24 Januar 2013

Pareidolie (56)

Unter allen Pareidolielieferanten sind Knollengewächse die Topstars. Zuletzt gelang mir der Nachweis auf recht überzeugende Weise mithilfe einer kreuzgewöhnlichen Kartoffel, heute muss ein griesgrämiger Ingwer herhalten.

Wann schlägt die Steckrübe zurück? Welches Radieschen rafft sich auf? Was unternimmt der Kohlrabi? Es bleibt spannend.

PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.



22 Januar 2013

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (79)


… doch mancher wäre wohl auch mit einer dampfenden Badewanne schon mehr als zufrieden …

Die jahrein, jahraus auf dem Abluftgitter an der Simon-von-Utrecht-Straße lagernden obdachlosen Polen müssen nicht selten den zufälligen Sarkasmus der Werbeplakate ertragen.

Im Winter kommt das naturgemäß öfter vor als im Sommer, weil ihr Elend deutlicher hervortritt und deshalb umso stärker kollidiert mit der dummfröhlichen Verführungsabsicht der Plakate.

Heute war es mal wieder so weit. Ob die Polen sich von einer Wodkaspende über die Unerreichbarkeit des Mittelmeers temporär hinwegtrösten lassen? Ist wahrscheinlich einen Versuch wert.

Hier gibt es alle alle gemütlichen Ecken.


21 Januar 2013

Nase zu und durch

Die Vogelschar, die sich mitten auf der Seilerstraße an irgendeinem Leckerli gütlich tut, muss aufgemischt werden.

Mit dem Fahrrad lässt es sich hervorragend mit Karacho hineinsteuern in dieses Gefiedergewirr, so dass alles lustig auseinanderstiebt, die Tauben und die Möwen.

Beim Durchbrettern wird indes bestürzend deutlich, woran die Vögel sich so interessiert labten: an einer sonntagsmorgens auf den meisten Kiezstraßen handelsüblichen kapitalen Kotzlache. Bremsen oder Ausweichen ist nicht mehr drin, es heißt Nase zu und durch.

Immerhin hat mir das eine sehr gute Begründung dafür verschafft, etwas nicht zu tun, das ich eh nur sehr selten getan habe, aber nur aus Faulheit: das Fahrrad im Haus unterzustellen.

Ich möchte übrigens nie mehr in einer Stadt leben, wo es keine Möwen gibt. Habe ich das schon mal gesagt?


19 Januar 2013

Schnauze oder Notaufnahme

Am Schlump steigen vier so halb- wie lautstarke Muskeltürken zu. Einer von ihnen, ein kleiner Pitbull mit Bartflaum auf der Oberlippe, hält es nicht für nötig, die auf dem Bahnsteig bereits verbotenerweise gerauchte Kippe wenigstens im Waggon auszumachen.

Die Rauchschwaden ziehen provozierend durch den Wagen und werfen unwillkürlich Fragen auf. Der Impuls, den Quarzer auf den von ihm verursachten Missstand hinzuweisen, muss indes wohlüberlegt werden.

Klar, man könnte natürlich hingehen und versuchen, ihm ins Gewissen zu reden – entweder legalistisch („Rauchen ist hier verboten“) oder persönlich betroffen („Das stört“). Sehr sorgfältig abzuwägen wären allerdings mögliche Reaktionen seinerseits.

Vielleicht möchte sich der Oberlippenflaum vor seinen Kumpels ja nicht maßregeln und ergo lieber die Fäuste sprechen lassen. Will ich das riskieren?

Die Alternative wäre defensiver, aber auch sicherer: drei Stationen zähneknirschend die Schnauze halten und sich dies insgeheim als urbane Toleranz schönreden. Das könnte das Wochenende verschönern, weil die Chance erheblich stiege, es zu Hause statt in der Notaufnahme zu verbringen.

Gut, zwar könnte sich die deutlich sichtbare Überwachungskamera an der Decke kalmierend auf mögliche Vergeltungsmaßnahmen auswirken, doch sicher ist das auch nicht unbedingt. Schließlich sieht man solche Bilder immer öfter in der Tagesschau. Und auf taktische Intelligenz zu hoffen, scheint mir beim Anblick dieser Truppe nicht sehr ratsam zu sein.

Die Tatsache, Recht zu haben und dies auch frei heraus zu thematisieren, muss also sehr sorgfältig abgewogen werden gegen die gar nicht geringe Chance auf einen Nasen- und Jochbeinbruch.

Noch während ich all dies so hin und her überlege, erreichen wir die Station Feldstraße, wo das halb- und lautstarke Quartett überraschend die Bahn verlässt. Eigentlich wirkten sie nämlich wie St.-Pauli-Aussteiger.

Als ich nach Hause komme, begrüßt mich Ms. Columbo stirnrunzelnd: „Hast du heimlich geraucht?“

Ich hätte doch was sagen sollen, echt.


16 Januar 2013

Got my Mojo working (again)

Eingangs der Reeperbahn wird am 2. Februar eine Legende wiederauferstehen: unser guter, alter Mojo Club.

Seit zehn Jahren ist er schon zu, doch jetzt hat er an alter Heimstatt eine neue Bleibe gefunden, wenn auch komplett unterirdisch. Oben auf dem Foto nämlich sehen wir keinen überdimensionierten Gullydeckel, sondern einen der beiden künftigen Eingänge des Clubs, der sich über drei subterrane Etagen erstrecken wird.

Heute war ich zu einer exklusiven Vorbegehung der Baustelle eingeladen – und dadurch in der Lage, zwar nicht die Radieschen, doch zumindest einen der Mojo-Deckel auch von unten betrachten zu können.

Eine Erfahrung, die wohl jener glich, die Orson Welles im Filmklassiker „Der dritte Mann“ machen konnte (wenngleich in Wien): Man hörte gedämpft den Verkehr über die Reeperbahn rauschen, während ahnungslose Spielbudenplatzpassanten das Treppenhaus unter ihren Füßen mächtig zum Gongen brachten.

