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09 Februar 2019

Grauenvoll witzig: Ernst Kahl zum 70.

Dass Ernst Kahl, dieser geniale Struwwel-, Schlau- und Kindskopf, am 11. Februar schon 70 wird, klingt nicht nur surreal, sondern sollte auch unbedingt mit einem bundesweiten Feiertag begangen werden. Steinmeier, wie isses? Die unwiderlegbare Begründung dafür folgt unten in meinem Porträt über den Künstler als mitteljunger Mann, das zwar schon 1997 entstand, aber vor allem dank seines Protagonisten in Würde gereift ist. 

Die Caricatura in Frankfurt hat die Feiertagsidee beherzt aufgegriffen und sie völlig zurecht gleich auf ein ganzes Vierteljahr ausgelegt. So lange nämlich läuft die Ausstellung, die dem Giganten Ernst Kahl gewidmet ist, und wer im Umkreis von 600 Kilometern drumherum wohnt und sie nicht aufsucht, der wird sich dereinst vor seinem Schöpfer für dieses Versäumnis verantworten müssen. 

Nun aber zu meiner feuchtfröhlichen Ernst-Kahl-Homestory – eine aufrichtigere  Gratulation habe ich nicht in petto. Und vor allem keine wortreichere.



Komik ist Notwehr


Was kann Ernst Kahl eigentlich nicht? Gerade ist ein Kunstband erschienen, der ihn als Klon aus Busch, Magritte, Caspar David Friedrich und Hitchcock ausweist. Aber Kahl ist auch Musiker, Drehbuchautor, Humorist und Kolumnist. Was bleibt, wenn man all das wegrechnet? Ein Hausbesuch soll Klarheit bringen.


Wer zu Ernst Kahl will, muss in einen Hamburger Hinterhof. Der Gang dorthin ist dunkel – dass bloß der australische Chardonnay, den man vorsorglich dabei hat, nirgends aneckt! Denn Kahls Stimme am Telefon hob sich merklich, als man das geistige Mitbringsel erwähnte. „Flasche Wein? Eigentlich hatte ich heute Abend zwar einen Termin mit einer balinesischen Tempel- und Nackttänzerin, aber für einen australischen Chardonnay lasse ich alles stehn.“

Bei Kahl sieht es nach Bombenterror oder brünstigem Hauskater aus. Der legere Hausherr im gerippten Pulli ist damit sehr zufrieden. „Ich habe gerade ein wenig aufgeräumt“, sagt er nicht unstolz. Jeans liegen auf der Heizung, in den Ecken Gitarren. Herum hockt protzig ein Schlagzeug. Wir sind in Kahls Wohnzimmer, das auf eine kunstlose Art nicht eingerichtet ist. Kahl ist völlig unspießig, aber nicht aus Ideologie. Er findet einfach nichts dabei, wenn Stühle dastehen wie vom Spediteur vergessen. Wenn Boden und Tisch mit Blättern unterschiedlicher Wichtigkeit bestreut sind. Wenn die Wände alle kahl sind und nicht voller Kahls.

Sollte seine junge, frische Freundin hier mal einziehen, was sie sich durchaus vorstellen kann und Kahl auch schon ein bisschen, dann will sie zuerst Struktur ins Chaos bringen. Das wäre dann die erste Struktur, mit der er leben könnte. Vielleicht. Hier haust offenbar ein Bohémien, vielleicht auch ein Chaot oder ein Bettler oder einer, der alles zusammen ist – aber doch keiner, dem der Filmproduzent Bernd Eichinger für eine Woche Drehbuchschreiben mal eben 10 000 Mark überweist, obwohl das Ding dann doch nicht verfilmt wird.

Ja, der Herr Kahl: ein verwuselter Wohner, aber ein genauer, manischer und verlässlich kreativer Kunstarbeiter. Drei Wochen lang hat er gerade gepinselt wie ein Galeerensklave, weil in Bochum eine Strindberg-Premiere seines Freundes Detlev Buck droht und im Schauspielhaus pünktlich echte Kahls hängen sollen. Alte Bilder malte er dafür groß nach. „Winzige Boshaftigkeiten auf große Formate – und plötzlich kriegen die was Klassisches“, wundert er sich. Winzige Boshaftigkeiten? Kahl meint Bilder wie „Mondscheinidyll“. Drauf ein Gör mit blutverschmiertem Mund, daneben ein Kampfhund mit durchbissener Kehle. „Das ist ganz merkwürdig“, sagt er ernst. „Niemand würde sich trauen, so ein Motiv ganz groß zu malen.“ Niemand außer Kahl.

