20 Juni 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (118)






Während im Rest der Welt der Hype um die fotoverfremdende Prisma-App längst wieder abgeflaut ist, nutze ich sie weiter täglich – immer in der Mittagspause, die ich auf einer Bank an der Außenalster verbringe, im Angesicht von Wolken, Himmel, Seglern, Dampfschiffen und Picknickern.

Quod erat demonstrandum.




19 Juni 2017

Willkommen in der Hölle


Wäre ich gerade auf Twitter unterwegs statt hier im Blog, würde ich sagen: Ich brauche Followerpower. 

Vielleicht weiß ja jemand von Ihnen Bescheid. Es geht um ein neues Objekt auf dem Dach gegenüber, also auf einem Haus an der Reeperbahn, das von uns aus – der Rückseite der Reeperbahn – seit Kurzem zu sehen ist.

Die beiden großen Antennen dort drüben gibt es schon eine Weile, doch das Teil, das am Ende des Auslegers rechts promeniert (auf dem folgenden Bild zweimal vergrößert zu sehen), scheint mir neu. 


Was ist das bloß – eine Kamera? (Und wenn ja: Was nimmt sie auf? Und darf sie das überhaupt? Immerhin wurde die Kameraüberwachung auf dem Kiez vor einigen Jahren wg. nachgewiesener Illegalität wieder aufgehoben.) 

Oder ist es ein Strahler? (Und wenn ja: Was strahlt er an? Und warum haben wir dann das Objekt bisher noch nie beim Emittieren von Licht ertappt?)

Oder handelt es sich eventuell um ein unverzichtbares Accessoire des Antennenduos, ohne das unser LTE nicht mehr funktionieren würde?

Und warum hat es sich auf der Unterseite verfärbt, obwohl ich es innerhalb von wenigen Sekunden zweimal aus identischer Position fotografiert habe?

Fragen über Fragen, welche ich die Observierer, Ingenieure, Telekommunikationstechniker und Verschwörungstheoretiker unter Ihnen zu beantworten bitte. Eine plausible Erklärung trüge zur Beruhigung der Lage hier auf der Rückseite der Reeperbahn nicht unwesentlich bei, denn man wird ja schon ein bisschen paranoid, je näher der G20-Gipfel rückt.

Gestern etwa sah ich im SPIEGEL die Route der vielversprechend betitelten Auftaktdemo „Welcome to Hell“, die bereits für den 6. Juli, also den Tag vorm Start des Gipfels, anberaumt ist. Sie führt Richtung Westen über die Reeperbahn, biegt in die Detlev-Bremer-Straße ein und nimmt dann den Weg zurück nach Osten über die Simon-von-Utrecht-Straße.

Man könnte auch sagen: Die „Welcome to Hell“-Demo hat uns im Schwitzkasten. Hier in der Seilerstraße sind wir im Zentrum der Hölle. 

Ja, es sind wirklich nur noch gut zwei Wochen, dann kommt Donald Trump nach Hamburg. Mit erhobener Faust muss ich ihm deshalb hiermit den Sparks-Song „This town ain’t big enough for both of us“ entgegenschmettern. Und um aus dieser Erkenntnis auch eine vollinhaltlich korrekte Handlungsoption abzuleiten … – verlassen wir am G20-Wochenende die Stadt. Und fliehen nach Wolfsburg.

Wer das jetzt hasenfüßig findet, sollte eins bedenken: Trump hat etwas, was wir genau so wenig haben wie die Sparks: Atombomben.

Theorien über das Objekt da drüben bitte in den Kommentaren.


12 Juni 2017

Autos sind wie Menschen – und umgekehrt


Wie geneigte Follower dieses Blogs vielleicht noch wissen, verewigte ich hier Anfang des Jahres einen goldenen Mercedes-Benz-Oldtimer, der in der Seilerstraße parkend renommierte. 

Heute indes wurde die güldne Erinnerung daran von einem historischen VW-Käfer geradezu pulverisiert. Das Pendant zum prunkvollen Benz mühte sich redlich um eine Spitzenplatz am anderen Ende der ästhetischen Skala. Denn das, was ihn im Wesentlichen noch zusammenhielt, waren Sticker und Rost. 

Rollte mir demnächst auch noch ein flunderhafter Ludenlamborghini vor die Linse, wären die Extrempunkte des Kiezkarrenspektrums weitgehend komplett. Und irgendwie bilden sie auch eine verblüffend treffsichere Allegorie für die Menschen, die hier wohnen. 

