31 Oktober 2017

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (126)


Der stolzen Statue des Beachclubs StrandPauli (der übrigens durchgehend geöffnet hat, selbst im Winter) kann auch die höchste Sturmflut nichts anhaben. 

Am Sonntag persönlich überprüft.



28 Oktober 2017

Sympathisch derangiert

Der Hein-Köllisch-Platz im Südwesten von St. Pauli mit seinem buckligen Pflaster und den Kneipen und Restaurants, die ihn malerisch umsäumen: Das wäre durchaus eine Wohnlage, die wir uns auch vorstellen könnten – sofern die Wege dorthin nicht so diskutabel wären. 

Wenn man etwa den Platz von Osten her erreichen möchte, muss man durch die Bernhard-Nocht-Straße – und somit Bock darauf haben, durch eine Phalanx afrikanischer Dealer zu huschen, die einem manchmal ein erwartungsarmes „Hallo“ zuraunen. 

Und wenn man von der Reeperbahn kommt, gilt es zunächst die von trunkenen Kieztouristen heimgesuchte Silbersackstraße heil zu überstehen, ehe ein rechts abzweigender Pfad namens Silbersacktwiete uns an einem von dunklen unheimlichen vollgepissten Hecken flankierten Sportplatz entlangzwingen möchte. 

Beide Varianten sind unschön, doch wenn man eine davon schadlos absolviert hat und erst einmal angekommen ist auf dem Hein-Köllisch-Platz, dann entfaltet sich rotlichtferne St.-Pauli-Gemütlichkeit in ihrer ganzen Pracht. Vor allem an jedem letzten Freitag des Monats, wenn im Stadtteilzentrum Kölibri ein sogenanntes Küchenkonzert stattfindet.

Das geht so: Bemühte Amateure, über die sich ob ihres von jedwedem Können ungetrübten Eifers sofort ein Füllhorn mitleidsgetriebener Publikumsovationen ergießt, geben ihr Bestes (was nicht viel ist), derweil ehrenamtliche Kräfte schmackhafte vegetarische Speisen zubereiten und über den Tresen reichen. Gestern war es zum Beispiel Kürbis mit Bulgur, bestreut mit Koriander, und als Nachtisch Windbeutel mit Himbeeren. Fürs Essen wird so wenig ein Preis erhoben wie für die Musik (was auch noch schöner wäre!), aber Spenden für beide Angebote sind willkommen, fürs Essen werden sogar Richtwerte genannt. 

Im Kölibri hält man sich übrigens trotz des alternativen Anstrichs penibel an die Gesetze. Als ich bei der höchstens 16-jährigen Thekenkraft ein Wasser und einen Wein bestellte, rief sie eine erwachsene Kollegin herbei mit den Worten: „Machst du ein Glas Wein? Ich darf doch keinen Alkohol ausschenken.“ Hier dürfen 16-Jährige also nicht nur ordnungsgemäß keinen Stoff trinken, sie dürfen ihn nicht einmal einem Gast zu trinken geben

Das nicht immer in Würde gealterte, optisch sofort als gewerkschaftsnah zu identifizierende Kölibri-Publikum  wirkt überdurchschnittlich derangiert, doch auf äußerst sympathische Weise. Es sind Menschen, die jederzeit „Refugees welcome“-Schilder hochhielten, die natürlich gegen die Elbvertiefung sind und auch noch der flachsten künstlerischen Darbietung bis an die Gestade der Euphorie wohlgesonnen gegenüberstehen, solange sie nur gutgemeint ist.

Kurz: Nichts, aber auch gar nichts spricht dagegen, an jedem letzten Freitag des Monats gutgelaunt und hungrig im Kölibri aufzuschlagen. Natürlich werden Sie weiterhin auch uns dort regelmäßig antreffen – sofern wir den Hein-Köllisch-Platz unbeschadet erreichen.


14 Oktober 2017

Unterwegs mit einem Bolzenschneider

Wie langjährige Leser und Leserinnen wissen, sind mir bereits acht Fahrräder entwendet worden, sieben davon auf dem Kiez. Wer die Chronik der traurigsten dieser Vorfälle noch einmal nachlesen möchte, kann das hier, hier, hier, hier, hier und hier tun.  

Heute aber wurde mal keins geklaut, sondern es geschah so etwas Ähnliches wie das Gegenteil: Irgendein Witzbold nämlich hatte Ms. Columbos Rad, obgleich es bereits mit ihrem eigenen Faltschloss ans Geländer gekettet war, mit einer zusätzlichen Kette dort befestigt (Foto oben), allerdings ohne den Schlüssel da zu lassen. Das Fahrrad war also immobil. 