Wissen die Bochumer eigentlich, welche Kulissenschocker da auf sie zukommen? Kahl grinst genüßlich und tut, was er unablässig mit seiner weitläufigen Bude tut: Er qualmt sie voll. „Ich glaube nicht. Fürs Theater ist es wahrscheinlich schon ein Hammer. Es hat eine … banale Hintergründigkeit. Dadurch, dass ich lakonisch und banal die absoluten Grausamkeiten beschreibe, haben sie etwas Alltägliches. Nicht wie Helnwein, der schockieren will mit richtigen Schmerzbildern. Meine sind ohne Blut, ohne Grauen, aber witzig. Viele werden sagen: Das ist doch keine Kunst. Aber diesen Kampf nehme ich gerne auf. Es wird Zeit, dass das Absurde und Komische Eingang in die Kunst finden. Beim Lachen hört die Kunst auf, und das ist ein Witz.“

Nach der wochenlangen Malorgie, zu der er sich gar die Matratze ins Atelier holte, kann Kahl kaum noch stehen. Er stakst einher wie ein Storch. Alle zwei Tage ein Bild, davor die Produktion des voluminösen Bandes „Kahls Künste“, zwischendurch Songs schreiben, sie mit Kumpel Hardy Kayser aufnehmen im kleinen Heimstudio, Konzerte geben, das Drehbuch für Wigald Bonings ersten Kinofilm „Die drei Mädels von der Tankstelle“ schreiben (Start: 12. Juni): Jetzt ist er schlapp, der Kahl.

Ein Wunder, dass er noch zum Aufräumen gekommen ist. Ein Wunder auch, dass das Telefon den ganzen Abend nicht klingelt. Aber Kahl ist ein Voodoopriester auf intuitivem Feldzug gegen funktionierende Technik. Wenn er kommt, versagen CD-Player, Platten gehen kaputt. Nacheinander werden sich heute abend vier Batterien weigern, das Aufnahmegerät zu betreiben. „Die Technik“, sagt der computerlose Kahl befriedigt, „mag mich nicht. Und ich mag die Technik nicht.“

Er ist jetzt 47 und berühmt. Seine Bio im Zeitraffer: in Kiel geboren, Kinderlähmung mit vier, zwei Lehren geschmissen, mit 17 von zu Hause abgehauen, Kunststudium in Hamburg an- und abgebrochen, Bildersammlung in der S-Bahn vergessen, Hilfslehrer auf der Hallig Hooge, nach vielen, auch amourösen, Wirren zurück nach Hamburg.

„Bin vom Leben“, grinst Kahl, „mit rauer Zunge beleckt worden.“ Zu den karrieregefährdenden Defekten der frühen Jahre gehörte nicht nur eine solide Grundrenitenz gegen „Strukturen“, sondern auch eine handfeste Paranoia. Die wurde er irgendwann wieder los, seinen Schiss vor Prüfungen dagegen nie. Bis heute examinierte noch keine Kommission dieser Welt den Kahl. Damals, auf der Kunsthochschule, haben sie ihn dank der mitgeführten Mappe genommen. Rechtzeitig vorm Abschluss schlich er sich.

So einer hat auch keinen Führerschein. Wenn man ihn fragt, warum, erzählt er immer, er sei mal mit dem Auto in eine Fußgängergruppe gerast. Drei Tote, aber nicht seine Schuld – Getriebeschaden halt. Dann genießt er die Betretenheit und grinst sich heimlich eins – Kahlscher Humor. Aufgeklärt wird die Schauermär natürlich nie.

Nicht nur wegen seiner Prüfungsangst wird Kahl kaum noch zum Führerschein kommen; er ist einfach ausgelastet bis zum Nichtmehraufräumenkönnen. Bei dem, was er so alles macht, wird einem ganz schwindlig, und dabei ist der Wein gerade erst entkorkt.

