergehen den unterm Haus am Geländer angebundenen Rädern einen interessierten Blick. Auch meinem.

Der beinah Bestohlene ruft ihm derweil weiter Beschimpfungen hinterher, darunter das immer wieder gern genommene „Wichser!“. Ob diese Bezichtigung hier berechtigt ist, dafür kann ich von meiner Balkonwarte aus jedoch keine konkreten Indizien benennen. Und dafür bin ich sehr dankbar.


 

15 August 2020

09 August 2020

Jetzt aber: eine Lebendfalle!


Unser seit einem Dreivierteljahr hin und her wogender Kampf mit Supermaus ist in eine neue Phase eingetreten. Monatelang hatten sich Giftköder und Schlagfallen als untaugliche Mittel erwiesen. Der Maus entlockten sie längst nur noch ein müdes Schnurrhaarwackeln. 

Die Überwachungskamera zeigte in deprimierender Allnächtlichkeit, wie der Minisäuger zunehmend desinteressiert den Parcours abschritt; ein immer routinierterer Slalom durch ein Minenfeld, das er längst kartiert hatte. 

Also musste eine neue Strategie her. Deshalb bestellte ich nach dem Rat eines Bloglesers im Internet eine Lebendfalle. Zwei Zugänge, als Wippen konstruiert, führen ins Innere des Kastens. Dort platzierte ich in der Mitte einen ordentlichen Klecks Schokocreme samt einer verführerisch duftenden Walnuss obendrauf. Der Weg in die Falle war simpel, der wieder hinaus unmöglich. Eine so geniale wie einfache Konstruktion. Und ich würde mich keines Mordes an einem Mitgeschöpf schuldig machen müssen, das wäre ein durchaus angenehmer Nebeneffekt. Denn eigentlich haben Ms. Columbo und ich ja gar nichts gegen die Maus, wir mögen halt nur nicht mit ihr unter einem Dach leben. Sie beteiligt sich schließlich nicht mal an den Nebenkosten.

In freudiger Erwartung stellte ich die Lebendfalle dort auf, wo die Maus sich allnächtlich am liebsten tummelte: auf dem IKEA-Flokati unterm Esstisch. Vorher hatte ich die bisher so nutzlosen todbringenden Waffen alle abgebaut. Schließlich sollte eine neue Strategie etabliert werden, und Kriegstaktiken darf man nicht vermischen, das hat schon Clausewitz gesagt. Oder auch nicht, ich habe ihn nie gelesen. 

Wie auch immer: Am ersten Morgen dieses neuen Zeitalters checkte ich die Kamera und sah – nichts. Die Maus war nicht ins Blickfeld geraten. Ebenso wenig am Folgemorgen. Auch die Kastenfalle blieb öde und leer. Am dritten Morgen aber waren sechs Bilder auf der SD-Karte. 

Sie zeigten die Maus, wie sie aus respektvoller Entfernung den Kasten musterte. Dabei bewegte sie sich kaum, ganz so, als studierte sie die neue Sachlage intensiv, als machte sie sich ein genaues Bild der veränderten Situation. Am Folgetag ein ähnliches Bild. Diesmal allerdings wagte sie sich näher heran; das heutige Foto dokumentiert ihren Terraingewinn sehr gut. 

Aber in die Falle tappte der Nager noch immer nicht, und ehrlich gesagt bin ich auch längst insgeheim davon überzeugt, dass dies niemals geschehen wird – unabhängig davon, was immer ich oder irgendein Vergrämer auch unternehmen werden. Diese Maus wird never ever so unvorsichtig sein und nur aufgrund von Schokocremeduft einen unbekannten Gang betreten. Das täte sie nur, wenn sie sicher wäre, auch wieder unbeschadet herauszukommen – wie damals, als sie das Stück Käse aus der scharfen Schlagfalle holte und damit Fußball spielte.

Woher die Maus weiß, was sie tun darf und was nicht? Ich weiß es nicht. Aber eins weiß ich, und das hätte mir schon früher dämmern sollen: Friedliche Koexistenz ist eigentlich auch was sehr Schönes. 

Die Lebendfalle bleibt trotzdem vorerst einmal stehen. Ein wenig nächtliches Entertainment hat unsere Maus sich redlich verdient – nicht dass sie sich noch zu Tode langweilt, das würde ich mir nie verzeihen.



