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20 August 2010

Auf Kreuzfahrt (5): In „St. Petersburg“



Ankunft in Leningrad, welches sich vor 20 Jahren in einer Anwandlung neomonarchistischer Romantik in „St. Petersburg“ zurücktaufte. Weicheier!

Zum Glück ist dennoch weiterhin kein Mangel an handfesten stalinistischen Plattenbauten – gut so, denn was kann einen Sonnenuntergang zauberhafter widerspiegeln als Glanzstücke proletarischer Wohnkloarchitektur? Reiseleiterin Irina allerdings erwähnt diese bahnbrechenden Gebäude mit keinem Wort, stattdessen geleitet sie uns mit dem umflorten Blick Rolf Seelmann-Eggebrechts durch den eklen Prunk des Palastes der Adelsfamilie Yussupow.

Sie schwärmt von den „schönen, begabten, steinreichen“ Mitgliedern dieses degenerierten Geschlechts – und verschweigt, wie die Mischpoke einst jene Fantastilliarden erräuberte, ohne die sie niemals ihre Tapeten mit Blattgold hätte durchwirken können. Abstoßend!

Immerhin können die Yussupows auf die verdienstvolle Massakrierung des durchgeknallten Esofreaks Rasputin verweisen – und zwar hier im Keller, unter unseren Füßen, nur ein paar Meter weit weg vom Tapetenblattgold.

Nur auf der Kanalrundfahrt hatte die schwärmerische Irina kurz ihre stramme UdSSR-Sozialisation aufblitzen lassen. „Äs war nicht alläs schlächt in Sowjetzeit“, sagte sie, „abgäsähän von Stalin vielleicht, aber heute auch ist nicht alläs gutt!“ Eine wohltuende präventive Relativierung all dessen, was später an Seelmanneggebrechteskem aus der guten Frau herausbrechen sollte.

Die Leningrader … na gut: Petersburger Jugend frönt übrigens einem merkwürdigen Brauch, dessen Ursprung sich selbst die ansonsten allwissende Irina nicht erklären kann: Sie befestigt Schlösser an den zahlreichen Brückengeländern, die das sog. Venedig des Nordens zieren, welches am Stadtrand eher als Bitterfeld des Ostens durchgeht.

Nach dem Anbringen der Schlösser entsorgt die Jugend die Schlüssel, wahrscheinlich der Einfachheit halber in der Newa. Irgendwann war die verweichlichte Stadtverwaltung so verzweifelt über diese Unsitte, dass sie – anstatt die Jugend nach gutem alten, leider etwas in Vergessenheit geratenem Brauch en tout nach Sibirien zu expedieren – an allen Brücken quaderförmige Gitterkäfige aufstellte.

Damit verband sie die Hoffnung, die Jugend möge ablassen von den historischen Geländern und sich stattdessen den Käfigen zuwenden. Einen Honigtopf in die Zimmerecke zu stellen, um Wespen vom Kuchen wegzulocken, folgt ähnlichen taktischen Überlegungen.

Das Irre an der Petersburger Aktion: Die verweichlichte, neomonarchistische Jugend fiel darauf rein! Seitdem kettet sie ihre Schlösser nicht mehr an Brücken, sondern brav an die Gitterkonstrukte. Versteh einer die russische Seele!

Hätte die Stadtverwaltung stattdessen alle Brücken abgerissen und dort handfeste Plattenbauten hingestellt, die abends den Sonnenuntergang zauberhaft widerspiegeln, wäre dieser romantische Spuk ebenfalls von heute auf morgen vorbei gewesen.

Unter Stalin, so viel ist sicher, wäre das nicht passiert.