Kahl malt und zeichnet, mal wie ein alter Meister, mal kunstvoll ungelenk wie ein Pennäler; Kahl schreibt, singt, macht dies und das und irgendwie alles richtig. Ist die Zeit der Universalgenies nicht vorbei? War nicht circa Goethe der letzte, der dichtete, dokterte und kritzelte? Kahl macht das auch, nur komischer, respektloser. Der Clash der Hoch- und Tiefkulturen – wenn Kahl kommt, rasselt es richtig. Er, der ein Traktat mal ironisch „Die kleine Kunst des geraden Blicks“ taufte, ist nämlich ein Kreuz-und-quer- und Drunter-und-drüber-Gucker.

So verblüffend leicht er auch zwischen Vermeer und Disney, zwischen Karl Kraus und Heinz Erhard changiert, so wenig achtet er den Ernst der Lage. Nach allem, was so rauszulesen und -lachen ist aus seinem Werk, ist Kahl ein Nihilist.

Man stößt auf Mönche, die Tote begatten, und auf Kinder, die Lehrer enthaupten. Keine Werte, nur Werke? Ein Gott nach Kahlschem Gusto muss ein Freak sein. „Gott?“ japst Kahl. „Unvorstellbar für mich. Ich arbeite gerne mit Klischees, die es über Religion gibt, um zu irritieren. Aber so überstark, dass sie schon wieder komisch sind.“ Als Knabe sang er im Chor, doch kurz nach der Konfirmation sagte er Tschüs zur Kirche. Der Pastor versuchte noch, ihm ins Gewissen zu reden. Nützte nichts: Kahl hatte gar keins.

Ihm scheint nichts heilig zu sein. „Ein völlig falscher Eindruck“, wehrt er ab. „So vieles ist mir heilig – ich versinke in Ehrfurcht davor. Nehmen wir die Punks mit ihrer Hoffnungslosigkeit und zugleich ihrer ganzen Liebe. Die sind mir heilig: die Parias unserer Gesellschaft.“

Ernst Kahl ist das, was Kris Kristofferson mal über Johnny Cash sagte: „a walking contradiction“. Nichts an ihm ist stimmig. Kahl hat keine Glatze, und Ernst ist witzig. Und sein Spaß fängt da an, wo er gemeinhin aufhört. Dabei will er gar kein Wadenbeißer mit Ansage sein wie Wiglaf Droste. Nur sich lustig machen über „Strukturen“, wie er alles nennt, was einengt, niederdrückt oder uns Blödsinn nachplappern lässt.

Das kostete ihn 1989 den Job beim Politmagazin Konkret. Wegen Rassismus. Was hatte er getan? Den linken Kuscheltierblick auf Ausländer veralbert, indem er eine Galerie malte mit Ausländern, die wählen dürfen sollen und solchen, die nicht; und letztere waren dann alles Verbrecher und phsyiognomisch Missratene. Da durchfuhr ein „Huch!“ die Redaktion, und ihren Rat kann Kahl bis heute auswendig hersagen: „Auf die Deutschen kannst du einhauen, wie du willst“, beschied man barsch, „aber nicht auf die Ausländer!“

Die Satirezeitschrift Titanic füllte die publizistische Lücke, Kahl dagegen keine Konkret-Seiten mehr. Inzwischen hat er auch mit den Titanic-Leuten Probleme: „Das sind alles Oberschüler. Kein Platz für einen einfachen Scheißwitz, der nicht intellektuell sein will.“

Einen wie den, den Kahl mal malte: Hängt ein Spiegelei am Himmel, und drunter steht – „Ei in the sky“. Ein echter Kahlauer. Oder den: Liegt eine verreckende Vettel im Sterbebett, Gevatter Hein steht schon am Bettpfosten, und sie begrüßt ihn in letzter Lüsternheit mit: „Tod, wo ist dein Stachel?“

Zeit, mit Kahl über Kunst zu reden. Er zeigt auf einen Pflasterstein in der Ecke, auf dem eine Steinkugel liegt. Nicht irgendeine, ein Mahlstein aus der Steinzeit. „Ist das Kunst?“ fragt er rhetorisch. „Ich könnte es auch auf einer Ausstellung für sich selber sprechen lassen.“

Heute nacht noch, nach dem Chardonnay, will er irgendwo im Viertel ein komisch geformtes Holzstück auflesen, das ihm mittags beim Spaziergang auffiel. „Ein Stamm mit ner Gabel“, erinnert er sich. „Sieht aus wie eine früheisenzeitliche Götterstatue, die sie in Schleswig manchmal aus dem Moor holen. Das wird hier irgendwann stehen.“ Aber Kunst? Jedenfalls Kahl-genehm. Genau wie das Morbide, Böse und Banale, wie Perfides und Peinliches, Plattes und Naives, die Zote, das Hochkünstlerische und der Kalauer. Bei ihm koexistiert all das durcheinander. Deshalb eckt er oft an, nicht nur bei Snobs.