Sie dürfen jetzt entscheiden, mit welchem Modell der Blogbetreiber am ehesten zu vergleichen wäre. Um eine wissenschaftlich fundierte Entscheidung zu treffen, müssen Sie zuvor natürlich erstmal alle Einträge lesen. 

Alle 2736.


07 Juni 2017

Pareidolie (119–122)



Das Baumgesicht links oben erinnert mich an ein wenig an den späten (also aktuellen) Helmut Kohl, während der Espressosmiley darunter mir (mal wieder) entgegenlächelt wie mein eigener Avatar.

Die beiden Pareidolien oben entstanden in Görlitz, die unteren zu Hause auf St. Pauli. Sie sind eben überall – und wer weiß das besser als die Pareidolie-Tante.


05 Juni 2017

Der Hosenflop

Pfingstflohmarkt auf dem Spielbudenplatz (Archivfoto). An einem Stand eine interessante Chinohose in Beige und meiner Größe. 

Wie viel soll sie kosten? Der Händler sagt fünf, ich sage drei, er sagt ja. Ich nehme die Hose, gehe über die Reeperbahn nach Hause, probiere sie an. 

Der Spiegel sagt: zu weit, zu groß und unten zu viel Schlag. Also wieder eingerollt das Teil, rüber zur Budapester Straße und hinein mit ihm in den Altkleidercontainer.

Das hätte sich diese Chinohose heute früh, als sie auf dem Flohmarkttisch drapiert wurde, wahrscheinlich nicht träumen lassen: dass da jemand kommt, sie für drei Euro auslöst und sofort entsorgt.

Der Jemand aber auch nicht.



03 Juni 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (117)


Manch ein Segler auf der Außenalster achtet nicht nur aufs akkurate Navigieren, sondern auch darauf, dass sein Tuch farblich mit Teilen der Uferbotanik harmoniert. 

Lobenswert.


30 Mai 2017

Nur die richtige fehlt


Wahrscheinlich lief das Ganze so in diesem Restaurant in Zgorgelez am Ufer der Neiße: 

Der halbwegs deutschkundige Cousin des Geschäftsführers fragte beim Übersetzen der zweisprachigen Speisekarte rum, wie diese Eierspeise aus Ei, Milch und Mehl eigentlich auf Deutsch hieße und geschrieben würde, und keiner wusste so richtig Bescheid, weshalb er einfach diverse Schreibweisen öffentlich durchdeklinierte. 

Nur die richtige war leider nicht dabei.


29 Mai 2017

Einmal Görlitz – und gerne wieder


Bereits direkt nach dem Untergang der DDR, die stadtplanerisch 40 Jahre lang der Maßgabe „Ruinen schaffen ohne Waffen“ gefolgt war, hielt mancher Görlitz für die schönste Stadt Deutschlands, trotz der überall bröckelnden Fassaden. 

Eine Einschätzung, die heutzutage noch weit mehr Berechtigung hat. Immerhin stehen hier 950 Jahre europäischer Baugeschichte restauriert herum. Insgesamt 4000 denkmalgeschützte Gebäude bilden ein Ensemble, welches nicht nur internationalen Filmproduktionen eine perfekte historische Kulisse liefert (die Einwohner nennen ihre Stadt nach hier gedrehten Kinoknallern wie „Inglorious Basterds“ schon „Görliwood“), sondern auch Besucher schnell bezirzt. 

Unsere typisch westdeutsche Befürchtung, dieser Zauber könnte durch vielfältige Anzeichen rechtsextremen Wirkens schnell verfliegen, bewahrheitete sich nicht. Wenn in Görlitz wirklich einmal ein Graffito auffällig wird, dann erfreulicherweise ein antifaschistisches. Und das ist ordentlich auf Stromkästen gesprüht statt auf mühsam hergerichte Renaissancefassaden.

Erstaunlich auch, wie wenig hier hörbar herumgesächselt wird. Wir hatten uns vor der Reise noch gegenseitig ermahnt, bei „Gänsefleisch mohl …“-Sätzen keinesfalls loszuprusten, doch es ergab sich keinerlei Gelegenheit, die eigenen Selbstbezähmungskräfte unter Beweis zu stellen. Vielleicht liegt es daran, dass man hier schlesische Wurzeln hat und nach böhmischen und preußischen Intermezzi erst in jüngerer Zeit dem Land Sachsen anheimfiel.

