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29 November 2013

Mitten im Religionsoverkill

An der Klagemauer werden die Betenden nach Geschlechtern getrennt. Männer links, Frauen rechts – inoffizielle Begründung: damit die Schläfenlockenträger beim Gebet nicht hormonell herausgefordert werden. 

So etwas entlarvt auf hübsche Weise, für wie wenig kraftspendend die Gläubigen letztlich ihren Schöpfer halten, der ja auch ihre Hormone schuf. Überhaupt wirkt Jerusalem, obwohl es bis obenhin vollgestopft ist mit monotheistischem Religionsoverkill, wie eine gewaltige Säkularisierungsmaschine. 

Denn der Kitsch allenthalben ist zum Weglaufen. An der Stelle in der Grabeskirche, wo Jesus gekreuzigt worden sein soll, glimmt und glitzert es wie am Wochenende in Las Vegas. „Sieht aus wie ein Lampengeschäft“, kommentiert Ms. Columbo das große Baumeln von der Decke. 

Alle halten ihre Handys und Tablets hoch, um zu fotografieren, manche kriechen untern Steintisch, der vorm Kreuz steht, um knieend zu beten. Andere breiten ihre PVC-Rosenkränze und strassbesetzten Plastikkreuze auf der Platte aus, wo ihr Heiland angeblich vor der Beerdigung präpariert wurde, und küssen und streicheln den Stein. 

Wer nicht spätestens hier begreift, dass Religionen nur mehr oder weniger geschickt konzipierte Produkte verkaufen, während sie parallel Ängste schüren, vor denen ebenjene Produkte die zitternden Kunden dann wieder erlösen sollen, der begreift es nimmermehr. 

In einem christlichen Nippesladen in Bethlehem, den wir vorher besucht hatten, verkaufen sie ein sehr europäisch wirkendes Jesusbaby aus Holz oder Plastik, das anscheinend bereits betend dem Mutterleib entschlüpft ist. Kitsch as Kitsch can. 

Dennoch duschen die jahrtausendealten Jerusalemer Mauern und Steine uns mit einem wahren Aurawasserfall. Schließlich hätte sich ein Großteil der orientalischen und abendländischen Politik, Geschichte und Kultur ohne diese Stadt und die Region komplett anders entwickelt. 

Was hier gedacht und getan wurde, beeinflusst weltweit Milliarden Menschen in ihrem Denken und Tun. Abermillionen wurden im Lauf von rund fünf Jahrtausenden gefoltert, getötet, verachtet, geschnitten und vertrieben, nur weil hier ein paar Mythen mit Moral ausgetüftelt und von zwölf Göttern elf gestrichen wurden. Eine unfassbar langlebige, uns dadurch durchweg alle betreffende und beeinflussende Wirkungsgeschichte – und genau deshalb so faszinierend. 

All das steckt in den Steinen von Jerusalem. Am Sockel der Klagemauer ist das sogar sichtbar. Bis in ungefähr 1,80 Meter Höhe hat die Patina von zweitausend Jahren ihn dunkel eingefärbt. Es ist das hinterlassene Körperfett von fast hundert Generationen von Menschen, die mit ihren Köpfen und Händen die Mauer berührten.

Auch ich fasse sie an – und erwäge sogar, irgendetwas (genauer gesagt: meine Visitenkarte, weil ich sonst überhaupt nichts Zettelähnliches dabeihabe) in eine der Ritzen zu stopfen. Zugleich bekämpfe ich mühsam den Impuls, zum Ausgleich eine der zahlreichen bereits dort steckenden Botschaften an mich zu nehmen. 

Gut, dass ich widerstand, denn es hätte sich sowieso nicht gelohnt. Zum einen könnte ich die Sprache nicht lesen, zum andern enthalten diese Zettel mit hoher Wahrscheinlichkeit nur lauter kleine lächerliche egoistische Bitten an eine Schimäre. Die der Männer links, jene der Frauen rechts.

In der Via Dolorosa, dem Kreuzweg, gibt es übrigens seit mindestens zweitausend Jahren kein offenes WLAN. Nicht mal ein verschlüsseltes.