Kahl ist ein Toleranzgrenzentrüffelschwein. Wie erleichternd, dass selbst so einer seine Vorurteile hat. „War heute beim Griechen essen. Da lief so eine Blubberhiphopscheiße, so ‘n Kommerzquatsch. Ich bin richtig explodiert.“ Dem Kahl kann man nur mit Stones kommen und Animals. Der Grenzverletzer und Genrevermischer, der noch jedes Idyll per Pinselstrich gekillt hat: Hier ist er dogmatisch. Hier gilt das Wahre, Schöne, Gute, nicht der Hip von heute. Seine eigenen Songs sind niedliche Pseudo-Kinderlieder („Die rüstige Frau Reimann/sieht aus wie Billy Wyman/Marie, die alte Fotz/geht weg als Charlie Watts“). Sie haben Plinkergitarren und hopsigen Takt. Und zwischen zwei Endreimen flieht bisweilen ein Einsamer zur tiefgefrorenen Lieblingsleiche.

„Es kommt immer darauf an, wie man sich einem Thema nähert“, findet der Geist, der sich solches ausdenkt. „Unbeholfen etwas Gemeines erzählen, kommt konspirativer daher.“ Das versteht nicht jeder. Kahl ist vielen ein Rätsel. Wie und was er malt und schreibt: Das beflügelt die Fantasie über den Urheber. Dabei ist er keiner, der Drogen braucht, um ein schlangenjagendes Karnickel zu visionieren. Nein, mit koksgetrübtem Blick wäre die sich dahinter perspektivisch perfekt verlierende Landschaft nicht zu schauen und nicht zu malen. Für so etwas musst du wach sein. Und eine Hand haben, die nicht zittert.

Max Goldt, das hat Droste ihm geflüstert, hält Kahl für einen bitterbösen Menschen. Das versteht er kein bisschen. Vielleicht hat Goldt zu lange vorm Gemälde „Abendfrieden“ gestanden, wo eine Familie unter einem Galgen rastet, an dem noch ein Gehenkter baumelt. Und helle, wie Kahlsche Bilderkinder sind, haben Brüder- und Schwesterlein der Leiche ein Brett zwischen die Füße gebunden, damit sie als Schaukel taugt.

Kahl travestiert das Erhabene durch das Gemeine, meint eine Exegetin. Macht ihn das bitterböse? „Nein, wirklich nicht“, sagt Kahl, „für mich ist das Lebenshilfe, Dinge absurd zu betrachten. Komik ist Notwehr.“ Gegen Strukturen natürlich.

Alle Kunst und Komik schöpft er aus sich selber, denn er konsumiert die Kinkerlitzchen der Konkurrenz nicht. Wie bei so wenig Input soviel herausfließen kann, ist das größte Rätsel. Durchs Dauerknutschen mit Kahl will die Muse wohl ins „Guinness Buch der Rekorde“. Und sie steckt ihm wirklich komische Sachen. Einem Kasseler documenta-Funktionär schlug Kahl vor, den Bahnhofsvorplatz umzugestalten, dies jedoch von Pygmäen tun zu lassen. „Fragt der Typ nach der Aussage“, feixt Kahl. „Und ich sage: Scheiß auf die Aussage! Ich find‘s einfach klasse!“

Nein, Kahl ist kein Intellektueller. Wer mit ihm über die Bedeutung des Kreises im Spätwerk Kandinskys reden will, kriegt einen Korb und Chardonnay nachgeschenkt. Kahl weiß ja nicht, was Kunst ist. Er weiß nur, was dabei herauskommt, wenn er etwas klasse findet.

Und das reicht wahrscheinlich für die Unsterblichkeit.

(Erstmals erschienen 1997 in kulturnews)


alle Bilder: Ernst Kahl

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18 August 2016

Kobern anno 27

Unlängst wurde ich von dem verdienstvoll in der Literaturgeschichte stöbernden @germanpsycho auf einen Text von Kurt Tucholsky hingewiesen. 

