12 November 2005

Die Bettlerin

An der Station Reeperbahn steigt eine recht gepflegt wirkende Bettlerin mittleren Alters zu. In der linken Hand hält sie einen Plastikbecher, die rechte führt eine Krücke, mit der sie offenbar ihrem Anliegen Nachdruck verleihen und die allgemeine Spendenbereitschaft im Waggon heben will. Von einer großen Beeinträchtigung ihrer Mobilität ist indes nichts zu bemerken.

Sie geht
zügig von Sitz zu Sitz, murmelt ihre Bitte, erntet Kopfschütteln, geht weiter. Auch ich habe mich innerlich schon darauf eingestellt, ihr mit mimischen Mitteln unmissverständlich zu verdeutlichen, dass bei mir heute nichts zu holen ist.

Doch die Frau geht einfach blicklos an mir vorbei.
Ich bin verblüfft, ja geradezu düpiert. Alle im Wagen hat sie gefragt, nur mich nicht.

Mein interner Stimmungsseismograf misst sogar eine leicht aufschäumende Empörung. Bin ich etwa nicht anbettelbar? Und wenn nicht, warum nicht? Habe ich zu früh die Bettlerabwehrmiene aufgesetzt? Liegt es an meinen Kopfhörern, die der Frau von vorneherein mein momentanes hermetisches Monadentum signalisieren? (Aber auch andere im Wagen sind abgestöpselt und ihr nicht entgangen.) Oder sehe ich selber pleite aus? Hm, meine Lands-End-Jacke und die schwarzen Clarks-Lederslipper senden eigentlich eher gegenteilige Signale aus.


Warum also? Das beschäftigt mich den ganzen Nachmittag. Noch immer irritiert, befrage ich zu Hause Ms. Columbo. Sie bestätigt mir jedoch, mich in einer vergleichbaren Situation ggflls. sofort und bedingungslos angebettelt zu haben.
Irgendwie beruhigend.

Das Foto zeigt eine Wandlampe im El Dorado, wo der gestrige Tag ausklang.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „6 feet snow“ von Souled American, „Dakota“ von den Cowboy Junkies und „Anywhere I lay my head“ von Tom Waits.


8 Kommentare:

  1. Ach ich könnt damit schon ganz gut leben. Was mich immer irritiert - mag aber auch an der Mentalität der Deutschen liegen - man sitzt alleine in so einem 4er "Abteil" und die Leute stehen lieber als sich dazu zu setzten. Ich dusche jeden morgen und bin auch sonst kein böse dreinschauender Mensch. Also was hab ich verbrochen.

    Mfg. Daiko der gleich zu London Electricity ins Mandarin geht ;)

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  2. Mich dürftest du dagegen ggflls. als Nachbarn begrüßen. Ich setze mich nur zu definitiv untragbaren Menschen nicht.

    London Elictricity ist übrigens eine gute Wahl, aber obwohl das Mandarin nur eine Fußminute von unserer Wohnung entfernt ist, muss ich mich heute Abend dem Hausputz widmen ... ;-/

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  3. Hehe. Hausputz ist bei uns Sonntags angesagt. London Electricty was da bomb. War super genial nur stand ich ca. 4m von der PA entfernt und kann momentan rechts nichts mehr hören, aber das wird hoffentlich bis morgen wieder.

    Doppelte Verneinung ist was tolles.

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  4. Opa vor ein paar Wochen am Busbahnhof Altona:
    Ich (nicht besonders gut zu Fuß an jenem Tag)gehe sehr bedächtig auf den 37er zu, möchte eigentlich zum Rathaus. Kurz vor dem Einsteigen Blick - Kontakt mit einer recht hübschen Frau mittleren Alters, entgegenkommend. Sie faßt in ihre Handtasche und... drückt mir eine 2 Euro-Münze in die Hand. Ich zucke zurück, wir sprechen kein Wort aber es kommt zu einem sehr eigenartigen Gespräch unserer Augen. An der Haltestelle S-Bahn Reeperbahn mußte ich - noch immer komplett verwirrt - aussteigen und mich erstmal eine Weile auf mein Sofa setzen.

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  5. PS:
    Leiser Einspruch: das Adjektiv 'untragbar' finde ich in Verbindung mit Menschen nicht sehr gelungen, aber nix für ungut :-)

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  6. In der Tat werde ich auch selten angebettelt, wenn ich im Anzug unterwegs bin. Anscheinend strahle ich dann eine Arroganz aus (die mir schon öfter in diesem Zusammenhang unterstellt wurde), die gar nicht vorhanden ist.

    Ich helfe mir mit der absurden Vorstellungen, Bettler läsen täglich mein Blog und meiden mich aus Angst. ;-)

    Zur „Dazusetzmentalität“ der Deutschen - wobei ich diese Verallgemeinerung gerade bei solchen Dingen („der Neger transpiriert“ wie Gerhard Polt es ausdrückte) nicht für sinnvoll erachte - kann ich nur sagen: Ich stehe viel lieber in der U-Bahn. Eigentlich kann man von „lieber“ in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht sprechen. Aber das gehört nicht hierher.

    Und zwar, weil fremde Menschen mir dann automatisch zu nahe kommen. Jeder Mensch hat ja eine Zone, innerhalb derer er das Eindringen fremder Menschen nicht gutheißt. Je weiter nach Süden man kommt, desto kleiner scheint diese zu werden. Bei mir ist sie groß. Fremde Menschen machen mir keine Angst oder so, aber diese Intimzone halte ich mir gerne frei. Daher auch meine allgemeine Abneigung gegenüber dem ÖPNV. Abends ertrage ich sie in Bars und Clubs auch nur schwer. Ab ein paar Promille gehts dann. ;-)

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  7. Die Irritation, etwas unaufgefordert zugesteckt zu bekommen, ist mit Sicherheit noch größer als jene, die ich geschildert habe – und sozusagen die Rückseite meiner Medaille.

    Gibt es eine Erklärung dafür? Zur Fußlahmheit müsste doch noch etwas dazugekommen sein, vielleicht ein Loch im Strumpf oder eine Jeans, deren modische Zerrissenheit versehentlich mit Bedürftigkeit assoziiert wurde.

    Das könnte uns allen weiterhelfen!

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  8. Die Unterschreitung sozialer Distanz ist übrigens in der Sauna am schlimmsten, aber mit Abstand.

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