19 Juli 2020

Die gemütlichsten Ecken Deutschlands (159)


Ein Baum am Brodtener Steilufer an der Ostseeküste (53.983547, 10.880196). Selbst gestützt.


Foto: Ms. Columbo

08 Juli 2020

Unter Corona (9): If 16 was 19

Am Sonntag hatten wir in Herborn noch eine Dreiviertelstunde Zeit, bis unser Zug abfuhr, und die verbrachten wir im kulinarisch empfehlenswerten Café Zarnitz, nur wenige Schritte entfernt vom Bahnhof. 

Als man uns die Rechnung über die beiden konsumierten Espressi überreichte, fiel mir ein Detail ins Auge: Der Bon wies 19 Prozent Mehrwertsteuer aus – obwohl doch am 1. Juli der Satz auf 16 Prozent abgesenkt worden war, um unsere durch Corona geschrumpfte Konsumbereitschaft zu befeuern. Doch hier im Café Zarnitz schien man davon nichts wissen zu wollen – und machte auch keinerlei Hehl daraus; der Kassenzettel gab sich da entwaffnend offen. 

Keineswegs aus Knauserigkeit, sondern aus purer Neugier ging ich zum Chef und sprach ihn auf diesen Umstand an. Warum also weiterhin 19 statt – wie es die aktuelle Gesetzeslage erforderte – nur noch 16 Prozent? Der Zarnitz-Chef gab bereitwillig Auskunft: Wegen dieser sieben oder acht Cent, erklärte er, würde er doch nicht die Kasse umrüsten; das käme ihn viel zu teuer.

Aha. Die Sache, fand ich, begann interessant zu werden. Aber wie, wollte ich weiter wissen, regele er das denn mit dem Finanzamt? Nun, jeden Abend, erläuterte der Chef freimütig, setze er sich ans Kassenbuch und verwandele die 19 in 16 und die sieben in fünf Prozent. Dann stimme alles wieder. „Aber Ihre Kunden“, wandte ich ein und meinte damit auch mich und Ms. Columbo, „haben doch 19 und sieben Prozent bezahlt …?“ Er lächelte säuerlich und zuckte wortlos mit den Schultern. 

Ich bedankte mich herzlich für seine offenen Worte und verabschiedete mich. Doch dieses kleine Erlebnis hallte noch eine Weile nach. Das tut es immer noch. So wüsste ich zum Beispiel gern, was unser Finanzminister von diesem kreativen – man könnte auch sagen: kontraproduktiven – Umgang mit seiner Rezessionsbekämpfungsmaßnahme hielte. Hoffentlich liest Olaf Scholz diesen Blogeintrag und nutzt die Kommentarfunktion. 

Leider vergaß ich, testweise das Bezahlen unserer Espressirechnung zu verweigern mit den Worten „Wegen der vier Euro hole ich meine Girokarte nicht aus der Tasche, das wäre mir viel zu aufwendig“. Die Reaktion des kontrakreativen Zarnitz-Chefs hätte mich schon interessiert.

Sollte ich diesen Reaktionstest demnächst in Hamburg mit einem hiesigen Probanden nachholen, werde ich Sie in Echtzeit informieren. Bei Bons jedenfalls lese ich ab jetzt immer das Kleingedruckte.






02 Juli 2020

Ist die Maus ein Monster?

Es gibt Neuigkeiten von unserer Hausmaus, und zwar beunruhigende. Vielleicht sogar gruselige. Alles fing damit an, dass sie nach wochenlanger Sichtungspause plötzlich wieder durchs Wohnzimmer flitzte. Also baute ich erneut die Wildkamera auf und konnte die Rückkehr des Mininagers in der folgenden Nacht forensisch verifizieren. 

Angesichts der Fotos schien die Maus es ganz wunderbar zu finden, sich auf unserem flauschigen IKEA-Teppich zu tummeln. Deshalb sorgte ich ebendort für einen Köderparcours galore. Ich baute alles auf, was zur Verfügung stand: mit leckerstem Käse lockende Schlag- und Tunnelfallen sowie giftige Nutellatöpfchen sonder Zahl. Und davor die Kamera. 

Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass bei einer der Schlagfallen das Käsehäppchen fehlte, ohne dass sie ausgelöst worden war. Wie sich herausstellte, hatte ich Möchtegernkleinwildjäger schlicht vergessen, die Falle zu spannen. Die Maus hatte also aus der einzigen inaktiven Falle das Futter stibitzt und war – weil es sich um einen aus ihrer Sicht kapitalen Brocken handelte – jetzt wahrscheinlich auf Tage hinaus satt und zufrieden. 

Die Frage, die sich daraus ergab, war – wie oben erwähnt – beunruhigend. Denn woher um alles in der Welt wusste dieses Biest, dass ihr nur und ausschließlich von dieser einen dämlichen Falle keinerlei Gefahr drohte? Zufall? Die Sache fing jedenfalls an, unheimlich zu werden. Hatten wir es hier etwa buchstäblich mit einer Intelligenzbestie zu tun? 

Ich verdoppelte meine Anstrengungen. Neben zusätzlichen Fallen aus der weiterhin gut gefüllten Asservatenkammer installierte ich den Honeypot schlechthin: ein DIN-A4-Blatt mit acht symmetrisch ausgelegten Käsehäppchen, die ich jeweils mit einem verführerischen Klecks Giftnutella gekrönt hatte (s. Farbfoto unten). Hmmm!

Am folgenden Morgen sah ich mir die durch den Bewegungsmelder ausgelösten Fotos an. Es waren sehr, sehr viele. Sie zeigten die Maus, die durch den Köderwald spazierte wie ein Teenie durch Disneyland, sie schnupperte hier, schnüffelte dort und studierte auch mit Interesse das Käseblatt. 

Dann geschah etwas Seltsames, ja Verstörendes: Die Maus näherte sich einer der Schlagfallen, die ich Intelligenzbestie diesmal auch wirklich gespannt hatte (erstes Schwarz-Weiß-Foto oben) – und auf dem nächsten Bild (2) war die weiterhin gespannte Falle plötzlich käselos. Stattdessen lag der Köder auf dem Boden.

Allein das war schon unerklärlich. Aber dann schien dieses Monster von Maus mit dem Brocken auch noch Fußball gespielt zu haben, denn er hatte auf Foto 4 erneut seine Position verändert. 

Ich möchte also noch einmal explizit festhalten: Wir haben hier im Haus eine Maus, die sich a) Käse aus einer gespannten Schlagfalle holt, ohne dabei ums Leben zu kommen, und statt diese Chance zu nutzen und den Happen gefahrlos zu verzehren, kickt sie ihn b) lässig durchs Zimmer und entschwindet in die Nacht.

Was wird sie als Nächstes tun – uns aus Jux und Dollerei den Strom abdrehen? Die Senderbelegung am Fernseher verstellen? Hegels „Phänomenologie des Geistes“ mit Anmerkungen versehen? Und derweil Dutzende genauso schlauer Nachkommen herstellen?

Kurz: Wir brauchen Hilfe! ERNSTHAFT!!!



14 Juni 2020

Birgit, ich will ein Autogramm von dir!

Vom Tanzen habe ich zirka so viel Ahnung wie ein Karpfen von Atomphysik. Ein Manko, das mir vor allem in der Pubertät erhebliche Nachteile bescherte. In der Dorfdisco stand ich immer am Rand und guckte ersatzweise expressiv geheimnisvoll, um so auf die abhottende Weiblichkeit vielleicht auch ohne Schlenkereien interessant zu wirken. 

Hat aber nie funktioniert. Die heißesten Schnitten bekamen immer die Jungs mit den Gummigelenken, auch wenn die sonst nichts zu bieten hatten. Aber pubertierenden Mädchen ist so was egal. Hormone folgen stets dem Beat, nie der Birne. 

All das muss ich erst einmal vorwegschicken, um etwas begreiflich zu machen, was ich selbst noch nicht so ganz kapiere: mein jüngst entflammtes Interesse am Tanz. Genauer: dem Ballett. Der Grund dafür liegt in einem Korrekturauftrag, den ich vor einigen Wochen an Land ziehen konnte. Er kam vom ARD-Journalisten Thomas Aders, der einen dokufiktionalen Roman geschrieben hat über einen Ballettchoreografen namens John Cranko.

Noch nie hatte ich diesen Namen gehört, aber das ist beim Korrekturlesen natürlich egal. Man liest halt das, was man kriegt, ob chinesische Philosophen oder das „Wuhan Diary“, streicht die Fehler an, setzt oder eliminiert Kommas, schlägt Umformulierungen vor. Am Ende schreibt man eine Rechnung, und auf geht’s zum nächsten Projekt. 

