30 März 2017

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (111)




Gut, die Hasenschaukel in der Silbersackstraße, wo inzwischen die Bar Mad Hatter eingezogen ist, war NOCH gemütlicher. 

Aber ein Schild mit einer derartig objektiven, unanfechtbaren Wahrheit hing damals nicht an der Wand. Und ein Laphroaig in Fassstärke war ebenfalls nicht auf der Karte. Und der Chef hieß nicht Pawel. 

Alles selbst getestet, heute Abend.

23 März 2017

Ohne Worte

Eine Mail von DHL: Mein Paket sei bei einem Nachbarn abgegeben worden, und zwar in Chikos Kiosk, Seilerstr. 45. Unter Nachbar verstehe ich normalerweise jemand im gleichen Haus oder wenigstens in dem daneben, DHL scheint das allerdings ein wenig laxer zu sehen. Aber hundert Meter sind ja mühelos zu bewältigen. Auch vorm Rückweg ist mir nicht bange, denn ich erwarte keine Zwölferkiste Sauvignon Blanc, sondern nur eine Probebrille.

Also auf zu Chikos Kiosk, der mir bislang unbekannt war. Kein Wunder: Die kleinen Läden auf St. Pauli kommen und gehen, man sollte sich besser an keinen von ihnen gewöhnen, das lohnt sich nicht. 

Neben dem An- und Verkaufsladen für gebrauchte Weiße Ware geht es ein zwei, drei Treppen runter ins Souterrain. Ich betrete den winzigen Laden, in dem sich kein Kunde aufhält, aber alter Rauch ruhig weiter vor sich hin erkaltet. Mein Handy zeigt die Mail von DHL. Damit möchte ich bei Bedarf meine Legitimation nachweisen können. 

Ein sehr unrasierter, mit lichtem Haar geschlagener Mann hinter der dominanten gläsernen Vitrine sieht mich, und noch ehe ich den Sachverhalt vortragen kann, ruft er „Chiko!“, statt zu grüßen.

Was an meinem Auftreten verriet nur diesem gewitzten, jedoch nur rudimentär mit sozialen Skills ausgestatteten Menschenkenner, dass nicht er, sondern ausschließlich Chiko mir mit meinem Anliegen, was immer es auch sei, weiterhelfen können wird? Theoretisch hätte ja auch eine Tasse Filterkaffee das Ziel meiner Souterrainträume sein können.

Nach dem Ruf nach dem Chef widmet er sich jedenfalls nicht mehr mir, sondern irgendwelchen Tätigkeiten hinter der Vitrine, während ich warte und mich ein wenig fehl am Platze fühle, so mitten im winzigen Raum, umschwängert von kaltem Rauch. 

Dann aber Auftritt Chiko. Wortlos tritt er ein aus einem Hinterzimmer. Ein nicht großer, nicht kleiner Mann von schwer zu schätzendem Alter, jedenfalls unter 40. Parka, Fünftagebart, die Augen leicht zusammengekniffen, indifferenter Gesichtsausdruck. Und sagt kein einziges Wort. Chiko schaut nur. 

„DHL hat hier ein Päckchen für mich abgegeben“, sage ich und halte ihm das Smartphone hin, „für Wagner.“ Er schaut flüchtig aufs Display und verschwindet im Hinterzimmer. Wortkargheit scheint hier das Geschäftsmodell zu prägen. 

Wobei: Von Wortkargheit könnte man ja erst reden, wenn überhaupt welche fielen, also Worte. Ihre Anzahl ließe sich dann in mathematische Beziehung setzen zur Gesamtdauer der Kommunikation, und wenn man das Ergebnis vergliche mit einem handelsüblichen Durchschnittsdialog, so ergäbe sich in Relation etwas, was unter Wortkargheit kategorisierbar wäre. 

Schweigen allerdings ist mit solchen Kategorien nicht zu fassen. 
Du kannst nichts durch null teilen.

Chiko kommt zurück, in der Hand das Päckchen für mich, den „Nachbarn“. Er hält es mir hin, ich nehme es ihm ab. „Muss ich noch etwas unterschreiben oder so?“, frage ich unsicher. Schließlich muss man immer was unterschreiben, sonst bekäme DHL ein Problem, sonst könnte ich ja behaupten, ich habe das Päckchen gar nicht erhalten, ich könnte straflos Ersatz fordern, und am Ende hätte ich zwei Probebrillen. Oder zwei Zwölferkartons Sauvignon Blanc.

Chiko schließt für eine Millisekunde die Augen, während er mit der linken Hand eine winzige wegwerfende Geste macht. Dann dreht er sich um und verschwindet wortlos wieder im Hinterzimmer. 

Ich werde wohl niemals erfahren, wie Chikos Stimme klingt. 
Wahrscheinlich weiß das nicht mal DHL.



21 März 2017

Die schlechtesten Cover ALLER Zeiten (3–6)


Diese im August 2016 gestartete Serie kommt inklusive des heutigen auf erst drei Beiträge, und das hat Gründe. Schließlich muss ich mich mit viel Widerwillen durch ein Sammelsurium katastrophalster Coverdesigns kämpfen. Längere Erholungsphasen sind zwischendrin unabdingbar; das führt zu Zwangspausen, manchmal auch stationär.