Toll, toll, toll wird auch das Mojo-Klo. Es ist unisex ausgelegt, also für beide Geschlechter gemeinsam zugänglich – und soll während des Betriebs live von DJs beschallt werden. Der Andrang der Bewerber ist angeblich schon jetzt riesig.

Als ersten würde ich übrigens unbedingt DJ Koze buchen, aber das müssen natürlich die Mojo-Booker entscheiden. Nur eine Anregung.

Das Putzpersonal indes wird dieses innovative Toilettenkonzept wohl eher mit säuerlichem Grinsen zur Kenntnis nehmen. Denn wer selbst beim Pieseln abhottet, dürfte im Nassbereich erhöhte Kollateralschäden verursachen. Ich denke da nur an die Fliehkraft.

PS: Ist „Mojo“ im Amerikanischen nicht auch ein Slangwort für Schniedel? Hab ich mal gehört.



14 Januar 2013

St. Pauli goes Dschungelcamp

Normalerweise läuft einem hier auf dem Kiez ja alle naslang Olivia Jones über den Weg. Insofern fehlt gerade was. 

Denn Olivia ist im Dschungelcamp und verwandelt sich dort zusehends in einen gewissen Oliver Knöbel.
 

St. Pauli hätte übrigens noch mehr potentielle Urwaldkandidaten zu bieten. Ich zum Beispiel sähe dort liebend gerne mal Herrn N****-Kalle – und zwar nicht nur, weil das hier auf der Reeperbahn die Gefahr von Mittelhandbrüchen dramatisch senkte.

Aber auch.



10 Januar 2013

Ärmer, aber nicht um eine Erkenntnis

Als wir unlängst über eine Brücke die Speicherstadt verließen, sahen wir einen zylindrigen Pfeiler aus den trüben Fluten aufragen. Er endete ein paar Meter unterhalb der Brücke.

Interessanter noch als seine uns Landratten unbekannte Funktion, auf die auch das aufgepflanzte Nummernschild keine näheren Hinweise geben konnte, erschien uns augenblicklich die beträchtliche Münzsammlung, die es sich auf dem Pfeiler wohlergehen ließ.

Wie kamen die Geldstücke bloß dort hin? Ein Wurf von der Brücke musste doch unweigerlich dazu führen, dass das auftreffende Hartgeld seine überschüssige kinetische Energie sogleich zu einem Satz ins Wasser … ähem … ummünzen würde.

Das wollte ausprobiert werden: Sportlichen Herausforderungen nie abgeneigt, kramte ich sogleich in der Parkatasche nach etwas Rotgeld (so viel Geiz muss sein), fingerte ein Zweicentstück hervor und erbat Ms. Columbos voll(st)e Aufmerksamkeit. Sie stellte sich erwartungsvoll ans Geländer und harrte des Stunts ihres angetrauten Helden.

Ich visierte das Ziel an, schwang sachte den Unterarm, ließ die Münze los – und verfehlte den Pfeiler.

In 80.000 Jahren werden Archäologen sie aus dem seit Ewigkeiten erstarrten Elbgrund buddeln und wichtige Hinweise auf die Lebensweise im 21. Jahrhundert gewinnen. Bis dahin bin ich um zwei Cent ärmer.

Und der Gegenwert dieser Investition war auch eher mau, offen gesagt.


06 Januar 2013

Die Antwort auf die Augstein-Frage

„Weißt du, wer definitiv kein Antisemit ist?“, fragt mich German Psycho, während er sich im Jolie über das angeblich beste Wiener Schnitzel Hamburgs hermacht.

Anlass seiner Frage ist eine längere Diskussion über Jakob Augstein etc., in deren Verlauf ich eingestand, unter massivem Kopfschwirren zu leiden angesichts der Tatsache, um wie viele Ecken hierzulande bisweilen gedacht wird, damit am Ende der Argumentationskette jemand als Anti- oder Philosemit entlarvt oder belobigt werden kann.

Ich hatte mich im Verlauf sogar zu der kühnen Behauptung verstiegen, ich könne mit ein wenig Tüftelei auch Henryk M. Broder des Antisemitismus’ zeihen, was allerdings – wie ich sofort zugab – Zeit, Wein und unbedingt der Schriftform bedürfte.

„Definitiv kein Antisemit ist jedenfalls“, fuhr German Psycho fort, „wer israelischen Eiswein trinkt.“ Damit spielte er an auf ein besonderes kulinarisches Erlebnis, welches wir zwischen den Jahren teilen durften.

Im Mittelpunkt desselben stand eine  süße Köstlichkeit, welche sage und schreibe auf den Höhen des Golans heranreift und dort vom Weingut Yarden aus edelverschimmeltem Gewürztraminer gekeltert wird. Bei der Temperatur hilft man freilich mit technischen Mitteln (vulgo: Tiefkühltruhe) etwas nach, wie mir der Privatimporteur dieser Kreszenz, Dr. K, steckte, doch das kümmert nur Pedanten, keine Connaisseure.

Jedenfalls sind wir nach dem hedonistischen Yarden-Gelage also definitiv keine Antisemiten, und um das noch einmal deutlichst zu unterstreichen, haben wir heute bei oben verlinkter Adresse eine ordentliche Menge Flaschen nachbestellt. „Dieser Wein ist sogar koscher!“, bekräftige ich gegenüber Ms. Columbo. „Aber ist er auch halal?“, fragt sie bang. „Jedenfalls bringt er dich zum Lallen, zumindest bei ausreichender Zufuhr“, kalauere ich zurück.

Ich würde übrigens auch jederzeit und ohne Vorbedingungnen palästinensischen Eiswein süffeln, aber sagen Sie das mal der Hamas.

02 Januar 2013

Das lässt tief blicken

Am Neujahrsmorgen standen unten vorm Tunnel – einer Diskothek, deren Eingangsbereich wir von unserem Balkon aus sehen können – junge Menschen im Winterregen, darunter eine Frau im kleinen Schwarzen und wadenfrei.

Im Winter sieht man so was erstaunlich oft in Hamburg und vor allem auf dem Kiez, wo das Bedürfnis, sich zu präsentieren, anscheinend stärker ist als jede Lungenentzündungsbefürchtung.