Diesmal aber war es anders. Schon nach wenigen Seiten von Aders’ Roman „Seelentanz“ über das rauschhafte kurze Leben des einstigen Stuttgarter Ballettchefs Cranko, der in den 60er-Jahren das schwäbische Ensemble auf Augenhöhe mit dem Bolschoi und damit zu anhaltendem Weltruhm führte, geriet ich in einen ziemlich unprofessionellen Leseflow. 

Als Lektor und Korrektor ist es ja ähnlich wie bei jeder anderen Arbeit auch: Man tritt morgens seinen Dienst an, und wenn er spätnachmittags vorüber ist, kümmert man sich um die Freizeitgestaltung. Doch bei Aders’ „Seelentanz“ ertappte ich mich dabei, freiwillig noch eine Schicht dranzuhängen, und wenn abends das Haus und der Kiez zur Ruhe kamen, dann erwachte in mir nicht selten der Wunsch, noch ein paar Seiten weiterzulesen. Arbeit und Privates verschmolzen miteinander, die Grenzen zwischen Pflicht und Leselust verschwammen. 

Ich, genetisch ausgestattet mit dem Rhythmusgefühl eines arthritischen Breitmaulnashorns, interessierte mich plötzlich für Pas de deux, droit und quatre, wollte auf einmal mehr wissen über ouzonasse Nächte beim Stuttgarter Griechen Pireus, die Beziehungswirren der Startänzerin Marcia Haydée oder den fast fatalen Knöchelbruch der legendären Babyballerina Birgit Keil. Und ich – man glaubt es kaum – lud mir plötzlich Cranko-Ballette von YouTube runter!

Was war nur los mit mir? Nun, ich war einem verzaubernden Buch verfallen, in das der Autor sein Herzblut derart hineinfließen ließ, dass es wie eine Transfusion wirkt. Sogar auf einen Tanzmuffel wie mich. Und ich bin froh und stolz, irgendwie Teil dieses Projektes zu sein, auch wenn ich nur der Kommasetzer und -eliminierer vom Dienst war

Man kann „Seelentanz“ ab sofort hier erwerben, und das kann ich jedem nur empfehlen. Ballettfans natürlich sowieso – aber vor allem auch jenen, die damals in der Dorfdisco immer nur am Rand standen und denen nichts anderes übrig blieb, als expressiv geheimnisvoll zu gucken.

PS: Hat vielleicht irgendwer eine signierte Autogrammkarte von Marcia Haydée oder Birgit Keil im Angebot? Ich würde wer weiß was dafür geben – und sie im Flur neben die von Frank Zappa hängen.


07 Juni 2020

Unter Corona (8)

Der Musikclub Hafenklang destilliert das Beste aus der Krise, nämlich Sarkasmus. 

Eine Tür weiter interpretiert er zudem das klassische SOS neu: als „Save our sounds“. 

Entdeckt in der Großen Elbstraße.



24 Mai 2020

Unter Corona (7): Minus eins

Der Kiez kehrt allmählich zur Normalität zurück. Zwar sind die Kneipen, Bars und Puffs noch dicht. Doch das hinderte heute früh in der Silbersackstraße ein paar testosteronbesoffene Hitz- und Hohlköpfe nicht daran, sich vorm Haus neben dem Kiezbäcker aufs Maul zu hauen. 

Endlich wieder blutige Nasen! Wie hab ich das vermisst. 

Mittags spazierten wir durch die Taubenstraße und begegneten einem weiteren kiezspezifischen Phänotyp, der zuletzt von den Straßen des Viertels verschwunden war: dem schallstark streitenden Paar. 

„Du denkst nie an mich!“, schrie sie ihn an. „Total null! MINUS EINS!“ Wir zogen innerlich die Hüte vor dieser schön eskalierend aufgebauten Beschimpfung. Und er wohl auch, denn ihm fiel verständlicherweise kein einziges Widerwörtchen ein.

Wenn uns jetzt noch jemand in den Hausflur kackt, dann haben wir unser altes Leben zurück. 