Zugleich führt diese belastende Tätigkeit zu dem dringenden Bedürfnis, möglichst viele der entsetzlichsten Beispiele ein für alle mal loszuwerden, und das geht am besten, indem man sie en bloc verbloggt.

Wie heute. Thematisch beschäftigt sich das hier zu sehende Quartett der Qualen mit dem in der Popgeschichte nicht sonderlich häufig vertretenen Sujet „Nackter Mann“. Gleich der erste Kandidat oben links – verbrochen im Jahr 1968 von Dr. K’s Blues Band – zeigt, warum es gern noch seltener hätte Verwendung finden dürfen.

Man wünscht sich aus mehrerlei Gründen, dieses Herrn niemals ansichtig geworden zu sein. Die Frisur etwa vermag nur leidlich zu überzeugen, von der Farbgestaltung des Motivs ganz zu schweigen. Und was umschwappt den Moppel da eigentlich – ist das Gülle mit Schaumkronen?

Zumindest Grünstichigkeit konnte man Herbie Mann im Erscheinungsjahr seines Albums „Push Push“, also 1971, nicht vorwerfen. Was ihn allerdings bewog, seine kräuselhaarige Hühnerbrust plus Bauchmuskeltotalabsenz und Kraternabel der Welt mit derart grundlos eitler Pose darzubieten, wird man wohl nie mehr erfahren, denn der Flötist verstarb 2003.

Zum Cover unten links fällt einem praktisch nichts mehr ein. Ist das der Glöckner von Notre Dame auf Speed? Ein Yeti nach der Schur? Neandertal Man? Und was steht da hinten rechts Weißes rum?

Fragen über Fragen – die aber Wolfgang Dauner mit seiner covergewordenen Grässlichkeit in noch größerer Zahl aufwirft. Da steckt also ein schlaffer Glühbirnenhirni mit Halstuch den Arm in eine Schraubenmutter, worauf ihm ein Licht aufgeht. Wir würden ja gern diese Metaphorik ergründen, müssen aber leider wie hypnotisiert aufs weihnachtsbaumartig wuchernde Nabelhaar starren.

Besuchszeiten im Sanatorium sind übrigens sonntags und mittwochs. Ich würde mich über Besuche freuen.


Dr. K’s Blues Band: o. T., 1968
Herbie Mann: Push Push, Atlantic 1971
Diverse: You Better Believe It! White Trash Rockers 1955-'69, Panic Records



07 März 2017

„Fahrscheinkontrolle!“

An Murphys Gesetz (was passieren kann, passiert auch irgendwann, und sei es noch so unwahrscheinlich) denkt man leider nie präventiv, sondern immer erst dann, wenn es mal wieder zur Anwendung kommt. Also dann, wenn es zu spät ist.

Heute Morgen stieg ich um zwei Minuten vor 9 mit einer Karte, die ab 9 Uhr gültig war, an der Haltestelle U-Bahn St. Pauli in den 112er-Bus. 120 Sekunden Risiko – statistisch ist so etwas komplett zu vernachlässigen. 

Bitte streichen Sie „komplett“ aus dem letzten Satz, denn kaum, dass der Bus angefahren war – es war exakt 8:58 Uhr –, erhoben sich drei kräftige Herren in unauffälliger Funktionskleidung und sagten jenes Wort, das man als Besitzer einer ab 9 Uhr gültigen Tageskarte zu diesem Zeitpunkt keinesfalls hören möchte: „Fahrscheinkontrolle!“

Als einer der drei, ein wohlbeleibter Herr mit Brille und recht liberaler Einstellung zur Akkuratesse seiner Rasur, an meinen Sitz trat, aktivierte ich das größte mir mögliche Quantum mimischer Arglosigkeit und hielt ihm mit lässiger Eleganz mein Handydisplay hin.

Er schaute drauf, mich an, stutzte und sagte: „Sie dürfen erst ab 9 Uhr fahren.“
„Oh“, machte ich.

Auf seiner Stirn bildete sich eine Sorgenfalte. Parallel zerknautschte ein Ausdruck vorwurfsvoller Zerknirschung seine Mimik. Auch Bedauern und Mitleid schienen mir in diesem Gesichtsschauspiel mit Nebenrollen betraut zu sein. 

„Das kostet eigentlich 60 Euro“, sagte er und schaute hinter mir den Gang entlang. 
„Hm“, machte ich bang.

Allerdings ließen sowohl das verehrungswürdige, Gnade vor Recht verheißende Adjektiv „eigentlich“ als auch sein schweifender, an mir auf wohltuende Weise desinteressierter Blick Hoffnung keimen. 

Seine beiden Kollegen weiter vorne im Bus hatten bereits zwei Männer in der Mangel, doch ich schien – obzwar vollumfänglich schuldig im Sinne der Beförderungsbestimmungen – den Jagdinstinkt meines Kontrolleurs nicht zu wecken. Inzwischen war es Punkt 9 Uhr, wir hielten an der Handwerkskammer – und dieser Gandhi unter den Hochbahndetektiven ließ mich vom Haken und links liegen.

Habe ich schon erwähnt, dass er ein liebreizender Knuddelbär war? Dass HVV wahrscheinlich gar nicht die Abkürzung für „Hamburger Verkehrsverbund“ ist, sondern für „Herzensgüte Vor Verurteilung“? Dass Murphys Gesetz mir hinfort und immerdar heilig sein wird? Dass gute Rasuren völlig überschätzt werden?