Der, also Tucholsky, war bereits 1927 nach einem St.-Pauli-Besuch zu dem Schluss gekommen: Rund um die Reeperbahn (oben ein Foto von heute) wird ganz schön rumgentrifiziert. Und nicht in jeder Hinsicht zum Nachteil des Viertels:


So leid es mir tut: Sankt Pauli ist sehr brav und fast gut bürgerlich geworden. Der stöhnende Trubel der Inflation ist dahin; und es gibt keine ›Sailors‹ mehr, die vier Monate auf dem Meer mit dem Schiffszwieback und den Ratten und dem Kapitän allein waren, und vier salzige Monate lang keine Frau mehr gesehen hatten; und es gibt nicht mehr diese tobenden Nächte und nicht die bunten Verbrechen ...

Nun, Tucho wusste natürlich noch nichts vom Schlagermove, sonst wäre sein Urteil anders ausgefallen. 

Was es 1927 ebenfalls schon gab, waren die Koberer, die Passanten in die Etablissements locken sollten und wollten. Ihre Sprüche unterschieden sich damals allerdings deutlich von den heutigen.

Während unsereins bisweilen konfrontiert wird mit unwiderstehlichen Verheißungen wie „Ihr könnt gar nicht so schnell wichsen, wie die sich ausziehen!“, versuchte man Tucho vor 90 Jahren mit einem anderen Killerargument zu bezirzen:

Da, an der Ecke, wollte uns der Portier hineinlocken – die Damen seien alle in Schwimmhosen, versicherte er. 

Wie es bei den Damen obenrum aussah, erwähnte der „Portier“ leider nicht. Und da die Aussicht auf Schwimmhosen bei Tucholsky nicht verfing, bekam er auf St. Pauli keine einzige dieser Damen zu sehen, weshalb er sich zu weiteren Bekleidungsdetails auch nicht äußert.

Erfolgreicher war er aber in der Nähe des Gänsemarktes, jedoch nicht mehr in jener Nacht; längst nämlich war auch diese Gegend, wie Tucholsky bedauert, des nachts brav und bieder geworden.

Doch er erinnert sich noch an einen Anbaggerspruch, mit dem ihn dort am Gänsemarkt einst eine Frau ins Separee bitten wollte, wahrscheinlich zu einem philosophischen Gespräch.

Der Spruch sollte, wie ich hiermit finde und ultimativ verlange, sofort auf dem Kiez – vor allem in der David- und Herbertstraße – wiederbelebt werden:

»Na Kleiner! Komm! Dich kenn ich doch noch aus Honolulu!« 

Und wäre sie wirklich jemals dort gewesen, dann hätte diese Dame – darauf setze ich alle meine Dollhouse-Dollar – Schwimmhosen getragen. 



21 Juli 2014

„Unterwegs einloggen? Geht nicht.“

Im Sommer vor 18 Jahren, also im Pleistozän des Internets, interviewte ich die amerikanische Autorin J.C. Herz. Anlass war die deutsche Ausgabe ihres Buches „Surfing on the Internet“. 

Damals, 1996, fühlte ich mich ziemlich fachkundig, schließlich hatte ich Erfahrung mit BTX und seit ungefähr drei Jahren ein Mailkonto bei dem total hippen US-Dienst CompuServe (was ist aus dem noch mal geworden?). Mit dem Internet, wie J.C. Herz es verstand – also das Kommunizieren in Newsgroups mithilfe von Ascii-Text, so eine Art prähistorisches Simsen  –, hatte ich allerdings keinerlei Erfahrung. 

Es ist lustig, dieses wenig glanzvolle, aber doch erhellende Interview heute noch mal zu lesen. Herz sagt unerhörte Sachen wie „Am College hat jeder eine Mailadresse“ oder träumt von Kabelmodems. Manches wirkt ungewollt prophetisch, anderes naiv und vieles putzig aus Sicht der Smartphoneära von heute. 

Grund genug jedenfalls, dieses höchst angestaubte Fundstück aus dem Pleistozän fast zwei Dekaden danach noch zu verbloggen – und sei es nur, um den digitalen Abgrund zu vermessen, der uns inzwischen von damals trennt. Ich habe den Text lediglich der aktuellen Rechtschreibung angepasst und dokumentiere ihn hier – erstmals! – in ungekürzter Form. 