Man sieht sogar bei Minusgraden schalfreie Hälse und Dekolletees von einer derartigen Tiefe, dass sich in ihren Spalten jeder dahergelaufene russische Eiswind formidabel aufwärmen kann. (Und ich spreche nicht von den Huren in der Davidstraße; die tragen nämlich Skianzüge.)

Ich und Ms. Columbo laufen derweil vollvermummt an diesen merkwürdigen Menschen vorbei und fragen uns, ob wir wirklich zur gleichen Spezies gehören. Wenn hier eine dieser Winterhalbnackedeis mitliest: Frieren Sie denn nicht? Und wenn ja: warum bloß nicht?

Ich frage für eine genetisch benachteiligte Halbsardin, die sich schon ins Lammfell mummelt, wenn sie nur Langnese-Werbung im Fernsehen sieht.

Übrigens ließ auch unsere Haustür am Neujahrsmorgen tiefer blicken als noch am Abend zuvor, doch das ist ja durchaus nicht unüblich – und damit für dieses Jahr hoffentlich erledigt.

31 Dezember 2012

Fundstücke (170): Offener Silvesterbrief etc.













1. Am Eingang des U-Bahnhofs Mönckebergstraße liegt eine Mahlzeit für eine vierköpfige Familie aus – und keine einzige Taube interessiert sich dafür. Allem Anschein nach befinden wir uns unversehens in einem Paralleluniversum. Vielleicht war das ja die latente Konsequenz des Mayakalenders.

2. Wie stets am letzten Tag des Jahres möchte ich Ihnen allen, die noch heute Abend mit explosivem Material erwägen herumzudilettieren, inständig nahelegen, sich in vorauseilender Wehmut noch einmal der Unversehrtheit all Ihrer Glieder zu vergegenwärtigen. Diesbezüglich verweise ich auf die Einträge aus den Jahren 2011, 20102009, 20082007 und  2006, die ebenfalls alle nichts genützt haben.


3. Der chinesische Konzern, der beim Mutterkonzern des deutschen Unternehmens Linde einsteigt, heißt übrigens Weichai. Ich wollt’s nur sagen.


27 Dezember 2012

Stadt, Land, Stuss

Die Unterschiede zwischen unserem mehrtägigen Weihnachtsdomizil am Rande des Westerwalds und St. Pauli sind evident. Ein zutraulich vorm Wintergarten lagerndes Reh zum Beispiel ist auf dem Kiez eher selten, und zwar nicht nur wegen des seltenen Vorkommens von Wintergärten.

Die hiesige Fauna besteht hingegen vor allem aus Tauben, Ratten, Mäusen, Möwen, Staffordshire-Terriern und … ähem … Bordsteinschwalben.

Und damit melde ich mich zurück.


24 Dezember 2012

Intermezzo

So, hier herrscht jetzt Weihnachtspause mit Überbrückungsfoto.

Schließlich haben Sie ja auch Besseres zu tun, als im Web vorbeizuschauen. Und wenn, dann gehen Sie sowieso lieber beim Spiegel online als hier. Erzählen Sie mir nix.

PS: Das Bild zeigt die Hardcorekneipenmeile Hamburger Berg in einem der raren Momente aufkeimenden Liebreizes. Und verschneit riecht’s dort sogar besser.
Ein bisschen.


21 Dezember 2012

Kiezöffentlich im Klugscheißermodus

Im Herz von St. Pauli, wo ich mit  German Psycho und Twelectra den Weihnachtsurlaubsauftakt begehe, informiert mich die Bedienung über die Weißweinauswahl.

„Wir haben einen Pinot Grigio und einen Riesling“, sagt sie. „Gut“, antworte ich, „dann nehme ich den Grauburgunder.“

Klassiker! Aber noch nie selbst live erlebt. Bis jetzt. Sie runzelt die Stirn. „Aber wir haben gar keinen … Ach so, der Pinot … DU KLUGSCHEISSER!“

German Psycho, der gerade draußen ist, um eine zu rauchen, wird später anmerken, das sei keineswegs eine Beleidigung gewesen, und ich stimme ihm wohlgestimmt zu. Allerdings bemängelt er das grobe Duzen, dessen sich die Kellnerin im Überschwang der Gefühle schuldig gemacht hat, doch das wiederum sehe ich ihr gerne nach.

Später bestelle ich explizit noch einen Pinot Grigio, was sie gespielt genervt goutiert, und am Ende, als es ans Bezahlen geht und sie die Rechnung aufdröseln möchte, informiere ich sie über die Posten, für die ich zu blechen gedenke: „Einen Grauburgunder und einen Pinot Grigio.“

Beide kosten übrigens gleich viel im Herz von St. Pauli, nur so als Tipp.

19 Dezember 2012

Fundstücke (169): Die Reeperbahn im Winter





Alles liegt – auf dem Gehweg undefinierbarer Sperrmüll, am „Geiz Club“ ein Obdachloser und außerdem Titten-Tinas Kieztour brach (worüber uns der aufgeklebte weiße Zettel informiert).

Kein Zweifel: Die Reeperbahn hat zurzeit den Blues. 


Und ich wenigstens ein paar neue Fotos im Kasten.

Mehr aber auch nicht.


16 Dezember 2012

Watt Muse, datt Muse

Beim Muse-Konzert in der o2-Arena filme ich mit der Digicam einen Song mit, als mir plötzlich jemand eine Hand auf die Schulter legt. Es ist eine Ordnerin.

„Bitte stellen Sie das Filmen ein“, brüllt sie mir ins Ohr, „das ist untersagt!“

Wir befinden uns im Unterrang. Einige Meter tiefer wogt die Fanmasse, die Stehplätze erworben hat. Man sieht Dutzende, vielleicht Hunderte Handys und Kameras, die im Dunkeln leuchten.

Alle filmen mit.

Ich würde der Ordnerin gerne erläutern, wie sinnlos der Versuch ist, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Aber dazu ist es einfach zu laut.