Mithilfe der den Grenzfluss Neiße überspannenden Altstadtbrücke flaniert man in Nullkommanix rüber nach Polen, wo die Stadt unversehens Zgorgelez (sprich: Sgorscheletz) heißt und am Ufer (Foto) mit gastronomischen Verlockungen aller Art zu punkten weiß. Die Preise für Schnitzel, Pizza, Pirogi und Bier sind nur halb so hoch wie auf der deutschen Seite – was allerdings auch schon den größten Zgorgelezer Reiz ausmacht. 

Der Rest der Stadt ist nämlich recht trist geraten. Statt 950 Jahre Architekturgeschichte repräsentiert der polnische Teil der Stadt allenfalls die letzten 50 davon. So zumindest unser oberflächlicher Eindruck.

Zurück im herzallerliebsten Görlitz machte uns der von zahllosen Maklerbüros repräsentierte Immobilienmarkt immer wieder fassungslos. Denn so aufwendig die prachtvollen Villen der Innen- und Altstadt auch renov- und restauriert sind: Ihre Kauf- und Mietpreise spotten aus Hamburger Sicht jeder Beschreibung.

Da kriegst du 130 modernisierte Altbauquadratmeter mit Parkett und allem drum und dran für 600 Euro warm, und wenn man sich erbarmte und als Zuziehender mindestens 18 Monate in der östlichsten deutschen Stadt wohnen bliebe, schenkte sie einem vor lauter Rührung drei Kaltmieten, einen Monat Strom und allerlei mehr. 

Wer gar erwöge, sich durch den Kauf einer Altbauwohnung noch fester an Görlitz zu binden, wäre mit durchschnittlich rund 500 Euro pro Quadratmeter dabei. Das treibt Besuchern aus St. Pauli, wo man unter 3000 Tacken/qm nicht mal mehr eine Souterrainbutze erwerben kann, natürlich Tränen in die Augen.

Und selbst die Tatsache, dass sie hier in Görlitz samstags bereits um vier die Bürgersteige hochklappen und die drei Straßenbahnlinien (Görlitz hat eine STRASSENBAHN!!!) sich im gemütlichen 20-Minuten-Takt zwischen den gotischen, barocken, Renaissance- und Gründerzeitsteinen hindurchschlängeln, verbuchen wir keinesfalls als Standortnachteil, sondern als Entschleunigungsangebot. 

Napoleon war übrigens insgesamt sechsmal in Görlitz. Das müsste zu toppen sein.


 

17 Mai 2017

Meine Hilfe ist unerwünscht

Immer wenn ich eine Nachricht von Kalle Schwensen im Posteingang habe, durchzuckt es mich bang. Denn es droht die Gefahr einer Begegnung mit ihm, und die hat gewöhnlich Folgen für meine körperliche Integrität, gerade dann, wenn Kalle Schwensen einem grundsätzlich freundlich gesinnt ist. 

Diesmal lud er mich ein, und zwar zu seinem „Hardcore-Fight-Event“ am 10. Juni. Wobei Kalle Schwensen unter „Einladung“, wie sich rasch herausstellte, etwas anderes versteht als der gemeine Durchschnittsbürger. Der gemeine Durchschnittsbürger nämlich hebt bei diesem Begriff erfreut die Braue, erwartet Freigetränke, ein von kurzberockten Promomodels dargereichtes Flying Buffet und generell einen Abend, an dem man auf die Mitführung von Bargeld getrost verzichten kann.

Nicht so bei Kalle Schwensen. Seine „Einladung“ bestand darin, dass ich für 600 Tacken seinem Freistilboxereignis hätte beiwohnen dürfen. Ich lehnte mit dem Argument ab, dazu sei ich zu zart besaitet. Außerdem habe ich gerade genug von Leuten, die K.O. gegangen sind. So wie neulich auf dem Tschaikowsky-Platz.

Ich war gerade dort eingebogen, als ich zwei Räder herumliegen sah, daneben zwei Menschen. Der eine war weiblich und saß verstört auf dem Boden, der andere, ein behelmter, etwas teigig wirkender Mann, lag einige Meter entfernt augenscheinlich bewusstlos auf Bauch und Gesicht und gab jämmerliche Stöhnlaute von sich.