21 Mai 2020

Der Pitbull unter den Fahrradschlössern

Anfang August 2016 wurde mir zum bisher letzten Mal ein Fahrrad gestohlenEs war bereits der achte Verlust dieser Art, seit wir auf St. Pauli leben. Zum Glück aber handelte es sich dabei nur um mein Zweitrad vom Flohmarkt, ein hauptsächlich von Rost und Kabelbindern unzulänglich zusammengehaltenes Ensemble minderwertiger Bauteile. 

Mein Hauptrad hingegen, ein robustes 16-Kilo-Modell von Trento mit sieben Gängen und Rücktrittbremse, hatte ich ein Jahr zuvor erworben – neu zwar, aber mit einem Kaufpreis von rund 450 Euro keineswegs hochkarätig genug, um bei ethisch-moralisch desorientierten Vollspacken sofort Gedanken an eine illegale Aneignung auszulösen. Außerdem hatte ich damals endlich, endlich erstmals erhebliche finanzielle Ressourcen in eine Sicherungsmaßnahme gesteckt. Will sagen: in ein Schloss, das laut Stiftung Warentest und anderen seriösen Quellen bei Dieben gemeinhin zu Heulen und Zähneklappern führen soll.

Es handelte sich dabei um ein gummiummanteltes Faltschloss aus gehärtetem Stahl namens Bordo Granit XPlus 6500, kostete sechsundachtzig Euro (also fast doppelt so viel wie das oben erwähnte Flohmarktrad) und hätte sich mit seinen knapp zwei Kilo Gewicht auch problemlos für eine Karriere als Bizepshantel entscheiden können. Doch das Bordo Granit XPlus 6500 wollte nie etwas anderes als Fahrradschloss sein, und diese Aufgabe erfüllte es in meinen Diensten hinfort mit Duldsamkeit und Eifer. 

Seit fast fünf Jahren arbeitet es nun schon Tag und Nacht, bei Sonne und Regen, Sturm und Eis, ohne je zu klagen oder Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen – und siehe da, ich habe mein Rad noch immer. Da die bisherige Durchschnittshaltedauer meiner Fahrräder bis zum unweigerlich stattfindenden Diebstahl bei knapp drei Jahren lag, rechne ich das voll meinem Bordo an. Es ist halt der Pitbull unter den Fahrradschlössern: Niemand wagt es, sich mit seinem Herrchen anzulegen.

Vorgestern wurde das mal wieder äußerst evident. Das direkt neben meinem ans Fußweggeländer angeschlossene Fahrrad war gestohlen worden. Ein seiner Verantwortung nicht gerecht gewordenes Zahlenschloss hing düpiert am Rohr, die zerfetzten Fasern seiner Stahlseilspirale lugten ratlos aus dem Kunststoffschlauch (im Bild rechts). Und links daneben mein Bordo Granit XPlus 6500: unversehrt und tadellos. Es würdigte seinen Artverwandten, diesen Chihuahua unter den Fahrradschlössern, keines Blickes. Ich platzte fast vor Stolz.

Allmählich übrigens zeigt mein 450-Euro-Trento-Stadtrad – obgleich scheckheftgepflegt! – erste Anzeichen von Abnutzung, ja vielleicht sogar von Altersschwäche. Nach fünf Jahren und mehr als 10.000 gefahrenen Kilometern darf ich ihm das wahrscheinlich nicht einmal krummnehmen. 

Dass es mir endlich gestohlen wird, wie es im Schnitt nun mal alle drei Jahre vorkommt auf St. Pauli, ist diesmal allerdings keine Option. Bordo wird es nicht zulassen.



 

04 Mai 2020

Unter Corona (6): Die Große Freiheit ist kaputt


Die Große Freiheit, wo sonst sehnige Dollhouse-Damen an Stangen herumrutschen oder Olivia Jones (rechts im Bild) Travestiekünstler auf die Bühne schickt, die alle aussehen wie Olivia-Jones-Klone (weshalb das Foto eventuell auch einen dieser Klone und nicht Olivia Jones zeigen könnte), diese Große Freiheit sieht im Moment alles andere als amüsierviertelkompatibel aus. 

Denn die Straße ist auf ganzer Strecke eine einzige offene Wunde, sämtliche Gehwege sind aufgerissen, von vorne bis hinten. Herrschte jetzt der ganz normale Touristenstromwahnsinn, wie er hier außerhalb von Pandemien alltäglich und -nächtlich ist, dann wäre dieses Bauprojekt nichts weniger als die städtebauliche Variante einer OP am offenen Herzen. 