Um meinen Ruf als der weltweit erfolgreichste Ermöglicher unserer Haushaltes zu festigen, erbot ich mich, das Problem zu lösen, und suchte den Fahrradladen um die Ecke auf, um mir einen Bolzenschneider zu leihen. Nach einer kurzen Schilderung der Umstände und aufgrund meines ehrlichen Gesichts sowie eines 20-Euro-Scheins als Pfand drückte man mir das Werkzeug in die Hand. „Aber sagen Sie vorher der Polizei Bescheid“, riet mir der Kollege noch. Eine gute Idee – das fand man auch auf der Davidwache. 

„Wenn Sie in der Seilerstraße mit einem Bolzenschneider rumwerkeln“, sagte der Diensthabende, „stehen sofort drei Polizeiwagen da.“ Nun, dachte ich im Stillen, während meine acht Räder entwendet wurden, hätte ich mich schon über das Auftauchen eines einzigen gefreut, aber gut. Schnee von gestern. 

Die Freunde und Helfer der Davidwache erklärten sich zu meiner Freude bereit, mich zu begleiten, sogar in Gesellschaft eines polizeieigenen Bolzenschneiders. Das Gerät, welches aus der Waffenkammer hervorgeholt wurde, verhielt sich zu dem, das ich bei mir führte, wie der Hulk zu einem Heinzelmännchen. 

Noch ganz benommen von diesem Eindruck stieg ich mit zwei Uniformierten, einem Mann und einer Frau, in den Streifenwagen. Wir kamen allerdings nicht direkt durch, obwohl die Seilerstraße praktisch gegenüber der Davidwache schon anfängt. Auf dem Hamburger Berg nämlich taumelte uns ein zirka 60-jähriges Faktotum mit Fusselbart, Piratenkopftuch und Jeansweste vors Auto und verlangte die Aufnahme einer sofortigen Anzeige. 

Vorm Penny, keuchte der Mann in höchster Erregung, habe ihn so’n Typ mit Glatze und ganz, ganz komischen Augen irgendwie am Ohr erwischt und zudem damit gedroht, ihm auffe Fresse zu hauen, dabei „hab ich seine Frau gor nich annemacht!“. Die Polizistin schickte ihn auf die Wache, ihr Kollege murmelte „Spinner“, und wir fuhren weiter. 

In der Seilerstraße angekommen, trat der nächste Passant auf uns zu. Ach, man sei im Einsatz? Er wolle aber dringend eine Meldung machen, und zwar habe er im Lauf der Woche beobachtet, wie jemand dort drüben – er zeigte ins Ungefähre – haufenweise Steine gehortet und deponiert habe, wer weiß, zu welchem Behufe. 

Als auch dies registriert worden war, widmeten wir drei uns Ms. Columbos festgesetztem Zweirad. Mit ihrem Fahrradpass und durch Aufschließen des Faltschlosses hatte ich mich vorher als Bevollmächtigter der Eigentümerin legitimiert. Sonst könnte ja jeder kommen und sich von der Polizei beim Fahrraddiebstahl helfen lassen.

Zunächst probierte der Polizist es mit meinem Zwergenbolzenschneider, vergeblich. „Vielleicht doch der große?“, regte ich an, begierig darauf, das Monster im Einsatz zu sehen. Der Mann war einverstanden, doch das Billigschloss erwies sich als ungeahnt zäh. Oben zog die Polizistin die Kette stramm, unten ich, und in der Mitte nagte der von kräftiger Bullenhand geführte Bolzenschneider wütend und verzweifelt am längst freigelegten Drahtgeflecht.

Wir mühten uns gewiss fast zehn Minuten ab mit diesem zähen Miststück, ehe es endlich knack machte und die Sache erledigt war. Danach suchten wir noch längere Zeit nach der Rahmennummer, um sie mit dem Fahrradpass abzugleichen; mir traten schon die ersten Schweißtröpfchen auf die Stirn, und nicht nur, weil dieser goldene Oktobertag sich so sommerlich gerierte.

Das zerbissene Schloss entsorgte ich im Mülleimer. Wer eine Theorie hat, wieso man fremde Fahrräder irgendwo ankettet, möge hervortreten und sie darlegen. Ich bin neugierig. Als ich den kleinen Bolzenschneider wieder zurück in den Laden brachte, fragte mich der Verleiher, während er mir die 20 Euro zurückgab, ob alles geklappt habe. „Nö“, sagte ich. „Aber der kriegt sonst eigentlich alles durch“, antwortete er.