Mehrere Personen stürzten herbei, ich zückte mein Telefon, wählte die 112 und meldete einen Fahrradunfall mit Verletzten. Man käme sofort, hieß es. Inzwischen war die Frau hinübergerobbt zu ihrem Kontrahenten, der wieder erwacht war und sich in eine sitzende Position gehievt hatte. Seine Beine lagen flach auf dem Pflaster des Tschaikowsky-Platzes, die Füße kippten nach außen.

„Der Notarzt ist gleich da“, sagte ich zu den Opfern, um ihnen in all ihrem Leid eine hoffnungsvolle Perspektive zu bieten. Die Frau schaute hoch. Am Kinn hatte sie eine Schürfwunde so groß wie ein Ein-Euro-Stück. „Nicht nötig“, sagte sie, „ich bin Ärztin.“

Das konsternierte mich. Wie konnte sie, auch wenn sie Ärztin war, wissen, was dem Mann fehlte – hätte er nicht über ein Schädel-Hirn-Trauma, einen Lungenriss, gebrochene Rippen oder derlei verfügen können? Und wer weiß, was sie selbst außer der Wunde am Kinn noch alles abgekriegt hatte. So was merkt man unterm Einfluss der unfallbedingten Adrenalinflut ja oft erst später.

„Aber der Notarzt sollte sich das schon einmal anschauen“, beharrte ich auf das übliche Procedere. Der Mann schüttelte kraftlos den Kopf, während er ins Leere starrte. „Nein, schon gut“, hauchte er. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, sagte die Ärztin mit nunmehr verärgertem Unterton und – zu dem Mann gewandt –: „Das ist bestimmt nur der Schreck, nicht wahr?“

Er nickte. „Vor allem für meine neue Hüfte.“

Anscheinend verstand diese Jüngerin Aeskulaps unter ärztlicher Sorgfaltspflicht etwas entschieden anderes als der gemeine Durchschnittsbürger, den ich dort, auf dem Tschaikowsky-Platz, bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit zu repräsentieren die Ehre hatte.

Aber was sollte ich machen? Mir blieb nur die Hoffnung, dass der Notarzt einträfe, ehe die Ärztin ihren hüftoperierten Schicksalsgenossen vom Ort des Geschehens weggeschafft hatte. Denn wahrscheinlich – so die Vermutung von Ms. Columbo, als ich ihr die Geschichte erzählte – trug sie die alleinige Schuld am Unfallgeschehen und wollte sich keiner Investigation stellen.

Aber wahrscheinlich werden wir das niemals erfahren, denn ich überließ die beiden ihrem Schicksal. Auch mein Fass hat Grenzen.

Foto: kalle-schwensen.de


13 Mai 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (115)



Außenalsterimpressionen, gesehen durch die Prisma-Brille.

Nachschub gibt es (fast) täglich auf meinem Twitter-Account unter dem Hashtag #mittagspause, denn genau dann entstehen diese Bilder.


12 Mai 2017

Der Mondpreiseffekt des ESC

Der deutsche Schauplatz des Eurovision Song Contest ist ja, wie Sie auch als Nichthamburger sicherlich wissen, der Spielbudenplatz hier auf St. Pauli, direkt an der Reeperbahn. Uns trennt genau eine Häuserzeile vom Ort des Geschehens, und bei geöffneter Balkontür bekämen wir – wie schon mehrfach mitgeteilt – auch ohne Fernsehton alles mit. 

Diese Veranstaltung erreicht zwar zugegebenermaßen nicht ganz die Vergrätzungskraft der Harley Days oder gar des Schlagermove, doch sie löst hier im Viertel reflexhaft einen ähnlichen Impuls aus – nämlich den fraglichen Abend (also diesen Samstag) lieber ganz woanders zu verbringen, zum Beispiel auf einer Almhütte oder der internationalen Raumstation.

Angesichts solcher instinktiv richtigen Fluchtreflexe umso unfasslicher ist allerdings die Tatsache, dass es anscheinend Menschen gibt, die den Kiez nicht nur nicht weiträumig meiden, sondern an diesem Wochenende wegen des ESC sogar gezielt anreisen. Die extra hierher kommen, nach St. Pauli, nur wegen des Eurovison Song Contest. 