Heutzutage schreibt Herz eher über Fitness als übers Web, ist aber natürlich sowohl auf Facebook als auch auf Twitter aktiv.

Ihr Buch „Surfen auf dem Internet“ gibt es übrigens immer noch zu kaufen. 
Bei Amazon für einen Cent.


Das Gewicht des Net

Sie ist verstruwwelt und sommersprossig. Mit 25 wirkt die New Yorker Journalistin J.C. Herz wie ein später Teenager. Dabei ist sie eine Veteranin – des Internets. „Ich habe mehr Zeit im Net verbracht, als ein menschliches Wesen sollte“, grinst sie. Und das lange vor Erfindung des WordWideWeb, als das Internet nichts weiter war als ein Ozean von Ascii-Text. Herz hat den virtuellen Wortwogen ein handfestes Buch entrungen: „Surfen auf dem Internet“. Im Netjargon und ziemlich witzig schreibt sie (Netname: „Mischief“) über Nächte am Schirm, Koffeinkatastrophen und Onlineschimpf („flamewars“). Und über schräge Vögel, die irre, romantische, einsame Sätze durch Drähte jagen. Beim Interview ist J.C. offline und physisch da – ungewöhnlich für einen Netjunkie. Dass sie ihre Onlinesucht in einer Selbsthilfegruppe – im Internet! – therapiert hat, ist aber ein Werbegag.