Und es würde auch die Aufnahme verderben.

13 Dezember 2012

Pareidolie (54)

Auf der Weltkarte der ZDF-Nachrichtensendung heute (r.) sieht die Ostsee aus wie ein krummrückiger Punkrockbassist in Schlaghosen, der exorbitant klobige Schuhe trägt.

Letzteres liegt allerdings nur daran, dass die heute-Leute – im Gegensatz zu Wikipedia (l.) – die russische Exklave Kaliningrad ebenfalls in Ostseeblau tunken, obwohl die Stadt gar nicht à la Atlantis im Meer versunken ist.

Aber ich will nicht meckern: Ohne diese kleine geografische Flunkerei sähe die Ostsee im ZDF weit weniger pareidolisch aus, und ich müsste mir jetzt einen ganz anderen Blogeintrag ausdenken.

PS: Eine ganze Galerie von Pareidolien gibt es bei der unermüdlichen Pareidolie-Tante, wo sonst..


11 Dezember 2012

Von 0 auf 180 – und zurück

Auf einer Handelsplattform im Netz, wo man auch Produkte aus zweiter Hand verkaufen kann, hatte ich eine CD aus meinem überbordenden Archiv eingestellt und erfolgreich verkauft, für 12,88 brutto. Zwei Tage nach dem Versand erhielt ich vom Käufer eine Mail. Sie klang unzufrieden:

Hallo, leider musste ich eben feststellen das sie mir die Falsche Ware zugeschickt haben!! Ich habe die CD inkl. DVD bestellt. Sie lieferten mir die Standard-Version des Albums! Wie sollen wir jetzt verfahren???? Frechheit zumal Ihr Ware bei CD gelistet ist/war!
Anscheinend hatte ich beim Einstellen das falsche Produkt angeklickt und es nicht bemerkt. Er schon, und wie. Noch ehe ich mich von meiner schamvollen Verdatterung erholen konnte, pingte seine nächste Mail ins Fach. Diesmal sparte er sich auch die Anrede und wählte das Stilmittel der unmittelbaren Ansprache:

Zumal ich dies als betrug bewerten kann, denn allein die Coverdarstellung ist die der Deluxe-Version mit DVD!!! Sie haben mir die Standard zugeschickt!!!! Und dann auch noch im Lieferschein stehend: CD. Obwohl die Listung bei CD+DVD stand. Klicken sie einmal auf den Artikel und schauen sie wo er gelistet ist!!
Wie mir schien, war dieser Mann rechtschaffen empört. Und sämtliche seiner Rückschlüsse waren alles andere als schmeichelhaft für mich. Allein das Wort „betrug“ in Zusammenhang mit mir lesen zu müssen, traf mich tief, trotz der Kleinschreibung. Dennoch kam ich nicht umhin, seine Suada nah an der Überreaktion anzusiedeln.

Für ihn gab es, wie mir schien, keine andere denkbare Erklärung für die ihm zugemutete Ungeheuerlichkeit als die kriminelle Energie eines Dr. Mabuse. Und der zu begegnen, bedurfte es aus seiner Sicht offenbar keineswegs des Floretts, sondern eines kapitalen Flakgeschützes.

Man liest in letzter Zeit viel von marodierenden Trollen im Netz, von Tobern und Pöblern, und es heißt, es läge an der Anonymität, die selbst wohlerzogene Mitbürger dort alle Anstandsregeln vergessen ließe. Wo im richtigen Leben (neudeutsch: RL) gemeinhin vier bis fünf Eskalationsstufen durchlaufen werden müssen, ehe man endlich beim „ARSCHLOCH!“ anlangt, sind es online höchstens die Hälfte. Mein Kunde schien diesen Erklärungsansatz zumindest nicht vollends zu widerlegen.

Ich beschloss, dieser Attacke auf meine Integrität, ja auf mein ganzes säkulares Moralsystem angemessen zu begegnen. Nämlich mit brutalstmöglicher Höflichkeit: 

Entschuldigen Sie vielmals, das war ein Fehler und keine Absicht. Ich erstatte Ihnen selbstverständlich Ihre Kosten. Behalten Sie bitte die CD. Ich hoffe, Sie können mir diesen Fauxpas nachsehen. Mit freundlichen Grüßen.
Die Wirkung war erstaunlich. Seine Reaktion kam nur wenige Minuten später – und grenzte geradezu an Selbsterkenntnis:

Hallo, Danke für den schnellen Schriftverkehr. Mir tut es selber Leid hier einen aufriss zu machen. Bitte entschuldigen sie meine Wortwahl. Da ich ihnen dankbar bin für Ihr verständniss etc. biete ich ihnen an mir 10€ zurück zu überweisen den rest dürfen sie getrots behalten. Ich danke Ihnen nochmals, mit frdl Grüßen und einer schönen vorweihnachtszeit. LG
Doch so leicht wollte ich ihn nicht vom Haken lassen. Wer mich beim Tippen der folgenden Zeilen beobachtet hätte, hätte mich sardonisch lächeln sehen:

Ich habe Ihnen den Komplettbetrag zurücküberwiesen. Da ich die CD falsch zugeordnet habe, muss ich auch die Kosten tragen. Aber danke für Ihr Angebot! Wenn Sie mögen, können Sie mir ja trotz der Umstände eine positive Bewertung geben. Besten Gruß.
Er hatte als tollwütiger Hammerhai angefangen. Aber jetzt war er nur noch ein Putzerfischchen, und man kann nun wirklich nicht sagen, dass diese Entwicklung die (Online-)Welt schlechter macht, oder? Er schrieb steviasüß zurück:

Bewertung wurde ebend gemacht. Positiv natürlich  ;-) Alles alles liebe und gute!!!
Einen Heiratsantrag hat er übrigens nicht nachgeschoben. 
Na ja, noch nicht.



10 Dezember 2012

Und noch eine Sprachnörgelei

Der hochverehrte Hamburger Werbetexterpapst ramses101 wird mich angesichts des heute präsentierten Fundstücks gewiss wieder als „Sprachnörgler“ bezeichnen.