Und das scheinen sogar erfahrungsgemäß nicht wenige zu sein – wie sonst wäre die auf dem Foto dokumentierte Mondbepreisung des Ibis-Hotels bei uns um die Ecke zu erklären? Dort rechnet die Geschäftsführung mit einem deutlich erhöhtem Gästeaufkommen – und lässt deshalb den Doppelzimmerpreis an diesem Wochenende auf sagenhafte 209 Euro explodieren. 

Zweihundertneun Euro! Dabei hat diese Absteige Etagenbetten! Sie ist mehr Jugendherberge als Vier Jahreszeiten! Und wenn schon nicht die Veranstaltung als solche, so sollte doch derlei leicht durchschaubare Melk- und Ausquetschabsicht auch den gutmütigsten Eurodancetolerierer sofort von einer Anreise Abstand nehmen lassen.

Andererseits … Möchten Sie stattdessen vielleicht lieber bei uns übernachten? Ab 666 Euro würden wir mit uns reden lassen. 

(Wobei ich Ms. Columbo über diese Offerte noch gar nicht informiert habe; da bleibt also ein Restrisiko.)



10 Mai 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (114)


… quoth the raven: „Nevermore!“

Entdeckt im Alsterpark, und jetzt ist aber auch mal Zeit für Frühling.



06 Mai 2017

Die Unerträglichkeit meines Raschelns

Nach Fitnesskurs und Saunagang legte ich mich auf eine Liege und las die FAZ. Gerade war ich beim Feuilletonteil angelangt und wollte mich einem Text über Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ widmen, als sich jemand vor mich stellte und auf mich einzureden begann.

Zunächst zweifelte ich kurz daran, überhaupt gemeint zu sein, was mich den Anfang seiner Suada verpassen ließ. Weder kannte ich diesen Menschen, noch vermochte ich ihm – da gedanklich gerade der Welt Heimito von Doderers verhaftet – zu folgen. 

Doch er schaute mich beim Reden stier an, und sein Blick war alles andere als freundlich. Im Gegenteil: Mühsam gebändigter Ärger schimmerte ihm aus buschig überwölbten Augen, und sein fratzenartiges Eislächeln war blutrünstig.

Der Mann war, wie ich jetzt wahrnahm, ein über und über tätowierter Muskeldeutscher, rothaarig, mit Vollbart und Brilli im Ohr. Sozusagen die Hipstervariante von Arnold Schwarzenegger. Und nach und nach kristallisierte sich für mich auch so etwas wie Semantik aus seinem feurigen Bramabarsieren.

Es ging ihm nämlich um die Art, wie ich Zeitung las. Ich hatte, wie er mir in hastigen Wortkaskaden vorhielt, beim Umblättern geraschelt, und zwar unentwegt. 

Das konnte zwar so nicht ganz stimmen, denn immerhin hatte ich mich manchem FAZ-Text – zum Beispiel jenem Kommentar, der sich kritisch mit Erdogans Todesstrafenreferendumswunsch auseinandersetzte – durchaus längere Zeit gewidmet, in dieser Phase also durchaus wenig geraschelt. Aber sonst schon; schließlich war ich bereits im Feuilleton angelangt. Allerdings erschloss sich mir nicht sofort, warum mein raschelndes Blättern ein Problem sein sollte.

Er erklärte es mir in hochgradiger Aufregung. Mein Rascheln sei „unerträglich“, hielt der Muskelhipster mir vor, schließlich sei das hier ein „Ruheraum“, und wie ich es denn wohl meinerseits fände, wenn er plötzlich anfinge, Karaoke zu singen.

Die Situation schien mir recht absurd, die Diskrepanz zwischen seiner optischen Erscheinung und der Feinfühligkeit hinsichtlich des Umgebungsschalls fast komisch. Das wollte ich dem vor Ärger fast platzenden Bi- und Trizepswunder aber aus deeskalierenden Erwägungen so nicht unbedingt erläutern. Stattdessen machte ich ihn auf den Lautstärkeunterschied zwischen Rascheln und Karaokesingen aufmerksam, der doch recht beträchtlich sei.

Eine beschwichtigende Wirkung hatte dieser Einwand kaum, zumal er nicht mal richtig hinhörte. Er wolle mir „das nur mal sagen“, erregte er sich; gemeint sei das „nur mal so als Hinweis“ auf meine Rücksichts- und Gedankenlosigkeit. 