Aus diesem Erlebnis habe ich mehrerlei gelernt. Erstens: Auch mit einem Bolzenschneider vom Ausmaß eines Laubbläsers braucht man zu dritt außerordentlich lange, um ein Popelschloss zu knacken. Mir als Dieb wäre das zu nervenzerrend, ich nähme lieber eine Flex. 

Zweitens: Aus einem Polizeiwagen kann man nicht aussteigen, ohne dass jemand von außen die Tür aufmacht. Selbst wenn man nicht verhaftet ist.

PS: Ein ähnlicher Fall ist mir schon mal passiert. Und er ging so aus.



10 Oktober 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (124)


Ein goldener Oktober im Alten Land, nach einer Fährfahrt unterwegs per pedes aufm Deich zu einem Hoffest in Jork, wo Kürbissuppe, elstarsatte Bäume und Kartoffelpuffer mit Apfelmus auf die glücklich erschöpften Wanderer warten – was kann es Schönres geben?

Nun, das kann ich Ihnen sagen: nüscht!


06 Oktober 2017

Die normative Kraft des Dicklichen

Auf Rügen sind sie alle wohlgenährt: die Spinnen, die Möwen und die Menschen. Schmal hingegen ist die Internetbandbreite. In unserem Göhrener Hotel namens Berliner Bär müssen sich alle Gäste eine einzige kümmerliche 6000er-Leitung teilen. Danke, Merkel! 

Zurück zur Fülligkeit allen Lebens auf Rügen: Im Selliner Kaufhaus Stolz, in das wir uns wegen eines verheißungsvollen 70-prozentigen Umbaurabatts hineinverirrten, fanden wir quasi nichts in unserer Größe, sondern fast durchweg nur Zeugs in X- und XXL (ganz abgesehen davon, dass Stolz seinen Riesenladen mit einem indiskutabel KiK-artigen Polyesterbilligsortiment vollgekotzt hat, für dessen Herstellung wahrscheinlich halb Pakistan seine Kinder opfern musste). 

Tags drauf die nächste Bestätigung unserer Beobachtung. Wir schaukelten in einem maximal 30 km/h dahinrumpelnden Dampfzug namens Rasender Roland nach Binz und stolperten dort über einen Modeladen, der vor der normativen Kraft des Dicklichen längst sämtliche Waffen gestreckt hat – und sein kugelförmiges Zielpublikum mit verheißungsvollen „Größen bis 5XL“ in den Laden locken will.

Vielleicht gibt es im Osten ja nicht überall Kohls blühende Landschaften, doch das Durchschnittsgewicht des Bevölkerungsbesatzes hat sich – zumindest auf Rügen – seit Honeckers Zeiten erheblich hochgearbeitet. Wenn Bertolt Brecht also Recht hätte mit seinem verständnisvollen „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, dann müsste es sich bei den gut gesättigten Rügenern um eine ethisch gefestigte Ethnie von hochentwickelter Menschlichkeit handeln. 

Ehe wir zur Überprüfung dieser These kommen, möchte ich noch vorwegschicken, dass die gewonnenen empirischen Erkenntnisse allein auf der Beobachtung offenkundig deutscher Probanden beruhen. Irgendwie exotisch aussehende Menschen waren schlichtweg nicht zu sehen. Niemand mit Kopftuch. Keine Afrikaner, Türken, Syrer, Chinesen, Koreaner (wobei wir wegen unserer Halbpension im Berliner Bären in die durchaus international aufgestellten Restaurants nicht hineingeschaut haben. Dort mag also möglicherweise importiertes Personal vorzufinden sein).

Es gibt ja das statistische Paradoxon, dass gerade dort, wo es die wenigsten Nichtdeutschen gibt, diese am skeptischsten oder gar ablehnend betrachtet werden. Und genauso ist es auch auf Rügen, wenn man die letzte Wahl als Grundlage nimmt. Jene schlechtgemachte Simulation einer demokratischen Partei namens AfD (bekannte einschlägige Zitate, die ihren nicht nur latenten Rassismus belegen, erspare ich Ihnen an dieser Stelle) räumte nämlich im Wahlkreis Vorpommern-Rügen/Vorpommern-Greifswald kräftig ab. Sie ging bei der Bundestagswahl im September mit 19,6 Prozent als zweitstärkste Kraft durchs Ziel.

Ich fasse zusammen: Die hiesigen, von keiner Irritation durch anders Aussehende geplagten Blässlinge verfügen augenscheinlich über Kalorien im Überfluss und verwenden sie zum Teil dafür, in zeltartigen 5XL-Pullis Kreuzchen gegen Fremde zu machen, die auf Rügen nicht vorkommen.