Matt: J.C., kannst du einloggen, wenn du unterwegs bist?
J.C. Herz: Nein, und das stört mich auch nicht sonderlich. Schlimmer ist es, wenn ich meinen Anrufbeantworter nicht abhören kann.
Matt: Wie geht es deinen Augen nach den Jahren vorm Bildschirm?
Herz: Gut. Ich trage Linsen. Aber das hat nichts mit meinen Computererfahrungen zu tun.
Matt: Wie hoch war deine letzte Telefonrechnung?
Herz: Das ist der Unterschied zwischen Deutschland und Amerika: In New York kosten zehn Stunden im Netz einen Dollar – völlig vernachlässigenswert. Deshalb entwickelt sich das Net auch in Deutschland nicht so rasch. Euer Telefonanschluss ist einfach zu teuer. Meine Telefonkosten rühren mehr von Distanzbeziehungen her als vom Internet …
Matt: Die Netsurfer, die du in deinem Buch beschreibst, sind einsam, egozentrisch, seltsam und selbstmitleidig, sie sehnen sich nach Berührungen und fliehen doch vor den Menschen …
Herz: Dass sie seltsam sind, stimmt. Ich glaube aber, dass wir uns alle durch neue Technologien fremder werden. Im Net bemitleiden sich nicht alle selbst, das ist kein generelles Phänomen. Wenn du dir den durchschnittlichen Netuser von vor zehn Jahren (also 1986; Matt) anschaust, dann war er ein weißer männlicher Computerprogrammierer. Das ist lange vorbei. Heute sind 37 Prozent aller US-User Frauen. Das Net ist eine sehr bunte Gemeinschaft geworden, und es ist sehr, sehr gefährlich, zu verallgemeinern – damit lag ich selbst schon mal daneben. Ich war in Boston zum Lunch mit einem Computerfachmann verabredet, den ich zum Thema Internet interviewen sollte. Ich dachte: Mein Gott, dieser Typ trägt bestimmt eine Glasbausteinbrille und ein T-Shirt mit Periodensystemaufdruck, hat dünnes Jesushaar und ist total widerwärtig. Mit diesem Alptraumszenario im Kopf ging ich hin – und er sah aus … göttlich! Beim Essen sagte ich kein Wort, so beschämt war ich. Unglücklicherweise war er verheiratet.
Matt: Statt 37 Prozent Frauenanteil haben wir in Deutschland knapp zehn. Woher kommt es, dass Frauen so weit hinterherhinken?
Herz: Ursprünglich war das Internet ein Experiment des US-Verteidigungsministeriums, einer Männerdomäne. Dann schlossen sich Computerwissenschaftler an – auch überwiegend Männer. Frauen kommen sehr gut zurecht, wenn sie erst mal ihre Angst vor der Technik überwunden haben – das Net hat schließlich mit Kommunikation zu tun, und darin sind Frauen gut. Sie finden es halt nicht besonders unterhaltsam, sich mit Maschinen abzugeben. Aber das Net ist keine Maschine mehr, du erreichst andere Leute damit. Seitdem das so ist, bevölkern Frauen das Internet. Deutschland hinkt in dieser Beziehung zwei Jahre hinter uns her.
Matt: Nicht eher zehn …?
Herz: Nein, ihr habt das Web, und ihr habt Leute, die Websites entwickeln.
Matt: Aber hier ist das kein Teenagermedium, wie du es in deinem Buch beschreibst. Der duchschnittliche User ist über 30, gebildet und verdient gut.
Herz: Richtig. Dass US-User so jung sind, liegt daran, dass seit den frühen 90ern Studenten sehr guten Zugang zum Net erhalten. Am College hat jeder automatisch seine E-Mail-Adresse. Und auch die Highschools sind im Internet. Außerdem fällt jungen Leuten der Umgang mit der Technik leichter als ihren Eltern.
Matt: Du zitierst die Verlegerin Lisa Palac, die sagt, das Internet würde für die 90er, was den 70ern der Vibrator war. Was glaubst du?
Matt: Ich glaube, dass Lisa sehr gut mit Worten umgehen kann – deshalb rufe ich sie ständig an und bitte sie um Statements! Nein, das Net gibt den Frauen mehr Macht. Im Net sitzen sie selbst am Steuer, was Kommunikation und das Organisieren von Informationen angeht. Und wenn du als Frau online gehst, weiß niemand, dass du eine Frau bist; deswegen kann dich auch niemand wegen deines Geschlechts diskriminieren.
Matt: Du gehörst zur ersten Generation überhaupt, die einen Teil ihrer Jugend online verbrachte. Das muß sich irgendwie aufs Sozialverhalten auswirken …
Herz: Es macht dich offener für Begegnungen. Fast überall auf der Welt ist es doch so: Du gehst zur Schule mit Leuten aus deinem Viertel. Dann gehst du aufs Gymnasium, triffst eine ganz bestimmte Sorte Leute, und genauso am Arbeitsplatz. Gesellschaften bestehen aus Schichten; man hat meistens nur Kontakt mit Leuten aus seiner Schicht. Im Net dagegen sind die Gruppen völlig vermischt – schau dir nur die Meinungen an, die vertreten sind. Du kannst also jemand treffen, dem du normalerweise nicht unbedingt auf einer Cocktailparty begegnen würdest. Und ich glaube unbedingt, dass das gut ist. Es bringt Leute aus aller Welt in Kontakt – wenn auch dabei oft nur klar wird, wie verschieden ihre Meinungen sind.
Matt: Und das birgt Suchtgefahren …?
Herz: Internetabhängigkeit gibt es schon, aber im Buch gebrauche ich das ironisch. Es ist ein Witz, und es wundert mich, wenn das die Leute nicht kapieren. Wenn ich die ganze Zeit im Net verbracht hätte, gäbe es dieses Buch nicht.