Dann warf er sich adrenalingetränkt auf seine Liege und ich hatte plötzlich keine Lust mehr auf Heimito von Doderer. Dafür umso mehr auf Sibylle Berg, die mich, was mir dank der heutigen Begegnung wieder einfiel, in ihrem Newsletter mal zärtlich „Raschelhufer“ genannt hatte. 

So nahm alles wieder mal ein versöhnliches Ende.


01 Mai 2017

27 April 2017

Stärker als Odysseus!


„Sie beteiligen sich also dieses Jahr am Darwin-Award. Wie genau?“

„Ich stapfe durch den Wald und sammle wahllos Pilze. Irgendein Knollenblätterdings wird schon dabei sein.“

„Und welche Chancen rechnen Sie sich mit dieser Taktik aus?“

„Ach, es wird nicht für die Top 100 reichen.“

„Warum so pessimistisch?“

„Zu viele Smartphonezombies am Start.“

*

Der einleitende Dialog ist natürlich frei erfunden, nicht aber unser jüngstes Ikea-Erlebnis. Wir waren dort, um einige Balkonmöbel zu kaufen, und deshalb lenkte ich einen dieser exorbitant aufnahmefähigen, weil seitenwandlosen Ikea-Schiebewagen durch die Gänge. 

Wie wir alle wissen, geht man zu Ikea gewöhnlich mit einer sehr konkreten Einkaufsliste und verlässt den Laden dann mit der Basisausstattung eines Achtpersonenhaushalts. Plus Speditionsvertrag. 

Wir allerdings erlebten etwas sehr, sehr Sonderbares, ja geradezu Verstörendes: Wir fanden keinerlei genehme Balkonmöbel und auch sonst nix. Sondern lediglich eine kleine Uhr fürs Klo. Kostenpunkt: 0,99 Euro. 

Mit ihr als Bestückung des megalomanischen Ikea-Einkaufswagens rollte ich peinlich berührt gen Kasse. Dort zeigte man sich ungerührt. Nur eine Kartenzahlung war nicht möglich. Aber ich muss zugeben, ich hab’s auch nicht versucht.

Seit diesem Erlebnis fühle ich mich mental viel stärker. Ich habe seither das Gefühl, keinerlei Versuchungen mehr anheimfallen zu können. Wäre ich Odysseus, man bräuchte mich selbst in Hörweite der Sirenen nicht mehr an den Mast zu binden, ich schwör.

Allerdings dürfen Sie mir bitte so was hier nicht vor der Nase baumeln lassen. Dann kann selbst der weltweit glorioseste Ikea-Widersteher von ganz St. Pauli für nichts mehr garantieren.



15 April 2017

Vom Segen der Taubheit (mit Pareidolie 118)

Wien hat die in Deutschland alljährlich so heftig diskutierte Karfreitagsproblematik salomonisch geregelt. 

Da dieser Feiertag ein evangelischer ist, darf jeder Protestant seinem Chef – also dem weltlichen – straflos mitteilen, er bevorzuge einen Gottesdienstbesuch gegenüber der Bürofron, und ohne Diskussion darf er den lieben langen Karfreitag daheim bleiben. Wer aber nichts dergleichen vorbringt, muss halt arbeiten. Die Katholen und alle anderen Nichtevangelen sowieso.

Aus diesem Grund wirkt Wien am Karfreitag unbeeinträchtigt. Die Geschäfte haben geöffnet, die Stadt wimmelt vor Menschen, darunter auch jene, die sich mit der Zusage eines Gottesdienstbesuches einen freien Tag erschummelt haben. Statt erzwungener Bleischwere herrscht der übliche Großstadttrubel. Für uns ein „Segen“, da wir nur drei Tage hier weilen und schon gern ein bisschen was haben möchten von der Stadt.

Der Auftritt unserer Freundin, der Kabarettistin Angelika Niedetzky, findet ebenfalls am Karfreitag statt. In Deutschland würde derlei an diesem speziellen Tag gesetzlich unterbunden, denn die Frau erdreistet sich und macht WITZE! Sie singt und TANZT! Sie ALBERT HERUM!

Damit macht sie uns trübe Tassen wieder munter, denn die Nacht davor war geprägt vom Höllenlärm des Neubaugürtels, einer vielspurigen Rennstrecke, die tagein, nachtaus in nur drei Metern Abstand unser A&O-Hotel zum Beben bringt. Dort waren wir aus Gründen der Preisökonomie abgestiegen, mussten aber erkennen, dass Geiz nicht immer geil ist, sondern manchmal einfach nur hammerhart bestraft wird.