Aber die Küste, die Klippen und die Seebrücken: toll, toll, toll.



02 Oktober 2017

Vom Aussterben bedroht

Wir müssen Rügen rügen – wegen Regen. Ansonsten ist es ganz amüsant hier oben auf der größten deutschen Insel. Die abgebildete Angebotstafel gibt eine Ahnung, warum.

Aber wie lange wird das noch so sein? Denn wenn die Rügener Bauern ihre Eier auf den Inselmärkten verhökern, statt sie wie seit Jahrtausenden reproduktiv einzusetzen, dürfte es um ihre Zukunft bereits mittelfristig schlecht bestellt sein.


Daran ändert auch das dickste Eigenlob („XL“!) nur wenig. 




Fundstücke (221)


Manchmal frage ich mich ja schon, wie Automobilisten reagieren würden, wenn man ihnen solche Streckenführungen zumutete. 

Als Radfahrer jedenfalls nimmt man lustige Einfälle Hamburger Verkehrspolitik wie plötzlich an der Bordsteinkante endende oder botanisch herausgeforderte Radwege inzwischen duldsam hin. 

Oder fotografiert und verbloggt sie.

26 September 2017

Keine Freaks, nirgends

Zurück aus dem Kurzurlaub am Mittelrhein fällt uns umso stärker der Freakanteil auf St. Pauli ins Auge. Ein solcher Ausflug, und sei er noch so kurz, sorgt sofort für eine Schärfung des Blicks.

Ob der frühvergreiste Junkie mit Totenkopfsweatshirt, der rollatorgestützt über den Hamburger Berg schlurft, oder der hagere Pomadenträger in der Seilerstraße, der vor sich hin brabbelt und wütend eine halbgerauchte Zigarette auf den Gehweg schmeißt: Schon beim ersten Gang zum Supermarkt begegnen uns überall Menschen mit Problemen, die sie nicht verbergen können. Meistens hagere, ausgezehrte Typen, fast immer Männer. 

Im idyllischen Boppard am Mittelrhein hingegen, wo wir am vergangenen Wochenende das Weinfest besucht haben, sieht man nichts Vergleichbares. Fast alle dortigen Bevölkerungsteilnehmer sind wohlgenährt und rotgesichtig, der ortsüblich hervorragende Wein zaubert Fröhlichkeit in ihre Gesichter. 

Klar, wahrscheinlich haben auch diese Menschen ihre Probleme, doch entweder sind die nicht so übermächtig (was ich glaube), oder sie kauen lieber innnerlich auf diesen Problem herum, als ihnen zu erlauben, sich allzu deutlich in ihrer Physiognomie niederzuschlagen. 

Das Freakigste, was ich am Wochenende in Boppard sah, war ein etwa 60-jähriger Mann in weißem Oberhemd und Jeans, der sich auf dem Weg zum Nachschubstand alle leeren Gläser seiner Zechgesellschaft zwischen die Fiinger der rechten Hand geklemmt hatte und mit der linken die fast leere Weinflasche an den Hals setzte, um den Rest umstandslos zu inkorporieren.

Anscheinend bringt die weingeprägte Kultur dort unten am Rhein einen anderen Menschentypus hervor als die biergeprägte hier oben auf dem Kiez. Allerdings muss man auch sagen, dass ein Stadtteil wie St. Pauli allein schon deshalb einen erheblich größeren Anteil an Sonderlingen aufweist, weil sie provinzielle Gegenden wie den Mittelrhein, wo man ihnen wohl eher stirnrunzelnd als ermutigend begegnen dürfte, fliehen – urbane Gegenden wie der Kiez werden so zu toleranten Sammelbecken, wo jedes Tierchen sein Pläsirchen findet und man noch jeder Wunderlichkeit schulterzuckend statt kritisch begegnet. Deshalb vielleicht die hohe Quote.

Das Schicksal des vergreisten Junkies im Totenkopfsweatshirt, der sich rollatorgestützt über den Hamburger Berg schleppt, möchte ich gleichwohl nicht romantisieren. Wenn er die Uhr zurückdrehen und neu wählen dürfte, würde er sein Leben wohl mit dem des properen Bopparder Flaschenrestaussüfflers tauschen.

Im Nachbarort Osterspai haben wir übrigens doch noch etwas Unidyllisches entdeckt (s. Foto). Es ist aber keineswegs repräsentativ! Bitte überzeugen Sie sich vor Ort.