Zuletzt tat er das erst am vergangenen Donnerstagabend, als wir uns im Brandanfang in der Deichstraße unterm unheilvollen Einfluss von Bier, Wein und German Psycho kräftig in die Haare gerieten, wobei das in meinem Fall aus rein anatomischen Gründen eigentlich gar nicht möglich ist.

Jedenfalls muss Sprachnörgler Matt an diesem Infoschild einige Auffälligkeiten konstatieren, ob es  ramses101, dem sanftmütigsten Fehlerdurchgehenlasser seit Konrad Dudens Geburt, nun passt oder nicht. Alles andere wäre grob fahrlässig.

Aus Sicht eines Deutschlehrers nämlich
wären beeindruckende acht Fehler zu markieren, was bei einem lediglich ebenso viele Wörter umfassenden Text eine Superleistung darstellt – und im Grunde nur von einem Schülerpraktikanten aus der Klasse von Frl. Krise zu packen wäre.

Übrigens thematisiere ich an dieser Stelle immer meine aufkeimende Befürchtung, die Dienstleistungsqualität des verantwortlichen Unternehmens könne ein ähnliches Niveau aufweisen wie der
Frontalunfall von Infoschild. In diesem Fall gälte das für den Media Markt in Altona.

Na ja, vielleicht kaufe ich den HD-Fernseher doch lieber bei Conrad. Oder Saturn.

PS: Ja, ich weiß, dass Media Markt und Saturn zur selben Unternehmensgruppe gehören.


08 Dezember 2012

Time to say goodbye (2)

Im Gegensatz zu Büchern, die man relativ problemlos verschenken kann, wird man nur unter größten Schwierigkeiten Abnehmer für zuschanden gespielte Fußballschuhe aus dem letzten Jahrtausend finden.

In meinem Fall erklärte sich nur noch die Mülltonne dazu bereit. Wobei ich zugeben muss, auch keinen anderen gefragt zu haben. Jetzt sind sie jedenfalls weg – trotz aller Erinnerungen, die an diesem Paar Treter hängen.

So gelang mir damit zum Beispiel dereinst einmal die direkte Verwandlung eines Eckballs, allerdings mit freundlicher Hilfe einer Bö und eines talentlosen Torwarts. Doch dieses Jahr steht nun mal unter dem Motto: Schaffe wöchentlich mehr aus der Wohnung hinaus, als du im gleichen Zeitraum nach Hause gebracht hast. 


Als ganz besonders effektiv erwies sich dabei der Abbau der Compact-Cassetten-Bestände. In den abgebildeten Tüten tummelten sich einige Hundert Bänder, darunter u. a. selbst mitgeschnittene Konzerte aus den 80er Jahren, Unikate zwar, doch klanglich von bestürzender Lausigkeit.

Die meisten Cassetten waren allerdings selbst zusammengestellte Mixtapes. Angesichts der Abertausenden Arbeitsstunden, die das Kompilieren insgesamt gekostet hat, vergoss ich beim Entsorgen erstaunlich wenig Herzblut.

Vielleicht liegt es daran, dass die Musik, die sich darauf befand, ja letztlich gar nicht weg ist. Sie befindet sich mittlerweile komplettement irgendwo da draußen: im Netz, in der Cloud. In Mausklickreichweite.

Hinsichtlich des Jahresmottos sorgte der gestrige Tag übrigens für einen gewaltigen Rückschlag. Ich sage nur ein Wort: Redaktionsflohmarkt.

Wie die Spezialedition von „Fluch der Karibik“ allerdings gleich dreimal in meine Tüte kam, will ich gar nicht wissen.

06 Dezember 2012

Sehr delikatet

Nehmen wir mal an, ich käme auf die Idee, mit Ms. Columbo in Peking ein Restaurant mit hanseatischer Küche aufzumachen.

Nehmen wir des weiteren an, eines Tages wäre – sagen wir – überraschenderweise Herbert Grönemeyer zu Gast, und wir beschlössen, dieses Großereignis zu Eigenwerbungszwecken der Welt resp. ganz Peking per Schaufensteraushang zu verkündigen.

Gesetzt also diese unwahrscheinlichen Fälle: Würden wir uns dann wirklich ohne jede einheimische Hilfe mächtig einen auf Chinesisch abbrechen? Nein, würden wir nicht. Das Restaurant China in der Kirchenallee ist da allerdings deutlich selbstbewusster.

Mit den üblichen Folgen.



04 Dezember 2012

Jungfernfahrt in der U4

Wann bekommt eine westliche Großstadt schon mal eine neue U-Bahn-Linie? In Athen zum Beispiel passierte metromäßig nach 1904 erst mal 96 Jahre lang überhaupt nichts mehr.

Von daher ist die Eröffnung der U4 in Hamburg ein großes Ereignis. Endlich passiert mal wieder was! Und die schnorrerhaft veranlagten Ms. Columbo und ich nutzen natürlich sofort das Angebot der hiesigen Verkehrsbetriebe, den U-Bahn-Frischling zur Einführung kostenlos zu befahren.

Vom Jungfernstieg aus geht es unter der Elbe hindurch gen Hafencity, wo uns zwei gewaltige Bahnhofshallen erwarten, deren Kubikmeterpreis sich bei parzellenweiser Vermietung bis ins Fantastilliardenhafte schraubte.

Die Station Hafencity Universität ist gar auf geradezu „Clockwork Orange“-hafte Weise illuminiert, während dazu diverses Meeresgetier leise säuselnd den Soundtrack liefert. Ganz vernarrt in die überwältigende Kraft von multichromen LEDs und Symmetrie schieße ich ein Foto ums andere und komme am Ende zu dem Schluss: Hier lässt es sich aushalten. Ein neuer gemütlicher Ort ist geboren.

Die Station zu verlassen ist allerdings (noch) nicht angeraten, denn draußen empfängt uns ein wilder Mix aus Zäunen, Brachen und Bauschutt. Sozusagen ein Gammelsurium.

Ein bescheuerter Kalauer, der Ms. Columbo übrigens erheitert. Und dafür mache ich das doch alles!