So aber muss man sagen: perfektes Timing, liebes Straßenbauamt – besser kann man die Coronapause im Rotlichtviertel nicht nutzen.


23 April 2020

Unter Corona (5): Die Herbertstraße hat den Blues


Nicht nur Restaurants, Bars, Fitnessclubs und Frisörläden haben zu, sondern auch Puffs. Für St. Pauli natürlich ein besonders schmerzlicher Zustand. Zu den Hauptbetroffenen gehört eine stadtteilspezifische Institution mit weltweiter Bekanntheit: die Herbertstraße. Wobei sie natürlich nicht zugesperrt ist – wie auch, sie ist schließlich keine private, sondern eine öffentliche Straße. 

Allerdings ist sie zurzeit völlig verwaist, die hundert Meter lange Pflasterstraße hat den Blues. Ein beispielloses Elend, das unbedingt dokumentiert und somit verewigt gehört. Deshalb ging ich gestern bei schönstem Frühlingswetter dort vorbei. 

Einen Fotoapparat zu zücken gehört in der Herbertstraße normalerweise zu den tödlichsten aller Todsünden, und wer das in der Vergangenheit wagte, bekam sofort Riesenärger mit loszeternden Huren, aber alsbald auch mit deren Luden, und vor allem Letzteres ist – wie ich mir von gewöhnlich gut informierten Kreisen habe erzählen lassen – ganz und gar nicht zu empfehlen. Da bleibt es selten beim Zetern, nein, da fällt blitzschnell Elektroschrott an und manch ein Schneidezahn aus, und melden Sie dieses Ungemach mal auf der benachbarten Davidwache – die Kollegen dort hegen mehr Sympathie für hurenrächende Luden als für Fotospanner wie Sie, versprochen.

Jedenfalls wirkte die Ruhe in der Herbertstraße geradezu meditativ. In den Schaufenstern, wo sonst die bestens drapierten Damen Modalitäten verhandeln, liegen nur noch ihre Handtücher auf depressiven Drehstühlen herum. Immerhin wirkt das Interieur allzeit bereit; man hat den Eindruck, als wäre es binnen Minuten reaktivierbar. Und wer weiß, vielleicht wird das auch bald schon nötig sein. Denn warum sollten Frisöre wieder öffnen dürfen, aber die Herbertstraße nicht? Körperkontakt ist Körperkontakt.

Wenn Sie, liebe Leserinnen, also eine Zone, die für Sie außerhalb von Pandemien generell tabu ist, einmal unbehelligt inspizieren wollen, so tun Sie das am besten bald. Und wenn es nur zum Meditieren ist, mitten in der Stadt.






21 April 2020

Unter Corona (4): Vom Ausmisten

Seit die Pandemie Besitz ergriffen hat von der Welt, ist vieles anders, nicht nur im Großen, auch im Kleinen. Wenn man durch das gelähmte Hamburg läuft, fällt zum Beispiel auf, wie viel zu Verschenkendes plötzlich die Gehwege verziert. Anscheinend kommen die Menschen vor lauter Lockdownlangeweile endlich einmal dazu, die Bestände zu sichten. 

Vor allem Bücherkisten stehen draußen herum, heute sah ich zudem zwei Paar Damenschuhe sowie CDs und Handyschutzhüllen. Allerdings gibt es bisher keine Hinweise darauf, dass irgendetwas davon auch nur einen der rar gesäten Passanten interessiert. Ausnahme: eine Pappschachtel mit (natürlich noch verschlossenen) Chipstüten, die am Wochenende bei uns im Treppenhaus stand. Keine zwei Stunden später war sie leer – und das sogar ohne unsere Mithilfe. Wir sind eher chipsophob.

Eine zweite Auffälligkeit betrifft einen erheblich unappetitlicheren Sachverhalt: Überall in der Stadt tauchen plötzlich Hotspots eingetrockneter Vogelkacke auf. Beide, Mensch und Tier, scheinen in der Not also auszumisten. Das Guanophänomen läuft allerdings aufs Merkwürdigste einer hier in Hamburg gerade breit diskutierten Entwicklung zuwider, nämlich der unter den Tauben grassierenden Hungersnot. 