21 September 2017

Fundstücke (220)


Nein, nicht immer ist es idyllisch an der Alster. Welcher heimische Wasservogel hat eigentlich derart furchterregende Krallen?

Entdeckt an einem Steg am Alsterparkufer.

16 September 2017

Von Huren, Wien und Unterhosen

„Mal sehen, ob er gut gemacht ist.“ Der Kiezbäcker nimmt meinen 50-Euro-Schein, mit dem ich leicht verschämt die Samstagsbrötchen bezahlen möchte, und fährt ihn mit einem grauen, an einen USB-Stick erinnernden Lichtstift ab.

„Meine Falschgeldausrüstung zu Hause ist eigentlich spitze“, sage ich. „So“, sagt der Kiezbäcker, während er den Fuffi wegsteckt und nach Wechselgeld kramt, „hab ich Sie auch eingeschätzt.“

Dieser kleine Dialog mit einer St.-Pauli-Institution – wer den Kiezbäcker nicht kennt: Er vertickt seinen körnerreichen Stoff in der Silbersackstraße – passt gut zum heutigen Tag. Denn dieses ohne den Kiez undenkbare Blog feiert schon wieder sein Wiegenfest, und zwar zum zwölften Mal. Damit dürfte die Rückseite der Reeperbahn endgültig zu den Methusalems der deutschen Blogosphäre gehören.

Was die Besucherzahlen angeht, so liegen sie momentan recht stabil zwischen 1.700 und 2.000 täglich, mit Ausreißern nach oben und unten. Erstaunlich angesichts meiner seit Jahren rückläufigen Blogfrequenz (in den vergangenen zwölf Monaten hat sie immerhin wieder etwas angezogen).

Insgesamt waren seit 2010 (die Statistik davor ist leider verlorgengegangen) 3.490.328 Interessierte hier, viele natürlich mehrfach.

Jeder und jedem Einzelnen dafür demütigsten Dank! Ohne Sie und Ihre Kommentare wäre dieses Blog schon längst den Gang alles Irdischen gegangen. Man kann und muss sogar sagen: Nicht ich halte es am Leben, sondern Sie. Und das meine ich ernst.

Eines ungebrochenen Zulaufs erfreut sich noch immer einer der ältesten Texte überhaupt, der am 27. September 2005 veröffentlichte „Die Huren“. Mit knapp 37.000 Zugriffen ist diese kleine empirische Anleitung, wie man sich am besten der Avancen von Davidstraßendamen erwehrt, auch der mit riesigem Abstand meistgelesene. Der auf Platz zwei gelistete – „Die geschüttelte Unterhose“ vom 22. September 2013 – kommt auf 5.919.

Besonders erfreulich finde ich die 5.605 Leser von „Der weltweit mieseste Espresso von ganz Wien“, weil sie möglicherweise nicht in dieselbe Falle stolpern wie wir. Hier auf der Rückseite der Reeperbahn werden Sie nämlich nicht nur unterhalten, sondern auch geholfen!

Danksagungen, Beschimpfungen und gutgemeinte Ratschläge bitte in den Kommentaren.

PS: Das Foto zeigt die Abendsonne überm Millerntorstadion, neben dem Kiezbäcker eine weitere Institution auf St. Pauli.

07 September 2017

Die tückische Treppe

Als wir heute vom Einkaufen nach Hause kamen, saß auf der Treppe vor unserer Haustür eine Frau und telefonierte. 

Nur die Tatsache, dass sie dergestalt beschäftigt war, hielt mich davon ab, sie im Interesse ihrer Hose darauf aufmerksam zu machen, wofür diese Treppe sonst so benutzt wird: nämlich zum Kacken, Pinkeln, Kotzen, Fixen und Bluten (Beispielfoto). 

Aber sie telefonierte ja. Vielleicht besser so.

01 September 2017

Kalauer (4–6)


Seit dem fulminanten Start der Serie ist diesbezüglich nichts mehr passiert auf der Rückseite der Reeperbahn, doch das ändert sich genau JETZT.

Hier also einige weitere kalauernde Geschäfts- und Firmennamen, mit denen das Hamburger Unternehmertum seinen Umsatz steigern möchte.



29 August 2017

Auf dem Kiez wird eskaliert


In St. Pauli (Symbolbild) liegen die Nerven blank. Dafür sprechen zwei Vorfälle innerhalb eines Tages. 