01 Dezember 2012

Dylan hat’s verschissen

Unter der lustigen Truppe, die jährlich vom Maritim-Hotel zum Gänseessen ins mondän angeranzte Haus in der Kirchenallee eingeladen wird, befindet sich nicht nur aus unerfindlichen Gründen der Autor dieses Blogs, sondern auch Journalisten, die ab und zu wirklich Artikel über Hotels verfassen.

Dadurch erfahre ich gleichsam nebenbei, welche jährliche Summe der Musiker Udo Lindenberg  an die Eigentümer seiner Dauerresidenz, das Atlantic-Hotel, überweist – und muss sagen: Das hätte ich nun wirklich nicht gedacht …

Ein älterer Kollege wälzte hingegen ein ganz anderes Thema, welches, wie schnell deutlich wurde, seit Dekaden in ihm gärt. Er erzählte mir zwischen Amuse-Gueule und Kürbissamtsüppchen von einer bitteren Erfahrung 1970, als er das längst legendäre Festival auf der Isle of Wight besuchte.

Bob Dylan nämlich, erinnerte er sich, habe nur eine Dreiviertelstunde (!) gespielt, sei dann einfach so (!!)  „in seinen Hubschrauber“ (!!!) gestiegen und wieder abgeflogen.

„Wir waren alle sauer, wir haben gebuht!“, erregte sich der Mann. Ob er noch mal ein Dylan-Konzert gesehen habe seither? Er schüttelte wild den Kopf, denn 42 Jahre später im Hamburger Maritim-Hotel Reichshof in der Kirchenallee war seine gleichsam überzeitliche Empörung noch immer nicht abgeklungen.

Ein solches Beharrungsvermögen imponiert mir. Was so etwas allerdings über die Qualität der kulturellen Meinungsbildung in Deutschland aussagt, möchte ich lieber nicht tiefer durchdenken.

Mit Jimi Hendrix 1970 auf Fehmarn war der Kollege übrigens ganz zufrieden. Wenige Wochen später war Hendrix tot, und Dylan lebt
immer noch. Zufall?

PS: Der abgebildete Prachtkronleuchter hängt übrigens im Restaurant des Maritim und schaut den Gästen abgeklärt in die Suppe.

27 November 2012

Pareidolie (53)

Man hat nicht jeden Tag beim Kartoffelschälen das bedrückende Gefühl, ein Kapuzineräffchen zu köpfen. Auch für mich war es ein Debüt.

Ein Vegetarier wäre in diesem Moment möglicherweise entsetzt auf Rauke umgestiegen, doch ich blieb taff.

PS: Eine ganze Galerie von Pareidolien gibt es bei der Pareidolie-Tante
, wo sonst.


26 November 2012

Meide Seitenstraßen!

Als ich gestern morgen unten an der Post gerade einen Brief einwarf, packte wenige Meter weiter, wo vor einiger Zeit unser Straßenschild mal tagelang herumgelegen hatte, ein schwankendes Nachtschattengewächs sein Gemächtchen aus und pieselte versonnen an den Baum.

So weit, so Standard. Von der Reeperbahn her näherte sich unterdessen ein händchenhaltendes Paar von etwa Ende 50. Plötzlich gewahrten die beiden das pinselschwingende Überbleibsel von Samstagnacht, schauten sich großäugig an, machten unisono kehrt und gingen eilends zurück Richtung Reeperbahn.

Ich würde mein Fahrrad, das mir spätestens 2013 sowieso geklaut werden wird, darauf verwetten, dass die beiden Touristen waren, die sich aus angstgeschwängerter Abenteuerlust einmal auf dem Kiez in die Seitenstraßen hatten schlagen wollten. So viel Wagemut – und dann das.

Während der trandösige Bursche, der davon natürlich nichts mitbekommen hatte, voller Resteifer die letzten Tröpfchen abschüttelte, musste ich doch ein wenig schmunzeln.

Und dann fuhr ich Brötchen holen.

24 November 2012

Der Biss in die Bank

Neulich joggte Kramer abends mit Musik auf den Ohren durch Eppendorf. Dabei übersah er eine perfide verdunkelte Parkbank (Symbolfoto). Er traf sie auf der schmalen Seite.

Über Kramers Schienbein setzte eine naturgesetzlich bedingte Hebelwirkung ein, die seine Einsneundzig in einer parabelartigen Flugbewegung längs auf die Parkbank knallen ließ. Dabei schlug Kramer seinen Oberkiefer kraftvoll ins unschuldige Holz dieser Eppendorfer Sitzgelegenheit.

Wie er uns am Folgetag mit aufgeschlagener Oberlippe und lockerem Vorderzahn berichtete, sei allerdings unmittelbar nach dem Aufprall keineswegs die aufgeschlagene Oberlippe oder der lockere Vorderzahn das größte Ärgernis gewesen, sondern die Tatsache, dass sein iPod weiter ungerührt Musik spielte.

Und zwar einen Song der Schweizer Band Die Aeronauten.

Quälend zähe Sekunden lang befingerte Kramer demnach den vielfach verfluchten Player, ehe er den Soundtrack zu seinem Unglück endlich stoppen konnte.

Besorgte Passanten, die den zitternd und zeternd auf einem kleinen weißen Kasten herumdrückenden Trumm von Mann nach seinem Wohlbefinden fragten, beschied er in verwaschenem Duktus und unangemessen schroff, alles sei „in Ordnung“. Doch das stimmte nicht. Nichts war in Ordnung.

Und dass ausgerechnet eine Band namens Die Aeronauten Kramers Sturzflug auf die Eppendorfer Parkbank untermalte: Das hat schon ein G’schmäckle, liebes Schicksal.

21 November 2012

Das schwere Atmen

Heute tauchte zum wiederholten Male die Hamburger Telefonnummer 040-808044935 in der Anrufliste unserer Fritzbox auf. Normalerweise steht diese Nummer einfach im Protokoll, denn dem ominösen Anrufer ist es bisher zuverlässig gelungen, uns nie zu Hause anzutreffen.