Seit die vom Lockdown zum Konsumverzicht verdonnerten Menschen mangels Gelegenheit weniger Müll unsachgemäß entsorgen, müssen die armen Vögel darben. Wie sie es aber schaffen, im Gegenzug die Produktion von Exkrementen mächtig anzukurbeln, dürfen uns gern die Ornithologen erklären. Oder noch besser die Physiker, denen dieser aufregende Fall eines taubeninduzierten Perpetuum mobile – man steckt oben weniger rein, bekommt hinten aber mehr raus – sicherlich viel zu forschen aufgibt. Vielleicht liefern uns diese seltsamen Vögel damit sogar die Lösung aller künftigen Energieprobleme?

Die heute Nachmittag auf dem Heiligengeistfeld herumstaksenden Tauben schien das Dramatische ihrer Situation indes kaum zu kümmern. Es wurde fröhlich herumgebalzt, man umtänzelte und bestieg sich munter; ja, diese vögelnden Vögel taten ganz so, als gäbe es doch ein Morgen. Ein tröstlicher Gedanke, der augenblicklich meinen Tag erhellte. 




18 April 2020

Fundstücke (245)

Bei dem Werbespruch „Wir kleiden Sie zauberhaft ein“ hätte ich – aber das mag an mir und meinem wahrscheinlich einfach zu konservativen Modegeschmack liegen – nicht zwangsläufig das beispielhaft abgebildete Outfit erwartet. 

Dieser konservative Modegeschmack versucht mir gerade einzureden, es sei augenscheinlich nicht immer von Übel, wenn ein Geschäft dank höherer Gewalt zwangsgeschlossen wird, aber das wäre unfair, deshalb wehre ich mich in aller Form gegen diesen Gedanken und schäme mich dafür.

Entdeckt auf der Reeperbahn, St. Pauli.



06 April 2020

Fundstücke (244)


„Früher“, sagte Ms. Columbo heute Nachmittag beim Anblick dieser Schaufensterinfo, „nannte man das Adoption.“

Entdeckt in der Wohlwillstraße, St. Pauli.


05 April 2020

Unter Corona (3): Nur die Dealer arbeiten noch

Hamburg – und damit natürlich auch St. Pauli – ist zurzeit komplett touristenfrei. Der im vergangenen Juni an dieser Stelle dokumentierte feuchte Traum aller Gentrifzierungsgegner wurde also schneller wahr als gedacht. Wenn auch aus ganz anderen Gründen.

Die Stadt liegt leise und leer in der Frühlingssonne. Ein böiger Ostwind fegt um die Ecken. Wenn man lange Spaziergänge macht – zum Beispiel vom Jenischpark im Westen, wohin man in einem leeren Bus der Linie 111 fuhr, zurück nach St. Pauli –, sollte man nicht zu viel getrunken haben und auch unterwegs nichts nachgießen, denn neben der Gastronomie sind auch die öffentlichen Toiletten geschlossen. Wir bewältigten die Herausforderung mit Bravour, aber knapp. 

Unter den wenigen, die ihr Geschäft nicht geschlossen haben, sind die üblichen afrikanischen Dealer an der Balduintreppe. Sie stehen dort zu viert im Karree. Zwischen ihnen klafft der behördlich angeordnete Mindestabstand von mehreren Metern, sodass wir als Spaziergänger sogar hindurchlaufen können, ohne gesetzesbrüchig zu werden. Man möchte den Herren danke sagen für ihre Einsicht in die Notwendigkeit. Wie es allerdings aussähe, wenn sie gerade ein Geschäft abwickelten, also Geld entgegennähmen und dafür Ware rüberreichen müssten, das können wir nicht sagen; denn als wir vorüberliefen, herrschte dealtechnisch gerade Ebbe.

In der Bernhard-Nocht-Straße hing ein Plakat mit der Aufschrift: „Wer hamstert ist zu faul zum Plündern“, und wie fast immer ist unabhängig von der getroffenen Aussage schärfstens zu monieren, dass sie kontaminiert wird von einem kapitalen Rechtschreibfehler, hier ein abwesendes Komma. Warum haben jene mit Botschaften so selten die Fähigkeit, sie auch korrekt auszudrücken? Gibt es da vielleicht sogar einen Zusammenhang? 

Jedenfalls werden Korrektoren und Lektoren weiterhin gebraucht, auf allen Ebenen. Was mir die Gelegenheit gibt, noch einmal freundlich auf meinen Blogeintrag vom 15. Januar hinzuweisen.