Vorfall 1, morgens kurz vor neun: Draußen schreit eine Frau. Sie steht unten vor der Postfiliale in der Fahrertür ihres Mittelklassewagens, mutmaßlich eines VW Golf, und ihr Geschrei gilt einem älteren Radfahrer mit Strohhut in Begleitung eines ebenfalls mit Fahrrad versorgten Kindes, der neben ihrem Auto steht. 

„Warum schlägst du mein Auto?“, schreit sie den Mann an. Der verweigert die Aussage und fährt lieber weiter, ebenso das Kind. Inzwischen hat ein weiterer Wagen angehalten, und dessen Fahrerin klagt die Empörte nun ihr Leid. „Der hat mein Auto geschlagen!“, ruft sie, „voll auf die Scheibe!“

Aus der Balkonperspektive wirkt das Glas indes unversehrt. Natürlich ist es eine Verletzung der sozialen Distanz, ja geradezu der Intimsphäre, gegenüber einem Wagen handgreiflich zu werden, doch in meiner Welt ist so was besser, als die Hand gegenüber der Fahrerin selbst zu erheben. 

Die Ursache von all dem bleibt im Dunkeln. Doch die Empörung dieser Frau über eine Hand auf ihrer Scheibe, die Vehemenz, mit der sie den halben Kiez zusammenschreit, und die Ungerührtheit, mit der der Strohhutträger samt Kind den Schauplatz verlässt: All das hat sich mir eingeprägt, wenngleich nicht so tief, dass ich mich – sagen wir – zu Weihnachten noch daran erinnern könnte. Deshalb schreibe ich es hier auch auf. Ebenso wie Vorfall 2. 

Vorfall 2, nachmittags, kurz nach drei: An der Kreuzung Glacischaussee/Feldstraße warte ich am Fahrradweg auf die Grünphase. Gegenüber tut dasselbe ein junger Mann Marke Punk: spidderige Gestalt, schwarzes Motto-T-Shirt mit einem Spruch, den ich nicht lesen kann, Kopfhörer auf. Zwischen uns rollt ein Wagen zentimeterweise Richtung Kreuzung, der Fahrer scheint ungeduldig ob der allzu langen Rotphase.

Als wir Grün kriegen, fährt der Punk los und wird fuchtig. Er radelt sehr nah an der Kühlerhaube des zu weit vorgerollten Wagens vorbei und keift dabei den Fahrer an: „Bleib ma hinter der Linie stehen, du Hurensohn, ey!“

Dieser Satz in dieser Situation überrascht auf gleich mehreren Ebenen. Zum einen erstaunt die sich unvermittelt Bahn brechende bürgerliche Attitüde dieses Burschen. Irgendetwas sagt mir, dass er sonst in seinem Alltag eher mal Fünfe gerade sein lässt, als vor jeder seiner Handlungen erst mal sorgsam deutsche Gesetzestexte zu memorieren. Aber hier lässt er plötzlich den StVO-Kapo raushängen. Überraschend, wie gesagt.

Und dann auch noch dieses altbackene „Hurensohn“. Ich meine: Wie kann man als jemand, der outfitoptisch einen alternativen Lebensstil nahelegt, Prostituiertenkinder dissen, und das auch noch auf St. Pauli? Das ist Sexworkshaming, du Honk!

Was mich an beiden Vorfällen aber am meisten irritiert, ist die Eskalationsbereitschaft aus dem Nichts. Wenn schon in solchen harmlosen Alltagsmomenten sonisch und semantisch die ganz große Keule ausgepackt wird, was tun diese Menschen dann, wenn sie mal wirklich einen Grund zum Ärgern haben – den anderen mit einer Kettensäge filetieren?

Auf St. Pauli liegen jedenfalls die Nerven blank. Durch so was leider auch meine. Man reiche mir die Kettensäge.



27 August 2017

Mal kein Dreck unter den Fingernägeln

Auf dem Spielbudenplatz ist Winzerfest, ganz St. Pauli umlagert die Stände, trinkt und swingt und fühlt sich super. Wir auch. 

Am Stand des Weinguts Edelhof Minges aus dem pfälzischen Kirrweiler nippen wir an der sehr, sehr trinkbaren Weißburgunderspätlese. Dafür nehmen sie hier pro Schoppen sechs Tacken, was auf der Onlineseite des Weinguts die ganze Flasche kostet, aber so ist das nun mal. Sie haben ja auch immense Kosten zu stemmen zwischen Kirrweiler und Kiezwinzerfest. 

Neben uns lehnt ein junges Paar Anfang 20 am Tresen von Edelhof Minges. Er interpretiert miit seinem Outfit unverkrampft die Hippieära: nackenlange Locken, Fünftagebart, ein weißes, luftiges, über der Shorts getragenes Leinenhemd mit hochgeschlagenen Ärmeln, dazu Turnschuhe. 