Heute aber war etwas anders, nämlich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Zu hören ist, wie jemand 50 Sekunden lang schwer in den Hörer atmet. Im Hintergrund Trubel und Stimmengewirr, meist weiblichen Zuschnitts.

Eine Webrecherche legt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um den Kontaktversuch eines o2-Callcenters handeln könnte. Das beweissichere Hinterlassen schweren Atmens erwarte ich aber normalerweise nicht von o2. Nicht mal von der Telekom.

Warum 040-808044935 immer wieder mal anruft, aber nie etwas sagt, sondern allenfalls schwer atmet, könnte darauf hindeuten, dass sie Arbeit bloß simuliert – „hier, Chef, das sind die 1278 Nummern, die ich heute angerufen habe, krieg ich jetzt ne Gehaltserhöhung?“

An dieser Taktik muss 040-808044935 auch künftig nichts ändern, denn dass ich die Nummer jetzt endlich in die Fritzbox-Sperrliste eingetragen habe, kriegt sie gar nicht mit. Angeblich hört sie nämlich trotzdem ein Freizeichen – wir aber das Klingeln (und Atmen) nicht mehr.

Wieder mal eine Win-win-Situation, wie ich sie sehr, sehr schätze.



19 November 2012

Selig gehört (vermutlich)

 „Da vorne ist Jan Plewka! Ich habe Jan Plewka gesehen!“, brülle ich Ms. Columbo zu. Wir stehen im Kellerclub Molotow. Vorn auf der Bühne, die nicht zu sehen ist, sollen Selig spielen. Klingt auch danach.

Wenn man am Eingang des Molotow-Bühnenraums vor einer unnachgiebigen Wand aus Rückenfronten steht, hat man vielerlei Probleme, die in mehreren Dimensionen anzusiedeln sind.

Zum einen ist der Sound von strunzdumpfer Breiigkeit, aber wenigstens bläst er einem nicht das Hirn aus dem Schädel: Die Front der unnachgiebigen Körper wirkt wie ein riesiger Punchingball, der den Schall teilabsorbiert. Zugleich verhindert sie zuverlässig unser weiteres Vordringen.

Um die Situation zu verschärfen und den Weltrekord in der Disziplin „Unzumutbare Konzertbedingungen“ nicht aus den Augen zu verlieren, minimiert die unmittelbar überm Scheitel des Publikums ansetzende Molotow-Decke außerdem den Sichtspalt Richtung Bühne auf Schlipsbreite – und ich meine nicht die Schlipsmodelle aus den 70ern.

Aus irgendeinem Grund erhasche ich gleichwohl einen Bühnenblick und erkenne den Bart des Sängers. „Da vorne ist Jan Plewka! Ich habe Jan Plewka gesehen!“, brülle ich daher Ms. Columbo zu. Sie scheint mir zu glauben, und wenn nicht, dann spätestens jetzt, mit diesem Beweisbild:




Das süße Discokügelchen über der Treppe, die harmlos tuend hinabführt in den Molotow-Höllenschlund, sollten die Betreiber übrigens unbedingt abhängen. Aus Sicht der zuständigen Jury gefährdet sie möglicherweise den Weltrekord in der Disziplin „Unzumutbare Konzertbedingungen“.


15 November 2012

Glück im Unglück und im Keks


Neulich vermisste ich meine Kamera. Nirgends war sie zu finden. Ich schickte Rundmails an die üblichen Verdächtigen, ohne Erfolg.

Als ich drei Tage später zu Hause eine Jacke von der Garderobe nahm, sah ich sie plötzlich wieder. Sie hing mittels der Handschlaufe an einem der Jackenknöpfe. Die ohne Zweifel gerichtsfeste Rekonstruktion des Vorfalls lautet hiermit folgendermaßen:

 

Als ich den Parka, in deren Brusttasche sich die Kamera üblicherweise befindet, drei Tage zuvor von der Garderobe genommen hatte, verfing sich die Schlaufe im Knopf der darunter hängenden Jacke. Die Kamera wurde dadurch sanft und unbemerkt herausgezogen und blieb dort baumeln.

Die üblichen Verdächtigen waren also wirklich unschuldig. Das war Vorfall Nummer eins, der glimpflich ausging. Vorfall Nummer zwei betraf mein iPhone. Es befindet sich ebenfalls gerne mal in der Brusttasche des Parkas.

Beim Schlendern übern Flohmarkt fand ich es allerdings zu meiner Verblüffung in der Umhängetasche, in der ich normalerweise Flohmarkfunde wie rare Edelweine verstaue, aber niemals das iPhone.

Auch hier gelang mir dank meiner Sherlock-Holmes-schen Kombiniationsgabe eine lückenlose Beweisführung des Tathergangs: 


Ich hatte in einer Kiste gewühlt, die auf dem Boden stand, und mich tief hinabgebeugt. Dabei war das iPhone klammheimlich aus der Brusttasche gefallen – aber nicht etwa in die Kiste, sondern in meine Umhängetasche, die mir ob meiner gebeugten Körperhaltung und wohl auch in weiser Voraussicht vom Rücken vor den Oberkörper gerutscht war.

All das geschah
direkt vor meinen Augen und doch vollkommen unbemerkt. Zwei entscheidende Gadgets, ohne die mein Leben trübsinnig wäre und voller Harm und Ödnis, sind also aus purem Dummenglück weiterhin in meinem Besitz.

„Mit all dem“, fasste Ms. Columbo diese Slapsticknummern zusammen, „könntest du im chinesischen Staatszirkus auftreten.“ Anscheinend bin ich gebenedeit unter den Schusseln.

Apropos China: Im Asiarestaurant Bok im Schanzenviertel erwischte ich neulich oben abgebildete Glückskeksbotschaft, die meine gesamte Berufslaufbahn der vergangenen 25 Jahre trefflichst auf den Punkt bringt.

Irgendwie ein toll(dreist)er Monat, dieser November, wenn ich dieses Fazit schon mal ziehen darf.