Selbst ein Umzug nach schlafarmer erster Nacht in eine Endetagenbutze, deren Dachluken das Neubaugürtelinferno nicht mehr direkt, sondern nur noch über Eck schallzuabsorbieren hatten, half kein bisschen, weil eine der beiden Luken nicht hermetisch schloss.

Sollten Sie also weder über juvenile Generaltoleranz gegenüber jedweder Umgebungsunbill noch über segensreiche Stocktaubheit verfügen, dann legen wir Ihnen als Übernachtungsalternative das A&O-Schwesterhotel am Hauptbahnhof ans Trommelfell. Die Preise sind identisch, doch dort gibt es sogar die Chance, das zur Verfügung gestellte Bett auch funktionsgerecht nutzen zu können.

Auch in Wien stieß ich beim Flanieren natürlich auf eine Pareidolie, wie es mir wohl überall auf der Welt gelänge, vielleicht abgesehen von der Wüste Gobi. Und schon hatte ich eine Bebilderung für diesen Text.

Wie sich immer wieder alles fügt, es ist erstaunlich.



12 April 2017

05 April 2017

Free Deniz – aber schreibt ihm auch!

Am Palmenplatz – oder wie es im Tourismusbehördensprech heißt: Park Fiction – fand heute am frühen Abend eine Kundgebung aus Solidarität mit dem in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel statt. 

Es war arschkalt da oben über der Elbe, was aber letztlich gut passte zum Objekt unserer Solidarität, welches die Rednerin Silke Burmester nämlich für „arschcool“ hält. 

Ihre Einschätzung stützte sich dabei vor allem auf das bereits ikonografische Yücel-Porträt, das ihn zeigt mit wildem Haar, Rebellenschnauzer und Fluppe im Mundwinkel. Der Che Guevara des 21. Jahrhunderts! Und das hat der eher Koran- als Popkultur-affine Erdogan wahrscheinlich nicht bedacht, als er Yücel wegen eines Witzes und einer ungenehmen Interviewfrage in den Knast werfen ließ.

Auch Yücels Schwester Ilkay war erschienen. Erst vorgestern hat sie ihn im Gefängnis in Istanbul besucht und konnte berichten, dass er momentan a) wieder schreiben und b) wieder rauchen dürfe. Seine Texte allerdings dürften das Gefängnis nicht verlassen, und lesen dürfe sie auch keiner.

Die Resonanz der St. Paulianer und Hamburger Bevölkerung auf die „Free Deniz“-Kundgebung war übrigens betrüblich. Vor allem, wenn man das mal in Relation setzt – zum Beispiel zur Zuschauerzahl des HSV-Spiels gegen den 1. FC Köln am vergangenen Wochenende, wohin es 57.000 Menschen zog, die dafür sogar noch Eintritt bezahlten. (Ich gehörte dazu.)

Die Yücel-Solidaritätskundgebung auf dem Palmenplatz hingegen war umsonst und lockte dennoch nur eine dreistellige Zahl Interessierter aus der Komfortzone. Darunter übrigens keine Vertreter der großen Hamburger Medien, wie Silke Burmester mit deutlich vernehmbarer Bitterkeit in der Stimme anmerkte. 

Dabei geht es um einen Kollegen, es geht um die Pressefreiheit, es geht darum, den üblichen Erstanwendungen von Diktatorenanwärtern früh entgegenzutreten: der Schwächung von Justiz und Presse. 

Hoffentlich war wenigstens die Welt da, für die Deniz Yücel ja als Korrespondent in Istanbul arbeitete, als er ins Visier der Staatsmacht geriet. Morgen wissen wir (hoffentlich) mehr. 

Die taz, auch ein ehemaliger Arbeitgeber des Inhaftierten, hatte Postkarten drucken lassen, darauf praktischerweise die Knastadresse von Deniz Yücel. Wie es hieß, freue sich Yücel über jedes Schreiben – und sei es nur deswegen, weil es die Poststapel, die ihm nicht ausgehändigt werden, anwachsen ließe und dies wiederum vielleicht den einen oder anderen Schergen ins Grübeln brächte.

Die Adresse lautet folgendermaßen:


Bitte schreiben, bis der Kuli streikt. 
Dem Diktator sollen die Augen flimmern.