Sie wirkt ein wenig wie eine Businessfrau im Freizeitmodus: Bubikopf, lange Kunstwimpern, grauer Wollpulli über wadenlangen Leggins; dazu ebenfalls Turnschuhe. 

Während wir also an der Weißburgunderspätlese nippen, sagt er unvermittelt jenen Satz, ohne den dieser Blogeintrag jetzt hier nicht stünde. 

„Du bist das erste Mädchen beziehungsweise die erste Frau“, kriegt er nämlich mit leicht verlegenem Lächeln gerade noch so die Gendersprechkurve, „für die ich mir je die Fingernägel gesäubert habe.“ (Hervorhebung von mir.)

Ein Geständnis, das zwar einen bestürzenden Blick in seine generellen Vorstellungen von Körperhygiene erlaubt, seine Begleitung aber gleichwohl zu hingerissenem Giggeln animiert. Hier hat jemand offensichtlich den richtigen Ton getroffen. 

Der Ausblick auf gewisse Details des eventuell bevorstehenden Beziehungsalltags ist zwar aus meiner Sicht ein eher trüber, doch so weit scheint der schwer geschmeichelte Bubikopf hier, im Lampionschummer einer weinseligen Kiezsommernacht, nicht zu denken. 

Ich prophezeihe dieser Liaison ewige Dauer, vielleicht sogar mehr als drei Monate. 

Das St.-Pauli-Winzerfest auf dem Spielbudenplatz endet übrigens heute – für den Fall, dass Sie sich auf die Suche nach noch nie gehörten Killerkomplimenten begeben und diese von überteuerten, aber schmackhaften Spätlesen flankiert sehen möchten.


 

26 August 2017

Pareidolie (123)

Wenn ich schon so viel gehört und gesehen hätte wie dieser Konferenztisch – tja, dann würde ich wahrscheinlich auch so gucken.


19 August 2017

„Wir sind hier nicht beim Hallenhalma“

Fein, endlich ist wieder Fußballbundesliga! Neben rasantem Ballsport wird es nach den Spielen allerdings auch wieder die üblichen Interviews geben, bei denen Trainer und Kicker ihre in PR-Seminaren auswendig gelernten Sprüche runterleiern. Bekannt und gefürchtet ist dieser Stil als „Lahmsprech“. 

Die Herausforderung für uns, denen man dieses inhaltsarme Deppengedengel aus der Semantikvorhölle zumutet, besteht nun eine weitere Saison lang darin, aus dem automatisch Dahergesagten das wirklich Gemeinte herauszufiltern. 

Hier folgen daher einige Handreichungen, um wenigstens ein paar der windelweichsten Floskeln dieser Aufsagroboter in kurzen Hosen dechiffrieren zu können.

  1. Der Spieler sagt: „Ein Riesenkompliment an die ganze Mannschaft.“
    Was er damit sagen will: „Trotz der Rumpelfüßler um mich rum hab ich zwei geile Buden gemacht – und es wären mindestens vier geworden, wenn diese heillos überbezahlten Vollhorste mehr könnten als nur rammdösig geradeaus laufen.“
  1. Der Trainer sagt: „Der Knackpunkt war die Rote Karte.“
    Was er damit sagen will: „Wenn der Horsti nicht mal in der Lage ist, seinen Gegenspieler hinterm Rücken des Schiri amtlich ins Spital zu grätschen, dann kammer halt nicht gewinnen. Isso.“
  1. Der Trainer sagt: „Wenn unser Neuner den macht, ist das Spiel gelaufen.“
    Was er damit sagen will: „Wieso unser taubblinder Spodi diese Flasche leer überteuert von einem slowenischen Zweitligisten losgeeist hat, weiß wahrscheinlich nicht mal Didi Beiersdorfer.“
  1. Der Spieler sagt: „Dass ich das Tor gemacht habe, ist völlig zweitrangig. Wir haben alle gemeinsam gewonnen.“
    Was er damit sagen will: „Hoffentlich hat Kloppo die Übertragung gesehen.“
  1. Der Trainer sagt: „Zum Schiedsrichter äußere ich mich nicht.“
    Was er damit sagen will: „Ich weiß, wo seine Karre steht. Und wie gut sie brennt.“
  1. Der Spieler sagt: „Nach dem null zwo war bei uns die Luft raus.“
    Was er damit sagen will: „Ich kriege pro Woche 100.000 Tacken, und mein Vertrag läuft noch drei Jahre. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“
  1. Der Trainer sagt: „Gegen so einen Gegner musst du über den Kampf ins Spiel finden.“
    Was er  damit sagen will: „Meine von einem Speditionsmilliardär zusammengestückelte Gurkentruppe hat die Technik eines Spülkastens – und leider auch Calli Calmunds Laufbereitschaft.“
  1. Der Spieler sagt: „Wir sind hier nicht beim Hallenhalma.“
    Was er  damit sagen will: „Wegen dem bisschen Schultereckgelenkssprengung soll die Pussy sich mal nicht so anstellen. Er lebt doch noch, oder? Also.“