Matt: Du liebst die Anarchie des Internet. Wird dieses Archaische stark genug sein, um das Net vor der Kommerzialisierung zu schützen?
Herz: Das Web hat das Internet schon vor kommerziellen Interessen gerettet! Die Befürchtung war, große Firmen würden die Newsgroups stürmen und statt Diskussionsbeiträgen Produktangebote ablegen. Dann kam das Web mit seinen tollen Bildchen. Darüber bin ich wirklich froh, denn das Web gab der Werbeindustrie eine Anlaufstelle, und das rettete die Netkultur. Wenn dir jemand in einer Newsgroup eine Werbebotschaft zukommen lässt, hast du gar keine andere Wahl, als sie erst zu lesen, ehe du die Löschtaste drückst. Im Web ist es anders: Wenn du dich mit dem Zeug nicht abgeben willst, brauchst du das auch nicht.
Matt: Dafür gibt es nun das Problem der Langsamkeit. Man sitzt endlos herum und wartet, bis der Datentransfer abgeschlossen ist.
Herz: Absolut. Jemand hat gesagt, die Summe aller Wünsche hinsichtlich des Internet könnte man in folgendem Stoßseufzer zusammenfassen: Hätten wir nur ein breiteres Band …! Deswegen weiß ich wirklich nicht, ob das Net wirklich das Wunschmedium der Industrie ist – es ist einfach langsam. Time Warner baut wohl gerade Kabelmodems; vielleicht bringen die was. Aber wahrscheinlich kriegen wir dann einfach nur quick-time infomercials zu allen Produkten. Aber es liegt nicht nur an den Firmen. Es gibt unzählige Homepages mit Fotos von Tante Trude, Kuchenrezepten und Fotos von Schoßhündchen. Die verstopfen das Web genauso.
Matt: Das Net gibt dir die Möglichkeit, jede Identität anzunehmen. Du kannst Mann sein oder Frau, Riese oder Zwerg. Aber in Wahrheit bist du nichts – nur Worte und Emoticons. Ist das befriedigend?
Herz: Kommt drauf an. Wenn du erwartest, das Net würde deine Probleme im Bett lösen – sorry, das wird nicht klappen. Aber es ist befriedigender als Fernsehen. Es ist interessant, dass Leute das Net auf Dinge abklopfen, die sie beim Fernsehen nicht mal interessieren. Sie stellen diese Fragen immer nur technischen Entwicklungen, vor denen sie Angst haben. Ich glaube, das Net hat interessante Erkenntnisse beizusteuern, was Identität angeht: wer wir sind, Geschlechtsrollen … Ich finde es sehr interessant, wie jemand einen Charakter konstruiert, der von seiner echten Persönlichkeit abweicht. Sie gehen shoppen und probieren neue Kleider an.
Matt: Im Net wird geschrieben wie gesprochen, in deinem Buch auch. Keimt da eine neue Art Literatur?
Herz: Es wäre schrecklich, wenn man mich dafür verantwortlich machte! Das Net ist interessant, weil es weder Fisch noch Fleisch und an den Rändern zu Hause ist. Es ist ironisch, dass im Net geschrieben wird, denn es funktioniert wie eine orale Kultur. Leute, die im Internet tippen, gebrauchen Buchstaben, aber sie fühlen sich nicht als Gemeinschaft literarischer Individuen, die Briefe entwerfen. Es ist keine Gruppe Belletristen des 19. Jahrhunderts. Es sind Leute, die miteinander quatschen, und so fühlen sie sich auch. Wenn du siehst, wie Diskussionen im Net ablaufen, merkst du schnell, dass das Idiom viel eher ein gesprochenes als ein geschriebenes ist. Dass all das in Ascii-Text abläuft, finde ich ironisch. Natürlich ist das gut, weil die Leute wenigstens lesen. Ich glaube, dass seit den Comics kein anderes Medium mehr Teenager Lesen gelehrt hat. Gut, sie lesen nicht Dickens, aber sie lesen! Und sie merken’s nicht mal. Als jemand, die schreibt, finde ich das tröstlich. Ich mag Worte.
Matt: Du hast mal den Kultautor William Gibson getroffen, der das Wort Cyberspace erfunden hat. Er soll nicht mal eine E-Mail-Adresse haben.
Herz: Ich habe William Gibson gefragt, warum er nicht im Net sei. Und er sagte: „Weil ich glaube, dass sein Gewicht mich erdrücken würde.“ Ich wusste nicht, wie er das meinte. Doch als ich für mein Buch recherchiert habe, verstand ich es – denn dem Net verdankte ich einen Nervenzusammenbruch, ich konnte es nicht mehr aushalten. Wie auf einer Party, auf der dich plötzlich Platzangst überfällt. So fühlte ich mich; und ich glaube, so hat er es gemeint.
Matt: Aber wie wusste er das?
Herz: Weil er ein sehr intuitiver und hochintelligenter Mensch ist. Weißt du, wenn Gibson ins Internet ginge, wäre das die erste Szene einer hard day's night – mit all diesen verzweifelten Groupies, die ihn umdrängten …
Matt: Wie wirkt denn dein Buch auf die Leser – strömen sie ins Net?
Herz: In den E-Mails, die ich bekomme, steht zum Beispiel: „Ich hab dein Buch gelesen, mich eingeloggt und finde es toll.“ Oder: „Oh, mein Gott – das Buch erinnert mich total an mich selber!“ Solche Leute erschrecken mich …

• J.C. Herz: Surfen auf dem Internet (Rowohlt 1996, 320 S., 38 DM)

(Eine gekürzte Version dieses Interviews erschien im August 1996 in der Zeitschrift „Kultur!News“, die sich inzwischen glücklicherweise ihres Binnnenausrufezeichens entledigt hat)