13 November 2012

Meine Killerskills als Linguist

Über unseren Köpfen dreht sich die wahrscheinlich größte Discokugel St. Paulis und überflackert die Stuckengel an den Wänden mit silbrigem Gesprenkel. Kein Zweifel: Wir sind in der Prinzenbar, wo die Südtiroler Frauenband Ganes konzertiert.

Die aparten Damen haben die urige Eigenart, auf Ladinisch zu singen. Dabei handelt es sich einer Theorie zufolge um das Überbleibsel eines alten lateinischen Dialekts aus der römischen Provinz Raeta. Vielleicht importierten aber auch Außerirdische das Ladinische vom Aldebaran; jedenfalls höre ich fasziniert zu.

„Sie rollen das R wie die Spanier“, informiere ich überraschend sachkundig Ms. Columbo, „und manche Nuschellaute klingen deutlich nach Portugiesisch.“

„Das Stück gerade“, antwortet sie, „war aber auf Italienisch.“

Hmpf. HMPF.

Im Anschluss singen die Grazien zum Glück und ganz ohne Rrrrollen und Nuschellaute Bob Marleys „Redemption Song“, und ich bin froh, dass Ms. Columbo das Thema nicht weiter vertieft.

11 November 2012

Die Stille nach dem Kuss

Die Hälfte der Republik soll ja laut Wetterkarte heute mit bis zu 100 Liter Regen pro Quadratmeter gewässert worden sein. Wie so oft aber erfreute sich Hamburg stattdessen eines blitzeblanken Sonnentags, der sich an der Alster wie oben dokumentiert bemerkbar machte.

Bevor wir zu diesem schönen Spaziergangsziel aufbrachen, sah ich an der Reeperbahn einen rauchenden Mann, der ein Werbeplakat des russischen Staatsballetts auffällig unauffällig umschlich und musterte.

Plötzlich beugte er sich hinunter und drückte der abgebildeten Tänzerin einen schüchternen Kuss aufs Ballettröckchen. Dann eilte er rasch davon.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde so was recht seltsam, sogar wenn man Kiezkriterien zugrunde legt.

09 November 2012

Eine kleine Gewalt Fantasie


 

Ich glaube, wir müssen uns allmählich wirklich vom altehrwürdigen zusammengesetzten Hauptwort verabschieden.

Über Jahrhunderte tat es tapfer seinen Dienst, übte sich lustvollst im Kreieren von Neuschöpfungen, schmolz zusammen, was oft nicht mal ahnte, dass es zusammengehört, schuf wie aus dem Nichts neue Wort- und damit Sinnwelten.

Diese Ära geht nun zuende, gewalt- und grausam. Denn die Kompositazerstückelung grassiert inzwischen in einem Maße, wie sie in der Vergangenheit nur in Serienkillerhaushalten vorkam. Irgendwann werden in der deutschen Sprachlandschaft nur noch Wort fet zen her um lie gen, zuckend und zappelnd und den letzten Rest ihrer Semantik aushauchend.

Das oben dokumentierte Beispiel eines Promoteranschreibens, das mich heute erreichte, ist nur die Spitze des Scheißbergs, ich schwör. So was bloß als „Deppenleerzeichen“ zu diskreditieren, wäre eine Beschönigung, der ich mich keinesfalls schuldig machen möchte.

Nein, Hopfen, Malz und das zusammengesetzte Hauptwort scheinen verloren. Oder gibt es einen Untergrund, in den man gehen könnte, um zurückzuschlagen? Könnte man von dort aus nicht mit kapitalen Kompositakanonen auf diese Spatzen Hirne schießen?

Wenigstens einen Vorteil hätte es ja, dass schon so viele davon herumflattern: Man träfe garantiert mit jedem Schuss.

07 November 2012

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (77)

Das Komet in der Erichstraße wäre auf dem Kiez nicht nur wegen des Hank-Williams-Bildes die weltweit liebenswerteste Kneipe – würde man dort als Gast nicht zugepestet wie bei einem Werbermeeting 1963 in der New Yorker Madison Avenue.

Aber man kann schließlich nicht alles haben.

06 November 2012

Entscheidungshilfe erbeten

Auf dem Schlachthofflohmarkt ist mir die abgebildete Flasche Sauternes-Wein von 1967 (!) für einen lächerlichen Preis in die Hände gefallen.

Da der Wert dieser Kreszenz laut einer kurzen fiebrigen Webrecherche aber eher in den dreistelligen Eurobereich hineinlappt, stellt sich mir nun eine (ge)wichtige Frage: trinken oder verticken? Und wenn trinken: mit wem?

Bewerbungen bitte in den Kommentaren.

03 November 2012

01 November 2012

Vermutlich im Crackmodus

Gebrüll von draußen hat mich ja schon oft auf den Balkon getrieben, und häufig boten sich mir illustre Szenerien. Ich verweise nur auf einen legendären Polizeieinsatz von 2009.

Diesmal sehe ich einen Mann mit Astraknolle, der unten an der Postfiliale irgendwas schreit, das verschwommen nach „Fuck!“ klingt, im Kreis läuft und immer wieder mit einem Fuß voraus gegen die Wand der Postfiliale springt.

Er scheint wie gefangen in dieser Kreisbewegung, dieser Abfolge, diesem Schreien und Springen. Manche, die auf ihn zulaufen, wechseln 20 Meter vorher die Straßenseite. Andere, deren Unbekümmertheit ich bewundere – schließlich könnten sie unversehens in eine Situation
geraten wie Bart Simpson auf dem abgebildeten Ottenser Graffito –, laufen an dem tobenden Kreisläufer vorbei, als wäre er gar nicht da.

Bis vor einigen Wochen hätte ich überhaupt nicht kapiert, was da vor sich geht, was mit diesem Mann los ist, warum er in diesem beängstigenden Modus gefangen ist. Inzwischen bin ich schlauer und vermute einen unvorsichtigen Umgang mit Crack.

Also Balkontür zu und ab in die Heia. Am nächsten Morgen ist alles wieder ruhig, und an der Wand der Postfiliale kann ich keinerlei Schäden erkennen.