Soweit ein erster (natürlich untauglicher) Versuch, den gleichgeschalteten Verbaldefensivkünstlern die Masken von der Diplomatenfresse zu reißen. Was ziemlich schwer ist, denn gegen tiefstehende Gegner ist es nie leicht. 

Aber wenn wir kompakt stehen und ihre Räume eng machen, dann Gnade ihnen Kahn!



                                                                                

15 August 2017

The walking dead

John Lennon hielt einst die Beatles für größer als Jesus. Allerdings hatte er einen übersehen: den größten Star aller Zeiten. Vor 40 Jahren starb Elvis Presley. Doch er könnte kaum präsenter sein.


Da steht er, im weißen Glitzer der späten Jahre. Der Kragen ist riesig, scheint zu wachsen und bald zu einem großen wehenden Weiß zu werden, das ihn umfließen wird wie Supermans Cape oder wie die Flügel für die Himmelfahrt. Eine Elvis-Fantasie. 

Viele begegnen ihm auch real. Immer wieder Sichtungen – in einem McDonald’s in Oklahoma, einer Bar in Tel Aviv (die er selbst betreibt), auf einem Kneipenklo in Nürnberg, als Tramper am Berliner Ring. 

Jeden Tag sieht ihn irgendwer irgendwo. Er sieht gut aus für einen, der seit 40 Jahren tot ist, und meist hat er einen Sinnspruch parat und ein trauriges Lächeln, ehe er verschwindet wie ein Windhauch.

Elvis Presley, ein Lastwagenfahrer aus East Tupelo in Mississippi, ist der einzige globale Geist, den Amerika je hervorgebracht hat. 

Er ist immer noch derart übergroß, dass man glauben könnte, er habe nie existiert, sondern sei eine Kunstfigur, ein früher Avatar. Es ist, als habe sich die Verehrung der Massen, die Analyselust der Kulturwissenschaftler und die Bedeutung, die Elvis gewann für jeden Aspekt des kulturellen Amerika und der Popkultur schlechthin, als habe sich all das zu einer großen festen Masse verdichtet, die ihn einerseits hinaufhob wie ein Gebirge, das sich auftürmt durch die Gewalt der kollidierenden Erdplatten, und ihn andererseits auf dem Gipfel einschloss in einen Kokon, der am Ende immer mehr einer Gummizelle ähnelte.

Presleys Bedeutung liegt nicht nur an seinem Erfolg, essenziell ist auch sein Untergang. Elvis’ Leben und Sterben – es steht für Größe und Tragik, für die seither zum Klischee geronnene Erkenntnis, dass es verdammt einsam ist dort oben, es steht fürs Umschwirrtsein von geldgeilem Geschmeiß, für vollkommenes Verlorensein inmitten grenzenloser Umsorgtheit.

Die ganze Dimension des Pop steckt in diesem Leben und Sterben, und es war von geradezu lächerlicher Logik, als Michael Jackson, entrückter Herrscher von Neverland, Lisa Marie Presley heiratete, die Tochter des Kings von Graceland. Ein Fest für Freudianer.

Elvis Aaron Presley, dieser Fernfahrer aus East Tupelo, war bei den Sun Studios vorbeigefahren, um schnell eine private Single für seine Mutter zu besingen. Und danach musste er den Himmel durchschreiten und die Hölle hintendrein, und wer kann schon sagen, ob das eine schwerer war als das andere.

Jedenfalls musste er da durch, ganz allein und als Erster überhaupt – für uns alle, für das ganze 20. Jahrhundert. Seine Mission ging tödlich aus und verschaffte ihm und uns doch etwas schrecklich Kostbares: die säkulare Version des ewigen Lebens.

Gestern hat ihn wieder jemand gesehen, in einem Schuhladen in Hull. Es war mittags, Elvis fragte nach blauen Wildlederschuhen. Dann lächelte er ein trauriges Lächeln und verschwand wie ein Windhauch.


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